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Brauchen Kinder ein Recht zu arbeiten? Kindheitskonzepte und Kinderarbeit

Manfred Liebel Philip Meade Iven Saadi

/ 16 Minuten zu lesen

Ob in Deutschland, Europa oder weltweit: Das Ziel, Kinderarbeit zu verbieten und abzuschaffen, scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. Bei sorgfältiger Betrachtung der Thematik wird allerdings deutlich, dass diese Auffassung nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Sie wird auch keineswegs von allen Menschen vertreten, die sich dafür einsetzen, die Ausbeutung arbeitender Kinder zu bekämpfen und ihre Situation zu verbessern.

Hierzu zählen nicht zuletzt betroffene Kinder und Jugendliche. So musste etwa die deutsche Bundesregierung im Jahr 2000 in einem "Bericht über Kinderarbeit" feststellen, dass Kinder gerne arbeiten und das Arbeitsverbot überwiegend ablehnen. In anderen europäischen Ländern sprechen sich Kinder in Berichten an den UN-Ausschuss über die Rechte des Kindes ebenfalls gegen generelle Arbeitsverbote aus; sie sehen sich dadurch aufgrund ihres Alters diskriminiert. Kinder und Jugendliche in Afrika, Asien und Lateinamerika, die sich in eigenen Organisationen zusammenschließen, fordern sogar ausdrücklich ein "Recht zu arbeiten".

Diese Stimmen werden allerdings kaum gehört. Unsere These ist, dass weite Bereiche der Debatte über Kinderarbeit daran kranken, zu wenig über die damit verbundenen Kindheits- und Arbeitskonzepte zu reflektieren. Wir werden in diesem Beitrag deutlich machen, warum eine solche Reflexion geboten ist, wenn tatsächlich dem in der UN-Kinderrechtskonvention den Kindern zugesicherten Recht, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt zu werden, Genüge getan werden soll. Dabei wird sich zeigen, dass ein Recht zu arbeiten weitaus eher als das bisher dominierende Verbot der Kinderarbeit dem besten Interesse der Kinder entspräche und ihrem Wohlergehen diente.

Problematische Implikationen der Rede von Kinderarbeit

Der Terminus "Kinderarbeit" ist eine wertende und emotional aufgeladene "soziale Konstruktion", die eine objektive Befassung mit der Thematik erschwert. Seit er in der Zeit des europäischen Frühkapitalismus aufkam, werden mit ihm bestimmte politische Intentionen verfolgt und Vorannahmen über Kinder und ihre Beziehung zur Arbeit transportiert. Diese Vorannahmen haben sich so tiefgehend im Alltagsverständnis (und in gesetzlichen Regelungen) eingenistet, dass die Rede von Kinderarbeit automatisch dazu führt, die Arbeit von Kindern nur unter negativen ("schädlichen") Aspekten wahrzunehmen. Die mit ihm ausgelösten Assoziationen lassen die verschiedenen möglichen Bedeutungen und Aspekte der Arbeit von Kindern nicht zur Geltung kommen. Im Fall der Kinder wird von vorneherein ausgeschlossen, Arbeit als eine Tätigkeit wahrzunehmen, die der Lebenserhaltung dient und dem Menschen erlaubt, sich als tätiges Subjekt zu verstehen, das einen Beitrag zum Erhalt und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft leistet. Mit dem Terminus "Kinderarbeit" wird weiterhin ausgeblendet, dass Arbeit stets unter verschiedenen Bedingungen ausgeübt werden kann. Während bei Erwachsenen die spezifischen Bedingungen der Arbeit herangezogen werden, um die Arbeitsqualität zu beurteilen, reicht bei Kindern allein der Verweis auf ihr Alter aus, um ihre Arbeit zu disqualifizieren.

Arbeitende Kinder verweisen auf genau diesen Sachverhalt, wenn sie zum Ausdruck bringen, dass für sie nicht "die Arbeit" ein Problem darstellt, sondern die Bedingungen, unter denen sie ausgeübt wird. Ferner weisen sie darauf hin, dass selbst wenn sie unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten, diese Bedingungen möglicherweise verändert werden können und dass ihre Arbeit immer auch eine "nützliche" Tätigkeit darstellt, die zum Beispiel für ihre Familie und ihren Zusammenhalt wichtig ist und ihnen ermöglicht, sich mit ihrer Familie solidarisch zu zeigen.

Arbeitsverbot schützt nicht vor wirtschaftlicher Ausbeutung

Die UN-Kinderrechtskonvention schreibt in Artikel 32 das Recht der Kinder fest, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt zu werden. Diese Schutzgarantie wird oft so verstanden, dass Kinder davor bewahrt werden sollen, arbeiten zu müssen. In diesem Sinne werden die – etwa in Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Kinderarbeit oder in nationalen Gesetzen – festgelegten Arbeitsverbote für Kinder als Manifestation eines spezifischen Menschenrechts von Kindern verstanden, ohne dessen Erfüllung auch andere Rechte von Kindern, wie das Recht auf Bildung, nicht zum Zuge kommen könnten. So heißt es beispielsweise in einer Stellungnahme der Kampagne "Stop Child Labour – School is the best place to work": "Children’s rights are human rights. Children have the right to be free from child labour and have the right to education."

Bei einer solchen Interpretation wird nicht nur unter der Hand Kinderarbeit pauschal mit Ausbeutung gleichgesetzt, sondern es wird auch unterstellt, dass das Verbot von Kinderarbeit und darauf gestützte Maßnahmen umstandslos dazu geeignet seien, der Ausbeutung arbeitender Kinder einen Riegel vorzuschieben. In einer Art logischem Kurzschluss wird das Recht, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt zu werden, umgedeutet in das vermeintliche Recht, "frei von Kinderarbeit" zu sein.

Dem steht die Forderung der Bewegungen arbeitender Kinder nach einem "Recht zu arbeiten" gegenüber. Darunter wird nicht verstanden, dass irgendwelche Personen das Recht hätten, die Arbeit der Kinder in Anspruch zu nehmen. Das Recht zu arbeiten richtet sich gegen jede Form des Arbeitszwangs, sei es als Zwangsarbeit, Sklavenarbeit, Schuldknechtschaft oder die Erzwingung der Arbeit, auch durch die eigenen Eltern. Genauso wenig wird impliziert, dass den Kindern eine Arbeit garantiert werden müsse ("Recht auf Arbeit"). Stattdessen sollen Kinder selbst entscheiden können, ob, wo, wie und wie lange sie arbeiten wollen.

Demgemäß soll das Recht zu arbeiten dazu beitragen, den Entscheidungsspielraum von Kindern zu erweitern und ihre Stellung als handelnde Subjekte zu stärken. Die Forderung richtet sich also gleichermaßen gegen eine Rechtsauffassung, die Kinderrechte in erster Linie als ein Recht von Erwachsenen versteht, die Rahmenbedingungen für das Wohl von Kindern festzulegen, wie gegen eine Vorstellung von Kinderschutz, die der Gefährdung von Kindern vor allem durch Ausschluss-Maßnahmen und Verbote zu begegnen versucht.

Positive Aspekte der Arbeit von Kindern

In der Forderung nach dem Recht zu arbeiten kristallisieren sich Einstellungen und Denkweisen, die bei arbeitenden Kindern weit verbreitet sind und schon manche Forscherinnen und Forscher, die sich mit Kinderarbeit befassen, überrascht haben. Wenn Kindern – im Süden wie im Norden – Gelegenheit gegeben wird, sich über ihre Arbeit und ihre Arbeitsauffassungen zu äußern, bewerten sie die Tatsache, dass sie arbeiten, meist positiv, oder sie erklären, dass sie gerne arbeiten würden, wenn sie Gelegenheit dazu fänden. Bemerkenswert dabei ist, dass die Kinder mit der Arbeit immer bestimmte Vorstellungen und Erwartungen verbinden.

In einer Studie über die Bedeutungen, die Arbeit für Kinder in Deutschland hat, hat sich gezeigt, dass Kinder nicht irgendeine Arbeit machen wollen, sondern erwarten, dass diese "freiwillig" ist, dass sie bei der Arbeit "selbstständig" sein können und für sie "Anerkennung" finden. Eine bevorzugte, wenn auch nicht ausschließliche Form der Anerkennung sehen sie in der angemessenen Bezahlung. Die eigene Arbeit nehmen die Kinder umso ernster und schätzen sie umso mehr, je deutlicher ihr Nutzen für andere ist, je eher sie erlaubt, die eigenen Kompetenzen einzubringen, und je mehr sie von den Erwachsenen im sozialen Umfeld gewürdigt wird. Sie wird nicht in Konkurrenz zur Schule gesehen, sondern als Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen, den eigenen Handlungsraum zu erweitern und unter Umständen zukunftsrelevante Kompetenzen zu erwerben, welche die Schule nicht vermittelt.

Nicht immer drücken die Kinder ihre Vorstellungen von Arbeit aus, indem sie ausdrücklich von Arbeit sprechen, sondern betonen, dass sie Geld verdienen, sich nützlich machen, ihrer Familie helfen oder neue Erfahrungen in der "Welt der Erwachsenen" machen wollen. Ein zehnjähriges Berliner Mädchen, das auf der Suche nach einem Job war, sagte zum Beispiel: "Ich hasse es, nur in der Klasse zu sein." Obwohl die Gründe und Motive, die Kinder zum Arbeiten veranlassen, in den Ländern des Nordens und Südens sehr verschieden sind, sind ähnliche Erwägungen auch Kindern im Süden nicht fremd. So sagte ein 13-jähriger Junge aus Paraguay, der im April 2004 am zweiten Welttreffen der Bewegungen arbeitender Kinder in Berlin teilnahm: "Schule und Spiel sind für uns Kinder nicht genug." Und ergänzt: "Wir können arbeiten und gleichzeitig noch spielen und lernen. Das schließt sich nicht aus." Ein Kind, das durch überlange Arbeitszeiten oder aus anderen Gründen am Schulbesuch gehindert wird, hätte sich gewiss in anderer Weise geäußert. Aber auch bei solchen Kindern findet sich selten eine Ablehnung der Arbeit, sondern eher der Wunsch, nicht so lange oder hart arbeiten zu müssen, sich selbst die Arbeit aussuchen zu können. So sagte ein 14-jähriger Junge aus Argentinien, der seit seinem sechsten Lebensjahr als Straßenverkäufer Geld verdient, nicht die Tatsache, arbeiten zu müssen, sei für ihn und andere Kinder aus den Armenvierteln ein Problem: "Was mich belastet, ist, wenn ich unter schlechten Bedingungen arbeiten muss, keine Rechte habe und ausgebeutet werde."

Schutzkonzepte können die Lage arbeitender Kinder verschlechtern

Die Forderung nach einem Recht zu arbeiten entstand aus der Erfahrung arbeitender Kinder, dass bisherige Konzepte und Maßnahmen, die ihrem Schutz vor Ausbeutung dienen sollten, nicht oder selten dazu beigetragen haben, ihre Lage tatsächlich zu verbessern. Mehr noch, sie machten vielfach die Erfahrung, dass das in den meisten nationalen Gesetzen und in der ILO-Konvention 138 ("Mindestalter") kodifizierte Verbot der Kinderarbeit immer dann, wenn es in Maßnahmen umgesetzt wird, ihre Lage sogar kompliziert und verschlechtert. Zum Beispiel macht es den Kindern unmöglich, sich am Arbeitsplatz auf Rechte zu berufen. Selbst die ILO-Konvention 182, die spezifischer auf die Bekämpfung der "schlimmsten Formen" der Kinderarbeit abzielt, erwies sich in der Praxis als ein Instrument, das für viele arbeitende Kinder mehr Probleme schafft als löst. Sie diente in vielen Fällen sogar dazu, die Verfolgung und Vertreibung arbeitender Kinder von ihren Arbeitsplätzen zu legitimieren, wobei willkürlich – ohne die Kinder und ihre Familien zu konsultieren – definiert wurde, was als "schlimmste Formen" von Kinderarbeit zu gelten habe.

Ein Grund für die negativen Auswirkungen liegt darin, dass all diese zum Schutz vor Ausbeutung gedachten Regelungen und Maßnahmen die Arbeit der Kinder nur unter dem Aspekt betrachten, dass sie ihnen schadet, ohne die Gründe und Motive in Erwägung zu ziehen, welche die Kinder zum Arbeiten veranlassen. Da sie auf der Ideologie basieren, dass Arbeit für Kinder prinzipiell schlecht und Kinder für Arbeit prinzipiell ungeeignet seien, können sie sich auf die näheren Lebensumstände und die Sichtweisen und Empfindungen der Kinder nicht einlassen. Die Kinder werden nur als Opfer oder Objekte gesehen, denen geholfen werden muss, nicht aber als Subjekte, die sich eigene Gedanken über ihre Situation machen und zur Lösung ihrer Probleme beitragen können und wollen.

Die Vorannahmen über die Schädlichkeit der Kinderarbeit erschweren es, gegenteilige empirische Forschungsergebnisse und daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen anzuerkennen. Deutlich wird dies etwa an der Behandlung der Frage, wie sich die Arbeit und die Bildung von Kindern zueinander verhalten. Ohne Zweifel wird die Arbeit von Kindern oft unter Bedingungen ausgeübt, die ihre Bildungsmöglichkeiten beschneiden. Untersuchungen über diese Beziehung haben allerdings ergeben, dass Arbeit vielen Kindern einen Zugang zu schulischer und nichtschulischer Bildung überhaupt erst ermöglicht. Mit ihrem Einkommen leisten sich die Kinder so zum Beispiel Schulmaterialien, Anfahrtskosten, Schulgebühren oder eine einigermaßen regelmäßige Versorgung mit Nahrungsmitteln – unabdingbar für Konzentrations- und Lernfähigkeit. Ebenfalls wurde festgestellt, dass unter bestimmten Umständen Kinder und Jugendliche, die neben der Schule einer Arbeit nachgehen, bessere Bildungserfolge erzielen als ihre nicht arbeitenden Altersgenossen. Zudem können Kinder sich durch ihre Arbeit Wissen und Kompetenzen aneignen, die ihre gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche Teilhabe stärken. In der Debatte wird schließlich meist ausgeblendet, dass auch die Institution Schule Kinderrechtsverletzungen unter anderem in Form von Gewalt, Diskriminierung und übermäßigem Leistungsdruck bedeuten kann.

In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2010, die auf der umfassenden Sichtung und Evaluation bestehender Forschungsergebnisse beruht, wird denn auch die These, dass Arbeit und Bildung im Leben von Kindern unvereinbar seien, verworfen. Stattdessen wird im Hinblick auf eine Verwirklichung des Rechts auf Bildung empfohlen, die in der Arbeit von Kindern enthaltenen (Bildungs-)Potenziale zu stärken und mit einer gründlichen Reform der Bildungssysteme zu verbinden.

Ansätze, die auf die Abschaffung von Kinderarbeit zielen, vernachlässigen oftmals die kulturellen Zusammenhänge, in denen Kinder aufwachsen. In vielen Gesellschaften bestehen Vorstellungen von "Kindheit" und "Arbeit", denen zufolge die Arbeit der Kinder nicht als Makel gilt, sondern als Beitrag zu einer "geteilten Verantwortung", die Anerkennung verdient. Gewiss besteht die Gefahr, dass unter Bedingungen materieller Not die Kinder bloß als Arbeitskraft gesehen und instrumentalisiert werden und wenig Rücksicht auf ihre Bedürfnisse und Rechte genommen wird. Aber diesen Gefahren ist nur zu begegnen, wenn die Arbeit der Kinder nicht generell abgewertet wird, sondern die Kritik an den Arbeitsbedingungen der Kinder mit der Anerkennung ihrer Arbeitsleistung verknüpft wird. Eine solche Anerkennung wird durch das mit der bürgerlichen Gesellschaft entstandene Kindheitsideal erschwert, welches die Kinder vom gesellschaftlichen Leben trennt, sie in vermeintlich ihrem kindlichen Wesen entsprechenden Schutz- und Schonräumen "verinselt" und auf eine Schul- und Erziehungskindheit reduziert.

Schutz in die eigenen Hände nehmen

Das Recht zu arbeiten ist nicht nur ein wirtschaftliches Recht, das die gleichberechtigte Teilhabe der Kinder an der Gesellschaft fördert, sondern dient auch dem Schutz der arbeitenden Kinder vor Ausbeutung. Ihm liegt allerdings eine Vorstellung von Schutz zugrunde, die nicht – wie bisher üblich – auf Vermeidung oder Abschottung von gefährdenden Situationen ("Schutz vor …"), sondern auf deren Bewältigung durch aktives Handeln der direkt Betroffenen ("Schutz durch …") beruht. Darin liegen gewiss Risiken. So ließe sich fragen, ob die Kinder immer in der Lage sind, die in einer bestimmten Arbeit liegenden Gefährdungen zu beurteilen, ihr "bestes Interesse" zu erkennen oder – zum Beispiel bei den Verlockungen des Geldverdienens – zwischen kurz- und langfristigen Interessen zu unterscheiden. Auch ist fraglich, ob sie die nötige Handlungsmacht besitzen, um sich unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu widersetzen und die nötigen Änderungen zu erreichen.

Aber es wäre kurzschlüssig anzunehmen, das Vermeidungskonzept von Schutz, das dem Bild einer Käseglocke entspricht, die über die Kinder gestülpt wird, sei frei von Risiken. Es droht nicht nur die Abhängigkeit der Kinder auf Kosten ihrer Freiheits- und Partizipationsrechte zu verfestigen und ihnen zu erschweren, die nötigen Kompetenzen für situationsangemessenes Handeln zu entwickeln, sondern ist auch blind und unflexibel gegenüber den je besonderen Lebensbedingungen der Kinder und den kulturspezifischen Positionierungen von Kindern in der jeweiligen Gesellschaft. Es schüttet gleichsam das Kind mit dem Bade aus und macht es unmöglich, auszuloten, in welchen Zusammenhängen die Arbeit der Kinder verortet ist, was die Arbeit für sie bedeutet und welche Rolle sie selbst in der konkreten Situation zu ihrem eigenen Schutz spielen können. Mehr noch, im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung trägt das Vermeidungskonzept dazu bei, die Kinder überhaupt erst in den Zustand der "Hilflosigkeit" zu versetzen, der als Beleg für das "Schutzbedürfnis" dient.

Wird dagegen Kindern das Recht zu arbeiten erst einmal eingeräumt, könnten sie sich besser vor Gefährdungen schützen oder Verbesserungen ihrer Situation erreichen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme rechtlicher Mittel. Regelungen könnten die Rahmenbedingungen für die den Kindern zugänglichen Arbeiten festlegen, zum Beispiel maximale Arbeitszeit, paralleler Schulbesuch oder Schutz- und Mitwirkungsrechte am Arbeitsplatz. Außerdem könnten den arbeitswilligen Kindern Arbeitsgelegenheiten vermittelt werden, die gleichermaßen diesen Regelungen und den Wünschen der Kinder entsprechen. Dies wäre auch im Rahmen öffentlicher Einrichtungen oder mit Blick auf neue Formen solidarischen und gemeinnützigen Wirtschaftens denkbar. Es könnte damit sogar ein Beitrag zur Reduzierung der Kinderarmut geleistet werden.

Bislang "ungeschriebenes" Recht

Das Recht zu arbeiten ist bisher in keinem nationalstaatlichen Gesetz und keinem internationalen Übereinkommen, das sich auf Kinder bezieht, vorgesehen. Das ihm entsprechende, in der UN-Charta der Menschenrechte von 1948 und vielen Verfassungen verankerte Recht auf die freie Wahl des Arbeitsplatzes, das mitunter durch das "Recht auf Arbeit" verstärkt wird, enthält zwar in der Regel keine explizite Altersbegrenzung, wird aber de facto nur auf Erwachsene bezogen. Doch die Überlegung, wie das Recht zu arbeiten auch für Kinder zum Zuge kommen könnte, ist nicht zwingend an kodifiziertes Recht gebunden. Wie alle Menschenrechte kann auch das Recht zu arbeiten vor jeder formalen Kodifizierung in staatlichen Gesetzen oder zwischenstaatlichen Übereinkommen Geltung beanspruchen. Es erhält seine Legitimität, indem es in wachsendem Maße und in organisierter Weise von Kindern selbst artikuliert wird.

Die "12 Rechte" zum Beispiel, die im Gründungsdokument der Afrikanischen Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher (MAEJT) formuliert sind, entsprechen zwar teilweise sinngemäß einigen Artikeln der UN-Kinderrechtskonvention, sie sind in dieser Form aber in keinem "offiziellen" Rechtsdokument enthalten. Ein Beispiel ist das "Recht im Dorf zu bleiben". Im Unterschied zu staatlichen und zwischenstaatlichen Rechtsdokumenten zeichnen sich diese Rechte dadurch aus, dass sie konkret auf die Lebenssituationen und Interessenlagen der arbeitenden Kinder bezogen sind, die sie formuliert haben oder die durch die Kinderbewegung repräsentiert werden. Die afrikanische Kinderbewegung macht in allen Ländern, in denen sie präsent ist, in regelmäßigen Abständen eine Bestandsaufnahme über das Ausmaß, in dem ihre "12 Rechte" erfüllt werden, und verteilt entsprechende Noten an die verantwortlichen Erwachsenen und Regierungen.

Eine besondere Relevanz erhält das Recht zu arbeiten dadurch, dass es zur Durchsetzung auch anderer Kinderrechte entscheidend beitragen kann. Der fundamentale Neubeginn, den die UN-Kinderrechtskonvention verspricht, indem sie den Kindern das Recht auf eine menschenwürdige Gegenwart und eine selbstbestimmte soziale Identität zugesteht, bleibt ohne nennenswerte Folgen, solange die Kinder faktisch vom Wohlwollen der Erwachsenen abhängig bleiben. Erst wenn sie auf legale Weise wirtschaftlich tätig sein und gegebenenfalls über eigenes Einkommen verfügen können, können die Kinder damit rechnen, die nötige Unabhängigkeit und das soziale Gewicht zu erlangen, um selbst ihre Rechte in der Gesellschaft durchzusetzen.

In den Erklärungen der Kinderbewegungen wird das Recht zu arbeiten nicht auf irgendeine Arbeit bezogen, sondern es wird immer wieder betont, dass es sich um eine "Arbeit in Würde", eine "leichte" oder "nicht zu schwere Arbeit", eine Arbeit, die den "Fähigkeiten angemessen" ist, handeln soll. Dies könnte auf den ersten Blick so verstanden werden, dass die Kinder für sich nur ein eingeschränktes Recht auf "kinderspezifische" Arbeit beanspruchen. Aus dem Zusammenhang geht jedoch hervor, dass nicht das Lebensalter zum Kriterium der Angemessenheit gemacht wird, sondern die Wahrung der menschlichen Würde. Im Verständnis der Kinderbewegungen zielt das Recht zu arbeiten darauf ab, eine "möglichst gute" Arbeit zu erlangen und jeder Art von Ausbeutung und Entwürdigung in der Arbeit aktiv zu begegnen. Es enthält somit einen "utopischen Überschuss", der über die in der kapitalistischen Gesellschaft dominierende Form der Lohnarbeit hinausweist. Überdies beanspruchen die Kinder, selbst entscheiden zu können, ob die zu erlangende Arbeit den von ihnen selbst bestimmten Kriterien entspricht.

Ausblick

Die von den Kindern vorgenommenen Spezifizierungen haben besonderes Gewicht in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Arbeitsverhältnisse weltweit "dereguliert" und "flexibilisiert" werden und immer mehr Menschen zugemutet wird, sich mit einer "prekären Arbeit" zu begnügen. Entgegen einem gängigen Vorurteil ist es die erklärte Absicht der Kinder, sich nicht als billige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt vereinnahmen zu lassen. Ihnen ist bewusst, mit Menschen anderen Alters, die auf ihre Arbeitskraft angewiesen sind, in einem Boot zu sitzen. Umgekehrt bestehen sie aber auch darauf, nicht unter bloßem Verweis auf ihr geringeres Lebensalter von einer gesellschaftlichen Praxis ausgeschlossen zu werden, die für "erwachsene" Menschen als Ausweis eines menschenwürdigen Daseins gilt.

Nach dem Verständnis der Kinderbewegungen ist das von ihnen geforderte Recht zu arbeiten keinesfalls auf Lohnarbeit beschränkt, sondern bezieht sich auf alle für das menschliche Leben bedeutsamen Tätigkeiten. In ihm drückt sich letztlich das Verlangen aus, nicht auf eine begrenzte und vom Wohlwollen der Erwachsenen abhängige "Kindheit" reduziert zu werden, sondern in gleichberechtigter Weise am Kampf um eine bessere Welt für alle teilzuhaben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Kinderarbeit in Deutschland, 2.6.2000, Bundestags-Drucksache 14/3500, S. 8f.

  2. Vgl. Madeleine Leonard, Children’s Views on Children’s Right to Work. Reflections from Belfast, in: Childhood, 11 (2004) 1, S. 45–61; Smiljana Simeunovic Frick (ed.), Children’s Rights: Claimed and Experienced. Children’s Reports to the UN Committee on the Rights of the Child, Zürich–Berlin 2011, S. 153f. (Belgien), S. 231 (Großbritannien).

  3. Organisationen arbeitender Kinder entstehen in Lateinamerika seit den 1980er, in Afrika und Asien seit den 1990er Jahren. Zu ihrer Geschichte und Bedeutung vgl. Manfred Liebel, Kindheit und Arbeit. Wege zum besseren Verständnis arbeitender Kinder in verschiedenen Kulturen und Kontinenten, Frankfurt/M.–London 2001, S. 235ff.; ProNATs e.V./Christliche Initiative Romero e.V., "Wir sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung". Arbeitende Kinder zwischen Ausbeutung und Selbstbestimmung, Berlin–Münster 2008. Die Autoren dieses Beitrags engagieren sich im Verein ProNATs zur Unterstützung arbeitender Kinder (Externer Link: http://www.pronats.de) und sind als Berater der Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher in Lateinamerika, Afrika und Asien tätig.

  4. Auf die Tatsache, dass Arbeit nicht nur als Erwerbsarbeit verstanden werden kann, macht mit Blick auf Kinder aufmerksam: Anne Wihstutz, Verantwortung und Anerkennung. Qualitative Studie zur Bedeutung von Arbeit für Kinder, Berlin 2009.

  5. Gerard Oonk, Child Labour, Trade Relations and Corporate Social Responsibility. What the European Union should do, The Hague 2008. Die Kampagne wird in Deutschland von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) propagiert.

  6. Vgl. Beatrice Hungerland et al., Bedeutungen der Arbeit von Kindern in Deutschland. Wege zu partizipativer Autonomie?, in: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, 14 (2005) 2, S. 77–93.

  7. Zit. nach: "Bin 10, suche Arbeit!", Film von Silvia Kaiser, ZDF, 2006.

  8. Alle Kinderäußerungen zit. nach: Manfred Liebel, Kinderrechte – aus Kindersicht. Wie Kinder weltweit zu ihrem Recht kommen, Berlin 2009, S. 84.

  9. Vgl. Jeylan T. Mortimer, Working and Growing Up in America, Cambridge, MA 2003, S. 187.

  10. Vgl. Michael Bourdillon et al., Rights and Wrongs of Children’s Work, New Brunswick–London 2010, S. 102, S. 129–132; Charlotte Büchner/Gert G. Wagner, Eine empirische Bestandsaufnahme außerfamiliärer und außerschulischer Bildungs- und Lernwelten. Ergänzungen und vertiefende Analysen an den 12. Kinder- und Jugendbericht, DIW Research Notes 11/2006, S. 29, S. 32.

  11. Vgl. Ulf Preuss-Lausitz, Kinder zwischen Selbständigkeit und Zwang. Widersprüche in der Schule, in: ders. et al. (Hrsg.), Selbständigkeit für Kinder – die große Freiheit? Kindheit zwischen pädagogischen Zugeständnissen und gesellschaftlichen Zumutungen, Weinheim–Basel 1990, S. 54–68; Erich Ribolits, Bildung ohne Wert. Wider die Humankapitalisierung des Menschen, Wien 2009.

  12. Vgl. M. Bourdillon et al. (Anm. 10), S. 108–132.

  13. Vgl. Johanna Mierendorff/Renate Kränzl-Nagl, Kindheit im Wandel – Annäherung an ein komplexes Phänomen, in: SWS-Rundschau, 47 (2007) 1, S. 5–28; Helga Zeiher, Ambivalenzen und Widersprüche der Institutionalisierung von Kindheit, in: Michael-Sebastian Honig (Hrsg.), Ordnungen der Kindheit, Weinheim–München 2009, S. 103–126.

  14. Vgl. Manfred Liebel, Kinder und Gerechtigkeit. Über Kinderrechte neu nachdenken, Weinheim–Basel 2012, S. 72ff.

  15. Wie wichtig statt eines generellen Verbots rechtliche Regulierungen wären, zeigt sich auch daran, dass Kinder immer häufiger im Medienbereich und Showbusiness einer Arbeit nachgehen. Zu ersten Versuchen, eine solche Regulierung in Deutschland zu finden, vgl. Melanie Garbas, Kinderarbeit in den Medien – Zwischen Schutzanspruch, Interessenwahrung und Selbstverwirklichung, in: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 4 (2009) 1, S. 91–105.

  16. Vgl. Manfred Liebel, Arbeitende Kinder in der Solidarischen Ökonomie, in: Europäischer Masterstudiengang "Gemeinwesenentwicklung, Quartiermanagement und Lokale Ökonomie" an der Hochschule München (Hrsg.), Gemeinwesen gestalten – Lernen für eine nachhaltige Entwicklung, Neu-Ulm 2009, S. 141–156.

  17. Siehe hierzu etwa den Beitrag von Barbara Küppers in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  18. Zur Anwendung auf Kinder und einer entsprechenden Reform des internationalen Arbeitsrechts vgl. Karl Hanson, Arbeitende Kinder und ihre Rechte. Ein Denkanstoß, in: Manfred Liebel/Ina Nnaji/Anne Wihstutz (Hrsg.), Kinder. Arbeit. Menschenwürde. Internationale Beiträge zu den Rechten arbeitender Kinder, Frankfurt/M.–London 2008, S. 249–271.

  19. Vgl. Die arbeitenden Kinder und Jugendlichen Afrikas organisieren sich. Eine Dokumentation, in: Manfred Liebel/Bernd Overwien/Albert Recknagel (Hrsg.), Was Kinder könn(t)en. Handlungsperspektiven von und mit arbeitenden Kindern, Frankfurt/M.–London 1999, S. 69–88.

  20. In Bolivien hat die Bewegung arbeitender Kinder mit ähnlichen Intentionen sogar einen Gesetzentwurf ausgearbeitet. Vgl. Manfred Liebel, Mutiges Novum. Bolivien: Arbeitende Kinder formulieren ein Gesetz für ihre eigenen Rechte, in: Ila – Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika e.V., (2011) 345, S. 44–46.

  21. Dies wurde schon in den 1970er Jahren in einer Schrift des US-amerikanischen Children’s Liberation Movement hervorgehoben: Richard Farson, Menschenrechte für Kinder. Die letzte Minderheit, München 1975.

  22. Vgl. Manfred Liebel/Ina Nnaji/Anne Wihstutz, Arbeitende Kinder und die Würde (in) der Arbeit, in: dies. (Anm. 18), S. 391–428; Deklarationen auf der Internetseite des ProNATs e.V.: Externer Link: http://www.pronats.de/materialien/deklarationen/ (21.9.2012).

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Manfred Liebel, Philip Meade, Iven Saadi für bpb.de

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Dr. phil.; Professor für Soziologie, Leiter des Instituts für Internationale Studien zu Kindheit und Jugend an der Internationalen Akademie (INA) sowie des European Masterstudiengangs on Childhood Studies and Children’s Rights (EMCR) an der Freien Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail Link: mliebel@ina-fu.org

M.A.; Sozialpädagoge, Lehrbeauftragter im EMCR (s.o.), Kinderrechts-Beauftragter in einem Berliner Jugendhilfeverein. E-Mail Link: philip.meade@web.de

M.A.; Politikwissenschaftler, Mitarbeiter im Institut für Internationale Studien zu Kindheit und Jugend an der INA und Lehrbeauftragter im EMCR (s.o.). E-Mail Link: iven.saadi@gmx.de