So wie politische Kulturen gemeinhin einen bestimmten Zeitgeist widerspiegeln, gilt dies für Bildungskulturen wahrscheinlich nicht minder. Entsprechend könnten die 2010er Jahre später vielleicht einmal von Historikern und Historikerinnen als "Partizipationsdekade" beschrieben werden. Eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Initiativen versucht gegenwärtig mit aller Kraft und auf höchst unterschiedlichste Weise, Partizipation anzuregen. Von Beteiligungshaushalten bis Bürgerforen – auch in den Parteien und Stadtverwaltungen rauchen hierzulande die Köpfe ob der vielen Bemühungen, wie sich mehr Beteiligung der Menschen an Politik und Projekten bewerkstelligen ließe. In aktuellen Studien, Büchern und Abhandlungen scheint das "P-Wort" zumindest im Untertitel unabkömmlich, und so überschrieb die Bundeszentrale für politische Bildung nicht ohne Grund ihren bundesweiten Kongress im Mai 2012 mit "Zeitalter der Partizipation". Mit einer hohen öffentlichen Zustimmung zu mehr direkter Demokratie auf der Bundesebene im Rücken
Natürlich vermag Partizipation in erster Linie positiv auf die Gesellschaft und jedes einzelne ihrer Mitglieder zu wirken. Auch darum ist es wichtig, Beteiligung so früh wie möglich zu fördern. So können bereits in der Kita eine Vielzahl von Bürgertugenden verinnerlicht werden, die sich positiv auf eine demokratische Gesellschaft auswirken: die Fähigkeiten, Entscheidungen zu treffen, die eigene Meinung zu entwickeln und zu äußern, individuelle Ideen einzubringen und gemeinsam umzusetzen, Interessen in Debatten auszuhandeln, den Dissens zu akzeptieren – kurzum: den demokratischen Prozess zu praktizieren.
Ohne Zweifel: Partizipation kann einen wichtigen Beitrag zur Stabilität und Vitalität der Demokratie leisten – aber sie muss es nicht. Deshalb sollte ein kritisches Hinterfragen des allgemeinen Partizipationsgebots nicht ausbleiben. Hat Beteiligung womöglich auch Schattenseiten? Denn in der Tat schimmert bei der gegenwärtigen Euphorie häufig genug eine unreflektierte Übernahme von impliziten Vorstellungen hindurch, die mitunter problematische Begleiterscheinungen vernachlässigen. Ihnen gilt im Folgenden das Hauptaugenmerk.
Ressourcenstarke und ihre Kritik am Zustand der Politik
Partizipation steht immer dann hoch im Kurs, wenn in der Öffentlichkeit das Gefühl vorherrscht, man sei von ihr abgeschnitten. Der Ruf nach mehr politischer Beteiligung und die Kritik am Zustand der Demokratie sind zwei Seiten derselben Medaille. In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten haben viele Bürgerinnen und Bürger der klassischen Parteienpolitik den Rücken gekehrt. Stattdessen wandten sie sich mitunter frustriert einer modernen, heterogenen und fragmentierten Zivilgesellschaft zu, die langsam, aber sicher auch in Deutschland ihre Formen angenommen hat. Deren, verglichen mit der Welt konventioneller Parteienpartizipation, größere Anziehungskraft scheint verständlich. Denn nicht nur ist das Gefühl verbreitet, von den Frauen und Männern in politischen Ämtern und Würden seltener als bisher wirklich repräsentiert zu werden. Auch stellt es für immer weniger Menschen ein ausreichendes Maß an politischen Beteiligungsmöglichkeiten dar, alle paar Jahre bei Wahlen im Bund, in den Ländern und Kommunen zur Urne schreiten zu dürfen. Die große öffentliche Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Ausgestaltung unserer Demokratie geht auch mit einer gestiegenen Nachfrage nach zusätzlichen Wegen der Beteiligung, nach mehr Einfluss, nach mehr Kontrolle einher.
Schaut man sich die Partizipationsdebatte einmal genauer an, wie sie in den politischen Feuilletons und in der aktuellen Zivilgesellschaftsliteratur etwa über "Wut-" und "Mutbürger" geführt worden ist, wird vor allem eines deutlich: Ihre Protagonisten sind durch und durch "ressourcenstarke"
Gleichzeitig handelt es sich längst nicht mehr nur noch um eine bipolare Frontenstellung, in der "die Zivilgesellschaft" allein mehr Beteiligung (für sich) einfordert. Vielmehr sieht sich "die Politik", sehen sich die Verwaltungen und Parteien in Ländern und Kommunen aufgrund ihres chronischen Mangels an parteipolitisch engagiertem Nachwuchs geradewegs gezwungen, ebenfalls "mehr Beteiligung" zu proklamieren. Nicht umsonst wird hier und dort versucht, sich die Expertise für politische Entscheidungen jener zu sichern, deren kritische Stimmen an der Politik am lautesten sind. Die Kritik am politischen Ist-Zustand, die sich damit hinter dem Ruf nach Partizipation verbirgt, erklingt damit mittlerweile längst – ob als genuine Selbstkritik oder purer Opportunismus sei einmal dahingestellt – aus den Parteien und den ihnen nahestehenden Stiftungen selbst heraus.
Partizipation und soziale Ungleichheit
Man darf annehmen, dass politische Partizipation in demokratischen Ordnungen Prinzipien von Gleichheit, Gleichberechtigung oder ausgewogener gesellschaftlicher Repräsentanz folgt. Schließlich zählen bei Wahlen unsere Stimmen alle gleich. Warum sollte das in der weiteren politischen und gesellschaftlichen Partizipationsrealität, also beim Engagement in Organisationen, Vereinen, Initiativen oder freien Gruppierungen, anders sein? Aber bekanntlich ist das keineswegs der Fall. In nahezu allen Partizipationsräumen finden sich mehr oder weniger offensichtliche Hierarchien, etwa mit Parteiämtern vergleichbare Funktionen oder informelle Machtstrukturen. Aber auch außerhalb der eigenen Organisationsstrukturen und im Vergleich untereinander unterscheidet sich "die Partizipation" qualitativ, und zwar deutlich. Um es in den Worten des US-amerikanischen Philosophen Michael Walzer auszudrücken: "Zivilgesellschaft reflektiert und erhöht wahrscheinlich sogar Effekte von Ungleichheit. Das liegt daran, dass jede organisierte Gruppe auch Mobilisierung von Ressourcen bedeutet: Je mehr Ressourcen ihre Mitglieder mitbringen, umso stärker ist die Gruppe. Je stärker die Gruppe, umso eher kann sie den Einfluss der Ressourcen ihrer Mitglieder verstärken. Also ist es eigentlich eine grundsätzliche Regel der Zivilgesellschaft, dass ihre stärksten Mitglieder stärker werden."
In der Zivilgesellschaft sind, wie in der Gesellschaft insgesamt, Kapazitäten ungleich verteilt, und Formen der politischen Selbstorganisation können Prozesse der Ungleichheitsentwicklung nicht nur unterstützen, sondern gar qualitativ verschärfen. Eine mögliche Triebkraft dafür ist der "Partizipationslobbyismus".
Die heutige Zivilgesellschaft ist stark von informellen und individuellen Formen des Mitmachens geprägt. Beispiele gibt es dafür in breiter Fülle: vom Gang zu einer Freiwilligenagentur über das spontane Mitmachen bei einer Demonstration oder einem Flashmob bis hin zum einmaligen Unterschreiben einer Online-Petition. Entscheidend sind hier überall vor allem Prozesse der sozialen Selbstselektion, die bestehende Gruppen- und Milieuungleichheiten verfestigen können. Es mag einerseits ein Zeichen größerer Freiheit sein, dass in einer pluralistischen und heterogenen Bürgergesellschaft eine große Auswahl an Single-issue-Initiativen oder Institutionen bestehen, zwischen denen man beliebig wechseln und aus denen man sich vor allem auch schnell wieder zurückziehen kann. Doch es sind nicht zuletzt diese Freiheiten, welche die Entwicklung sozialer Ungleichheit gerade im Partizipationsbereich befördern.
Problem der Selbstselektion
Die Selbstselektion gewisser (politischer oder unternehmerischer) Kulturen ist in der Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft hinlänglich bekannt. Abzulesen ist dieses Phänomen etwa am Genderprofil von Parteien und Unternehmen: Weibliche Abgeordnete oder Führungskräfte können anhand ihrer förmlichen Vorbildfunktion zu einer verstärkten Rekrutierung des weiblichen Nachwuchses, also zu verstärktem weiblichen Engagement führen.
Natürlich bestimmt auch die Form von Partizipation vielfach ihren Inhalt und damit auch die Gruppe der politisch Teilnehmenden. Je nach ihren Anforderungen finden sich sowohl Möglichkeiten des Mitmachens für Bildungsstarke als auch für Bildungsschwache. Die Einstufung dieser Schwierigkeitsgrade variiert jedoch, und auch im Bereich der forschenden Analyse herrscht Uneinigkeit. So mag es von einer anspruchslosen Leichtigkeit sein, "einfach nur mit einem Klick" online zu partizipieren oder als Akt des politischen Konsums bestimmte Produkte zu kaufen oder eben nicht zu kaufen. Eine ganze Reihe von politischen Beteiligungsforschern ist der Ansicht, dass insbesondere die modernen Zivilgesellschaftsformen, wie sie in Westeuropa bis Nordamerika entstanden sind, die Chance zur vermehrten Teilhabe auch sozial benachteiligter Gesellschaftsgruppen mit sich bringen.
Doch die Realität sieht offenbar anders aus. Denn die stark fragmentierte und auf Eigeninitiative angelegte "moderne" Bürgergesellschaft scheint durchaus viel vom Individuum abzuverlangen, selbst bei der passiven Unterstützung einer NGO oder einer Bürgerinitiative ("nur durch eine Unterschrift"). Der Blick auf die Ungleichheit politischer und bürgerschaftlicher Repräsentation verrät: Noch immer ist einer der entscheidenden Zugänge zu Beteiligung und Engagement die persönliche Bekanntschaft über soziale Netzwerke. Ob sich jemand zur Teilnahme an einem Bürgerforum entscheidet, hängt vielfach davon ab, dass er oder sie von Verwandten, Freunden oder Bekannten aus dem nahen Umfeld von dieser Initiative erfährt und dann auch mitgenommen, animiert, ermutigt und überzeugt wird, selbst aktiv zu werden.
Partizipation setzt überdies gewisse individuelle Fähigkeiten und intrinsische Prädispositionen voraus. Da ist in erster Linie das Vertrauen in sich selbst und die Einschätzung, das eigene Handeln könne Wirksamkeit entfalten.
Bad Civil Society?
Fraglich ist nicht zuletzt der Zusammenhang zwischen dem Typ der Partizipation und der demokratischen Verfasstheit eines Gemeinwesens. In der Zivilgesellschaftsliteratur, insbesondere rund um die Theorie des Sozialkapitals, wird hierbei vor allem die Frage aufgeworfen, ob eine bestimmte Art des sozialen, politischen, ökologischen oder kulturellen Mitmachens förderlich für die Demokratie ist. Alexis de Tocqueville gilt hier als einer der wichtigsten Vordenker. Der französische Publizist und Historiker besuchte im 19. Jahrhundert die Vereinigten Staaten und meinte in deren Vereinswesen einen maßgeblichen und der dortigen Demokratie zuträglichen Faktor zu entdecken. Unter dem Schlagwort des Neo-Tocquevillianismus hat spätestens seit den 1990er Jahren hierzulande das Konzept der Bürgergesellschaft einen enormen Aufstieg erfahren, mit ihr auch der engagementpolitische Grundsatz, dass die Förderung von Partizipation in der Bürgergesellschaft, allgemein gesagt, "gut" für die Demokratie sei. Dabei spiele es gar keine große Rolle, ob es sich beim bürgerschaftlichen Aktivsein um das Kegeln in einem Verein, das Spenden für eine politische NGO oder um das karitative Umsorgen eines Nächsten handelt.
Und doch gibt es kritische Einwände. Einige Autoren sehen auf demokratietheoretischer wie historischer Grundlage durchaus Grund zur Vorsicht vor einem allzu unkritischen, unreflektierten Blick auf die Bürgergesellschaft. Ein Stichwort ihrer Kritik ist die sogenannte bad civil society, also auch undemokratisch orientierte Aktivitäten. In der Bundesrepublik wird diesbezüglich etwa über rechtsradikale Vereinigungen diskutiert, die ihre eigenen Formen von "Sozialkapital" ausbilden, jedoch fraglos undemokratische Ziele verfolgen.
Der Konnex zwischen zivilgesellschaftlicher Partizipation einer Gesellschaft und deren demokratischer Verfasstheit ist zudem anhand der Erfahrungen der Weimarer Republik vielfach diskutiert worden. Die Politikwissenschaftlerin Sheri Berman etwa sieht hier ein warnendes Beispiel gegen die neo-tocquevillianischen Thesen. Bürgerschaftliches Engagement sei eben nicht per se förderungswert, insbesondere dann nicht, wenn gleichzeitig der Glaube an beziehungsweise das Verhältnis zu den politischen Institutionen einer Demokratie schwach ausgeprägt seien. Für Neo-Tocquevillianer sei das Vereinswesen beides: ein Indikator für eine gesunde Demokratie und die Voraussetzung dafür. Dieser Blick sei Berman zufolge mehr als fragwürdig, denn in Weimar diente "das assoziative Leben (…) nicht dazu, die Bürger in das politische System zu integrieren, wie Neo-Tocquevillianer es heute voraussagen, (…) sondern führte eher dazu, sie weiter zu trennen oder sie außerhalb davon zu mobilisieren – und oft auch gegen das existierende politische Regime."
Bermans österreichischer Kollege Bernd Reiter geht kritisch auf ihre Thesen ein, gelangt allerdings zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch Reiter hegt Skepsis gegenüber einer Fördereuphorie für zivilgesellschaftliche Partizipation in ihrer Gänze, es käme vielmehr auf eine verstärkte Differenzierung zwischen den Organisationstypen an. Verfolgen sie eine demokratische Praxis? Und werden innerhalb ihrer zivilgesellschaftlichen Strukturen demokratische Tugenden ausgebildet?
Missbrauchte Partizipation?
"Partizipationskritische" Äußerungen warnen gelegentlich auch vor einem möglichen Missbrauch von Partizipation. Im politischen Bildungsbereich wird beispielsweise moniert, eine "Partizipationsbeschwörung" könne in der Praxis – etwa in Schulen oder Kindergärten – gar als Disziplinierung oder Erziehungsmaßnahme und damit zur sozialen Kontrolle eingesetzt werden.
Natürlich finden sich ebenso zahlreiche Gegenbeispiele, wie im Bildungswesen demokratische Beteiligung gelebt und damit auch in der bundesdeutschen Gesellschaft gefördert wird. Derartige Programme, beispielsweise das Einführen von gemeinsamen Verfassungen im Kita- oder Grundschulbereich, erfordern nicht nur ein klares Bild auf Seiten fördernder Institutionen und Akteure, was mit Partizipation im Sinne des gesellschaftlichen Allgemeinwohls erreicht werden soll. Was außerdem notwendig ist, ist eine qualitative Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften in tiefergehenden demokratietheoretischen Fragen, um unter anderem einen möglichst reflektierten Umgang mit den für die Ausbildung demokratischer Bürgerinnen und Bürger entscheidenden Begrifflichkeiten zu gewährleisten.
Allzu viele "hoffnungsfrohe Erwartungen müssen misstrauisch machen", mahnte einst der Freiburger Politologe Gerd Mielke in Bezug auf die Zivilgesellschaft.