Die Digitalisierung hat eine heftige Diskussion über das Urheberrecht ausgelöst. Diese Diskussion wird überwiegend normativ geführt. Meist geht es dabei um rechtliche Grundsätze oder die allgemeine (Zahlungs-)Moral und nur selten um die konkrete Praxis der Produktion und Vermarktung von Kulturgütern. Tatsächlich haben wir relativ wenig systematisches Wissen darüber, wie das Urheberrecht praktisch wirkt. Im Unterschied zum Patentrecht, dessen Annahmen und Effekte vielfach untersucht worden sind,
Eine solche Betrachtung kann anknüpfen an eine Reihe von Studien, welche die grundlegenden Annahmen des Urheberrechts empirisch und konzeptionell in den Blick genommen und hinterfragt haben. So hat etwa die Literaturwissenschaft den Begriff des originalen Werks
In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit der Frage nach der Bedeutung des Urheberrechts für den Handel mit kulturellen Werken. Die dem Urheberrecht und den Reform-Debatten zugrunde liegende Annahme ist hier, dass staatlich garantierte Ausschlussrechte für den Handel mit Informationsgütern notwendig sind, weil Musik, Literatur oder Film andernfalls nicht im gewünschten Umfang geschaffen werden und es in der Folge zu einem Marktversagen kommt.
Für eine empirische Untersuchung der Bedeutung gesetzlicher Rechte für die Zirkulation von Kulturgütern sind diese Märkte "im Schatten“ des Rechts besonders instruktiv. Denn diese machen eine Pluralität und Heterogenität möglicher Regelungsarrangements sichtbar, die durch die Fokussierung der gängigen Diskussion auf das Urheberrecht häufig verdeckt wird.
Im Folgenden werden wir deshalb einige Beispiele für Märkte vorstellen, in denen Kulturgüter gehandelt werden, die nicht oder nur sehr schwach durch das Urheberrecht reguliert werden. Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Zirkulation von Witzen unter Stand-up-Comedians, Kopien und Nachahmungen von japanischen Comics durch Amateurzeichner, den Handel von Fernsehformaten und die Entwicklung von Computerspielen.
Stand-up-Comedy: Ideenschutz und Total Buyout
Spätestens seit der deutsche Komiker Mario Barth im Spätsommer 2008 das Berliner Olympiastadion mit 70.000 Zuschauern füllte, ist klar, dass Stand-up-Comedy zur kommerziell massentauglichen Unterhaltungsform herangewachsen ist. Aufstiegsmöglichkeiten sind jedoch rar, Auftritte und Spielzeiten hart umkämpft, und die Konkurrenz ist stets bemüht, einen Schritt voraus zu sein. Das wichtigste Mittel im Kampf um das Rampenlicht ist gleichzeitig auch das höchste Gut eines jeden Komikers – der Witz. Interessant ist daher, dass der Schutz von und der Handel mit Gütern in der Comedy-Branche gänzlich ohne das Urheberrecht auskommt, obwohl dieses formell durchaus auf Witze oder ein ganzes Programm anwendbar ist.
Das formelle Recht spielt im Comedy-Bereich vor allem deshalb keine Rolle, weil die grundlegenden Kategorien und Annahmen des Urheberrechts in zentralen Dimensionen nicht mit den Praktiken und Normen der Künstler übereinstimmen. Der erste Aspekt betrifft die essenzielle Frage nach dem Gegenstand der normativen Ansprüche. Das Urheberrecht schützt Werke, keine Ideen. Es ist bei einem Witz aber primär die Idee, aus der sich die Komik ergibt. Diese Idee kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden, so dass das Urheberrecht dem Komiker kaum dabei hilft, einen Originalitätsanspruch auf sein Material zu erheben. Zudem testen Comedians ihre Witze meist zunächst am Publikum, und entwickeln sie daraufhin kontinuierlich weiter. Einem Konkurrent bieten sich so oft Gelegenheiten, das Material für sein eigenes Programm zu übernehmen. Ausgehend von diesem Problem, das eigenständige Schaffen und somit die Originalität eines Witzes nachzuweisen, hat sich unter den Comedians eine Norm durchgesetzt, die sich nicht nur auf den Schutz des Ausdrucks einer Idee, sondern auch auf die Idee an sich bezieht. Die Grenze zwischen akzeptierter Inspiration und unzulässigem Plagiat wird im informellen Regelungssystem interessanterweise damit wesentlich enger gezogen als im Urheberrecht, selbst recht allgemeine Ideen sind hier geschützt. Auch bezüglich der Dauer ist die Regel der Comedians strikter als das Recht. Während urheberrechtliche Ansprüche nach einer bestimmten Zeit erlöschen (in Deutschland sind es 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers), ist unter Comedians die Aufnahme fremder Ideen ins eigene Repertoire niemals zulässig.
Das informelle Normensystem reguliert auch den Handel mit Witzen. Dabei kommen die in der Regel mündlich abgeschlossenen Transaktionen meist einem total buy-out gleich, indem der Verkäufer sämtliche Rechte an seinem Material abtritt und sich dazu verpflichtet, das verkaufte Material ab dem Zeitpunkt der Transaktion nicht mehr zu verwenden. Gleichzeitig verzichtet der Urheber ebenfalls auf jeglichen Anspruch auf Anerkennung für das Schaffen des Materials: "(When I buy a joke,) it’s mine, lock, stock and barrel. He can’t perform them and my (…) oral agreement with my writers is you can’t even tell anybody that you wrote the joke.“
Die Durchsetzung und Sanktionierung dieser informellen Normen erfolgt an erster Stelle durch persönliche Konfrontation. Sollte sich der Konflikt nicht durch eine Aussprache lösen lassen, kann es zu einer Reihe unterschiedlicher Sanktionen kommen. Ausgrenzung aus der Community, Verweigerung der Zusammenarbeit, üble Nachrede oder in manchen, eher seltenen Fällen, körperliche Gewalt sind die Maßnahmen, die auf einen Verstoß gegen die Anti-Plagiatsnorm folgen können.
Diese Aspekte zeigen, dass sich unter Stand-up-Comedians ein Normensystem herausgebildet hat, das die Zirkulation von Witzen informell reguliert und bei Verstößen auch sanktioniert. Interessanterweise ist das informelle Regelungssystem der Comedians in vielen Aspekten weitreichender und strenger als das formelle Urheberrecht. Dies reflektiert die Tatsache, dass es sich hier um Produzentennormen handelt, die kein Interesse an Zugänglichkeit und Nutzbarkeit haben.
Dojinshis: Unausgesprochene Übereinkommen und geregelte Regelverletzung
Ein weiterer Bereich, in dem die Zirkulation von Kulturgütern wesentlich durch nicht-rechtliche Regeln gerahmt wird, und gleichzeitig ein kapitalstarker Markt entstanden ist, sind japanische Comics und ihre Adaptionen. Mangas stellen mit einem Marktanteil von knapp 22 Prozent der insgesamt pro Jahr veröffentlichten Printmedien und einem jährlichen Gesamtumsatz von etwa 4,2 Milliarden US-Dollar einen beträchtlichen Wirtschaftsfaktor in Japan dar. Rund um die Hefte und Bücher ist eine milliardenschwere Industrie entstanden, die mit Filmen und Fernsehserien bis hin zu Videospielen und Sammelkarten den Bedarf einer stets wachsenden, internationalen Fangemeinde deckt.
Im Kontext der hier aufgeworfenen Fragen zur Zirkulation von Kulturgütern ist es von besonderem Interesse, dass auf Basis des Manga-Marktes ein zweiter Markt entstanden ist, der im Wesentlichen auf der nicht lizenzierten Nutzung von Manga-Geschichten und -Charakteren basiert. So genannte Dojinshis – sinngemäß "Zeitschrift für Gleichgesinnte“ – sind von Amateurzeichnern auf Eigeninitiative herausgegebene Mangas, die Charaktere und Handlungsstränge bekannter Mangas aufgreifen und nach ihren eigenen Vorstellungen weiterentwickeln.
Abseits der eher ideellen Aspekte ergibt sich das Einverständnis zwischen Autoren, Verlegern, Verwertern und Amateuren aus einer Reihe ökonomischer Überlegungen. So erkennen zunehmend viele Verleger das Potenzial der Amateurcomics, das Verhältnis von Produzent und Konsument neu zu definieren und darüber hinaus zu einem höheren Maß an Identifikation mit dem "Produkt“ zu verhelfen. Ähnlich der Open-source-Community im Softwarebereich verstehen sich Mitglieder der Dojinshi-Community als "Prosumenten“
Wie erste Gespräche verdeutlichen, ist den Akteuren der Branche die Ambivalenz der Situation durchaus bewusst. Einerseits sollten in ihren Augen Verfügungsrechte der Urheber geschützt werden, andererseits sichere gerade das "Nicht-so-genau-nehmen“ Kreativität und Innovation in der Branche. Die informellen Regeln wiederum scheinen vor allem deshalb erfolgreich zu sein, weil die Akteure gewillt sind, im Dialog zu bleiben.
Im Ergebnis zeigt sich, dass in diesem Feld Urheber und Verwerter bewusst auf die Durchsetzung partieller Nutzungs- und Verwertungsrechte verzichten, da sie von den nachgelagerten Märkten auch profitieren.
Fernsehformate: Format-Bibeln und Fliegende Produzenten
Ein weiterer Markt, der sich unter den Bedingungen rechtlicher Unsicherheit entwickelt hat, ist der nationale und internationale Handel von Fernsehformaten. Casting-Shows wie "Deutschland sucht den Superstar“, Reality-Formate wie "Bauer sucht Frau“ oder "Dschungel-Camp“, Kochsendungen und Daily Soaps machen seit den späten 1990er Jahren einen bedeutenden Anteil des Fernsehprogramms aus. Das ökonomisch Interessante an TV-Formaten ist, dass sie auf Basis einer Idee ganze Ketten von Vervielfältigungen und Vermarktungen aufbauen. Jedes Format verfügt über eine Grundstruktur, die in der seriellen Produktion sowie der Anpassung für andere Märkte leicht variiert wird.
Für einzelne Elemente eines TV-Formats können durchaus eine Reihe von Schutzrechten geltend gemacht werden: Urheberrechte, Markenrechte, der Schutz vor unlauterem Wettbewerb oder der Schutz von Betriebsgeheimnissen. Einen übergreifenden rechtlichen Schutz für TV-Formate gibt es jedoch weder in Deutschland noch in anderen Ländern, auch weil die Format-Idee an sich nicht schutzfähig ist.
Praktisch bewältigt wird diese rechtliche Unsicherheit durch personen- und organisationsbezogenes Know-how, marktliche Strategien und – wie im Bereich Stand-up-Comedy und Dojinshis – informelle Konventionen und Normen. Die für den Formathandel zentrale Konvention besteht darin, "so zu tun, als ob es einen umfassenden juristischen Formatschutz“
Auch die internationalen Distributionsketten werden zum Schutz von TV-Formaten eingesetzt. Nachahmer haben es unter Umständen schwer, ihre Produkte zu vertreiben und weitere Geschäftsbeziehungen aufzubauen.
Computer- und Videospiele: Copycats und Innovationen
Die Computer – und Videospielbranche ist seit ihren Anfängen in der Hackerkultur der frühen 1970er Jahre
In diesem Sinne steht die Spieleindustrie vor einem ähnlichen Problem wie die Produzenten von TV-Shows: Sobald die Idee für ein Spiel bekannt wird, besteht die Gefahr von copycats, also der Imitation und Weiterentwicklung schon vorliegender Spiele. Entsprechend gruppieren sich Innovationen in diesem Markt jeweils um bestimmte Genres von Spielen, wie etwa die derzeit populären Bauernhofsimulationen. "FarmVille“, das erfolgreichste dieser Spiele, war denn auch keineswegs das erste seiner Art; es war bloß massenmarkttauglicher als Konkurrenten wie "My Farm“ oder "Farm Town“, wie Brian Reynolds, Designchef von "FarmVille“-Hersteller Zynga, der für seine Imitationsstrategien vielfach kritisiert worden ist, freimütig zugibt.
Das Kopieren erfolgreicher Spiele, so auch der Games-Experte Kyle Orland,
Ähnliche Beobachtungen lassen sich mit Blick auf das Verhältnis zwischen Produzenten und Fangemeinde machen. Das Äquivalent zu Dojinshis bilden die mods, von Nutzern programmierte, auf dem Originalcode aufbauende Versionen von Spielen, die zwischen Fans geteilt werden. Ein kommerzieller Vertrieb verstößt unter moddern gegen die Etikette. Die von der Fangemeinde entwickelten mods reichen von leicht abgewandelten Versionen über Importe aus anderen Spielen bis zu kompletten Neuentwicklungen. Nach anfänglichen Klagen gegen dieses Treiben begann die Branche das kreative Potenzial der "wildernden“ Fangemeinde
Fazit: Pluralität von Regelungsformen
Die hier vorgenommene Betrachtung von Kulturgütermärkten im Schatten des Rechts hat gezeigt, dass schwache oder fehlende Schutzrechte nicht notwendigerweise zu Marktversagen führen. Der Grund dafür besteht darin, dass die Abwesenheit beziehungsweise Ineffektivität von (Urheber-)Rechten nicht gleichbedeutend mit dem Fehlen von Regeln ist. Vielmehr sind unter den Bedingungen rechtlicher Unsicherheit Normen und Konventionen entstanden, die in der Grauzone zwischen Imitation und Innovation die für die Beteiligten mehr oder minder verlässlichen Grenzen zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem ziehen und damit zugleich Märkte für Kulturgüter stabilisieren.
Wie das Beispiel Stand-up-Comedy illustriert, können soziale Normen dort, wo das Urheberrecht nicht greift, dieses unter Umständen ersetzen. Ähnliche Befunde liegen für die Haute Cuisine, für Zaubertricks und mit Einschränkungen für die Mode vor.
Dojinshis und mods können dagegen als tolerierte Urheberrechtsüberschreitungen verstanden werden. Manga-Produzenten und Spieleentwickler verzichten bewusst auf einzelne Rechte und profitieren von den nachgelagerten Märkten und Aktivitäten der jeweiligen Fangemeinde. Allerdings gibt es auch zwischen Produzenten und Amateuren informelle Regeln, die darauf zielen, Grenzen zwischen tolerierter Nachahmung, Modifikation und sanktioniertem Plagiat zu ziehen.
Gemeinsam scheint diesen Regeln im Schatten des Urheberrechts zu sein, dass sie die spezifischen Produktionsbedingungen und Eigenarten von kreativen Gütern reflektieren. In diesem Sinne zeichnen sich informelle Schutznormen nicht nur durch größere Flexibilität, sondern wohl auch durch eine höhere Sensibilität für ihre Auswirkungen auf die branchentypischen Produktions- beziehungsweise Innovationsstrategien aus als das Urheberrecht, das auf einheitliche Regeln zielen muss. Im Unterschied zum Urheberrecht verfolgen informelle Normen andererseits nicht das Ziel, eine Balance zwischen den Interessen von Öffentlichkeit und Kulturschaffenden herzustellen. Dem Anspruch eines Interessenausgleichs werden soziale Normen daher in vielen Fällen nicht gerecht.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die populäre Vorstellung eines Marktversagens ohne ein starkes Urheberrecht die Bedeutung gesetzlicher Schutzrechte wahrscheinlich übergeneralisiert. Die Beispiele zeigen, dass soziale Normen unter Umständen, über die wir zugegebenermaßen bisher zu wenig wissen, eine ähnliche funktionale Wirkung entfalten wie gesetzliche Normen.
Während die aktuelle Auseinandersetzung über das Urheberrecht dazu verleitet, gesetzlichen Normen die zentrale Bedeutung für die Entwicklung von Kulturgütermärkten zuzuschreiben, lässt die hier skizzierte empirische Perspektive eine Vielzahl von Praktiken und Normen sichtbar werden, die ebenfalls Märkte koordinieren und Originalitäts- beziehungsweise Verwertungsansprüche von Urhebern regeln. Damit ist die noch im Entstehen begriffene Forschung zur Pluralität von Regulierungsformen und ihrer Bedeutung für die Funktionsweise von Kulturgütermärkten nicht nur von akademischem Interesse. Wenn es stimmt, dass soziale Normen und Praktiken wesentlich zur Handelbarkeit von Kulturgütern und zur Konstitution ihrer Märkten beitragen, so ist dies sowohl für wirtschaftliche als auch für regulierungspolitische Strategien hoch relevant.