Nach meinen Begriffen war das musikalische Genie der 1960er Jahre Pete Townshend. Andere mögen, auf ihre Weise, die besseren Sänger, Songwriter, Musiker oder Produzenten gewesen sein, aber Townshend war der, der alles konnte. Er war ein Allroundgenie: ein unglaublicher Performer und ein kraftvoller Gitarrist; er konnte wundervolle Songs schreiben und diese im Studio produzieren.
In den späten 1960er Jahren erlangte seine Band The Who weltweiten Ruhm mit ihrer Rockoper "Tommy“. Aber Townshend wollte sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Das nächste Projekt der Band, das ehrgeizige "Lifehouse“, war ein Science-Fiction-Spektakel, vor dem selbst die schon reichlich komplizierte Story von "Tommy“ verblasste. Zu dieser Zeit war es Townshends Anliegen, sein Publikum zu einem Teil seiner Musik werden zu lassen. Neben der futuristischen Geschichte, in der es um die dystopische Vision einer Gesellschaft ging, in der Rock ’n’ Roll nicht länger existiert, sollten einzelne Zuhörer in spezielle Outfits gesteckt werden, Lifesuits, die, der Geschichte nach, die Menschen mit allem Nötigen versorgen sollten. Am Ende, so der Plan, sollten sich sowohl die Band als auch ihre Fans in der Erfahrung eines "universellen Akkords“ vereint finden. Es war starker Tobak, und das selbst für die damalige Zeit. Und während Townshend darum kämpfte, alles am Laufen zu halten, verloren die anderen Bandmitglieder völlig den Überblick. Niemand – wie es schien, auch er selbst nicht – verstand, was in Petes Kopf vorging und wie das ganze Konzept umgesetzt werden sollte.
Eine der größten Hürden dabei stellte die Technik dar. Ständig sah Townshend sich von den technischen Begrenzungen jener Zeit ausgebremst. Der Klang und die Bilder, die er im Kopf hatte, waren damals technisch einfach nicht zu realisieren. Nachdem sie monatelang um das Projekt gekämpft hatten, gaben Townshend und die Band schließlich auf. Anstatt "Lifehouse“ fertigzustellen, wurden lediglich einige der vorgesehenen Songs eingespielt und zusammen mit einigen anderen Tracks, die nichts mit dem Projekt zu tun hatten, in ihr nächstes Album integriert, das "Who’s Next“ betitelt wurde.
Nahezu ein Jahrzehnt später, auf der 1978 erschienenen Platte "Who are you“, fand sich Townshends Song "Music Must Change“. Die erste Zeile des Songtextes könnte gut als Kommentar zu "Lifehouse“ gesehen werden, der Vision, die er niemals imstande war, auszudrücken oder umzusetzen: "Deep in the back of my mind is an unrealized sound.“ Selbst Allroundgenies stoßen ab und zu an ihre Grenzen.
Geschichten müssen sich ändern
Heute sehen sich Autoren, im Unterschied zu Townshend vor 40 Jahren, kaum noch technologischen Hindernissen gegenüber, die ihre Vorstellungskraft einschränken könnten. Mit unglaublich leistungsstarken und zugleich leichten Computern sowie Geräten, die über hoch auflösende Bildschirme verfügen, mit atemberaubender Geschwindigkeit arbeiten und nicht nur Audiotracks, sondern auch Videos in höchster Qualität abspielen können, wären Autoren imstande, Geschichten zu erzählen, welche die Kluft zwischen den unterschiedlichen Kunstformen überbrücken und den Weg in Richtung einer neuen Leseerfahrung weisen könnten, in der alle Medien zu einem Zweck miteinander verschmelzen: um eine großartige Geschichte zu erzählen. Doch dies geschieht nicht. Stattdessen sind die digitalen Versionen von Büchern nichts weiter als elektronische Faksimiles ihrer Vorgänger, und die Teile eines Romans werden noch immer in den Begriffen ihrer physischen Gestalt gedacht: Seite, Umschlag, Buch.
Für seinen klassischen Roman "Fahrenheit 451“ erdachte Ray Bradbury eine landesweit ausgestrahlte Seifenoper, die von der Frau des Protagonisten auf einem riesigen, eine ganze Wand ihres Appartements einnehmenden Bildschirm gesehen wurde. Doch dieser war zugleich eine Art durchlässiger Einwegspiegel; genau wie in George Orwells "1984“ sah man nicht nur in den Bildschirm, sondern der Bildschirm schaute zurück. In "Fahrenheit 451“ wurden normale Bürger willkürlich aus der Menge gegriffen, und man gab ihnen ein paar Sätze zu sprechen. So wurden sie, für kurze Zeit, zu Stars in der Show. Das war eine großartige Idee, aber selbst heute, 60 Jahre später, ist es nur Fantasie. In einem digitalen Roman aber ließe sich etwas ganz Ähnliches machen. Wenn der Leser einer literarischen App Zugangsrecht zu seinem Facebook-Konto einräumte, könnte ihm eine auf ihn zugeschnittene Story angeboten werden, in die seine Frau, seine Freunde, sein Arbeitsplatz und seine nähere Wohnumgebung verwoben wären. (Und das personalisiert bis hin zum Wetter: Die erste Zeile der Geschichte würde nur dann "Es war eine dunkle und stürmische Nacht“ lauten, wenn es auch tatsächlich eine solche war.) Eine Software könnte die Fotos des Lesers scannen, analysieren und auf dieser Grundlage eine Beschreibung nicht nur von ihm, sondern auch der ihm nahestehenden Personen anfertigen, die im Text auftauchen würden. Der Leser würde im Wortsinne zum Star des Romans.
Dabei ginge es nicht um die sogenannte augmented reality, die erweiterte Realität; es wäre die Realität, zum Roman gemacht. Deine Realität. Die jahrhundertealte Tradition des Realismus würde dem "Du-ismus“ weichen. Und warum auch nicht? Eine ganze Generation ist dabei, sich vom klassischen Fernsehen zu verabschieden, denn schließlich, wie es schon The Smiths sangen: "It says nothing to me about my life.“ Und wie könnte es auch? Es weiß ja nichts über dich. Warum sollte man eine Fernsehsendung über das Leben eines anderen schauen, wenn das Stöbern in Facebook doch erlaubt, sich zum Star seiner eigenen Lebensgeschichte zu machen (mit den Freunden als Nebendarstellern und dem Internet als Ort)?
Durch die gesamte Evolution der Sprache hindurch hat sich das geschriebene Wort verändert und sich dabei allen neuen Formaten angepasst, die erfunden wurden, um es zu beherbergen. Tontafeln wichen Schriftrollen, Schriftrollen wurden durch mit Holzdeckeln zu Codices gebündelte Seiten ersetzt, und während dieses ganzen Prozesses wurden immer wieder neue literarische Formen geboren. Und nun, Jahrzehnte nachdem tragbare Lesegeräte eingeführt wurden, sind Bildschirme noch immer bloß digitale Seiten.
Was wir brauchen, ist eine wirkliche erzählerische Singularität.
Ergreifen wir die Möglichkeiten der digitalen Ära
In meinem 2007 veröffentlichten Buch "Print is Dead: Books in Our Digital Age“ drängte ich Autoren, Leser und Verleger, sich den digitalen Inhalten zu öffnen und das Web als Vertriebsmechanismus zu sehen und nicht als elektronische Nemesis.
Mein neuestes Projekt "Beside Myself“ ist ein interaktiver Roman für das iPad, der sich durch mehrere Versionen eines Erzählers auszeichnet, der in wechselnden Realitäten existiert.
So wollte ich zum Beispiel eine Reihe von "Ostereiern“ in den Roman einbauen, einen aus Videospielen bekannten Terminus, mit dem ein Inhalts- oder Handlungselement gemeint ist, das im Spiel versteckt ist und vom Spieler eine bestimmte Aktion verlangt, um es freizuschalten. Für "Beside Myself“ dachte ich daran, den Lesern die Möglichkeit zu geben, durch die Drehung des "Covers“ der App in einer bestimmten Weise Zugang zu meinem Tagebuch zu bekommen, das ich während des Schreibens der Geschichte führte; so würden sie meine Skizzen lesen können, die Beschreibungen der Charaktere, nicht verwendetes Material und anderes mehr.
Eine andere Idee war, in die App ein soziales Netzwerk zu integrieren, so dass man als Leser die Möglichkeit hätte, in Echtzeit Kommentare mit anderen Lesern auszutauschen, um derart eine Art weltweiten book club zu schaffen. Inspiration hierfür war die iPhone-App Ocarina, mit der es möglich ist, Musik zu erzeugen und die Grafik eines Globus so herumzuwirbeln, dass man sehen kann, wo auf der Welt andere Menschen mit der App spielen und auch zu hören, was sie gerade spielen. Ich dachte auch darüber nach, Soundeffekte ins Buch zu integrieren, und auch visuelle Elemente wie einen sich bei einer nächtlichen Szene verdunkelnden Bildschirm. Man könnte eine Story schreiben, deren Handlung sich über einen Abend hinzieht und bei der sich der Bildschirm wie der Hintergrund in Hitchcocks "Cocktail für eine Leiche“ langsam vom Tageslicht über die Dämmerung bis zur nächtlichen Dunkelheit verändert.
Letztlich verzichtete ich darauf, diese Optionen weiterzuverfolgen, weil ich den Roman dann doch mehr oder weniger als geradlinige Story konzipierte, innerhalb der die Nutzer aber die Ordnung einzelner Abschnitte nach ihren Wünschen ändern konnten. Mit einer App lassen sich diese Übergänge nahezu nahtlos bewerkstelligen, weshalb ich mit einem iPad-Entwickler arbeitete. Je tiefer ich aber in den Entwicklungsprozess einstieg, desto deutlicher erkannte ich, wie unglaublich groß das Potenzial ist, dass die Nutzung moderner Technologie für die Weiterentwicklung des Geschichtenerzählens bietet.
Denken wir über die Backlist hinaus
Warum aber hat es die von mir beschriebenen Innovationen bisher noch nicht gegeben? Tatsächlich wurden bereits eine Reihe sehr interessanter Apps herausgebracht, die auf literarisch interessierte Leser zielen. So war etwa die von Faber veröffentlichte App zu T.S. Eliots "The Waste Land“ (dt.: "Das wüste Land“) nicht nur ein Erfolg beim Publikum, sondern rechnete sich auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Auch zu Shakespeares Sonetten hat Faber jüngst eine App produziert. Und wenn es sich dabei auch durchaus um bemerkenswerte Applikationen handelt, mit einer sehr guten Benutzeroberfläche und tollen Funktionen, so können wir uns nicht damit begnügen, die Backlist zu plündern. Alte Werke neuen Formaten anzupassen ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch kann darin nicht die Zukunft liegen. Es muss Originalstoff erdacht werden, von Autoren, die sich der Möglichkeiten des Digitalen bewusst sind – und das bereits, bevor sie mit dem Schreiben beginnen; sonst bleiben wir auf Verleger angewiesen, die sich erst danach Gedanken dazu machen. Und nicht zuletzt sollten sich die Autoren all dieser Möglichkeiten auch zu bedienen wissen.
Etwas anderes, das bisher die digitale Innovation behinderte, ist die Verwechslung der Rollen. Wer soll was tun? Wenn ein Schreiber schreibt und ein Verleger verlegt, lässt dies eine Menge Lücken, die noch auszufüllen sind. In einem Blogeintrag bei Nosy Crow, einem erfolgreichen britischen App-Entwickler für Kinder, wird das Kreieren von Apps als "höchst kollaborativer Prozess“ beschrieben, als "technischer Prozess“ und schließlich als "neuer Prozess“.
Hinzu kommen so profan klingende Dinge wie die Preisgestaltung, digitales Rechtemanagement, Rechtsfragen und Unsicherheiten hinsichtlich der neuen Formate; all dies sorgt für eine weitere Verschleppung der Entwicklung. Und doch denke ich, dass diese Probleme durchaus zu bewältigen sind.
Es braucht einen neuen Namen
Ein weiteres Problem besteht ironischerweise in der Sprache. Wie nennen wir diese neuen Formen? Ist eine App, die ein Roman ist, ein "Buch“? Das kann nicht sein, da es ja kein gedrucktes Artefakt ist. Auch diesen Roman eine App zu nennen, ist kaum hilfreich, da es – selbst wenn es technisch korrekt sein mag – Millionen anderer Apps gibt, bei denen es sich nicht um einen Roman handelt (dass wir eine digitale Edition von "Krieg und Frieden“ mit dem gleichen Terminus belegen wie das Spiel "Angry Birds“, zeigt, dass beide unter einem falschen Begriff firmieren).
Ich glaube, dass selbst das Wort "E-Book“ ein irreführender Begriff ist. Ein Buch ist etwas mit einer physischen, greifbaren Form und E-Books sind virtuell, eine Reihe von Nullen und Einsen. Musik wurde ja auch nicht das Label "E-CD“ oder "E-Schallplatte“ aufgedrückt. Doch gibt es hier einen Unterschied in den Kunstformen selbst. Musik wird nach dem benannt, was es aus sich selbst heraus darstellt, während das Wort für Bücher immer mit seiner physischen Form verbunden war. Als es deshalb darum ging, einen Namen für die jeweiligen digitalen Versionen zu finden, ging für die Musik bei der Übersetzung nichts verloren (an "digitaler Musik“ klingt nichts seltsam), während dies beim Buch anders aussah (die Idee eines "digitalen Buches“ ergibt wenig Sinn). Nicht, dass irgendjemand direkt Schuld hieran trüge: Verleger, Agenten, Technologieunternehmen, wir alle haben an der Geschichte mitgewirkt. Doch nun, ein Dutzend Jahre später, befinden wir uns in einer Situation, in welcher der Name, den wir dem Kind gaben, immer weniger Sinn ergibt.
Einen ähnlichen Moment gab es vor 100 Jahren, als Autos als "pferdelose Wagen“ betitelt wurden. Wären sie weiterhin so genannt worden, hätte jeder, immer wenn der Name gefallen wäre, an ein Pferd gedacht und es wohl auch vermisst. Dies ist genau das Problem mit dem E-Book: Der Name selbst lädt dazu ein, es mit einem Format zu vergleichen, dessen Entwicklungsvorsprung um die 500 Jahre beträgt.
Inkle Studio ist ein Start-up-Unternehmen aus Großbritannien, das "nicht-lineares Erzählen zum Teil des Mainstreams“ machen will.
In seinem Buch "Die Information: Geschichte, Theorie, Flut“ listet James Gleick eine Reihe bahnbrechender und wichtiger neuer Ideen auf, vom Telegrafen bis zum Quantencomputer. Bei der Beschreibung der DNA erzählt Gleick die Geschichte des dänischen Botanikers Wilhelm Johannsen, der im Jahr 1910 das Wort "Gen“ erfand.
Von solchen old terms, von alten Begriffen, ist zur Zeit auch das Publizieren belastet. Romane etwa stecken, was ihre Länge angeht, in einer Booleschen Sackgasse: Entweder es sind Romane oder es sind Erzählungen (wo aber genau der Unterschied anzusetzen ist, bleibt unklar). Wann aber hat sich diese erstaunliche Kunstform – eine, der es gelingt, Leser in die entferntesten Orte zu entführen und ihre Vorstellungskraft grundlegend zu transformieren – zu einem Entweder-Oder-Szenario gewandelt? Warum werden Autoren im Glauben gelassen, dass ihr Werk nur das eine oder andere sein kann? Die einzige Grenze in einem Roman sollte die Vision des Autoren sein, nicht die Seiten und das Cover. Irgendwo auf dem Weg hierher wurde – um einen Satz des Schriftstellers Samuel Butler zu umschreiben – der Autor zu einem bloßen Mittel des Buches, ein anderes Buch zu machen.
Kehrseiten der digitalen Welt?
Könnte es Kehrseiten der weiteren Entwicklung elektronischer Texte geben und gar der erzählerischen Singularität, für ich plädiere? Wird das Begriffsvermögen der Leser abnehmen, wenn sie sich in Bücher auf ihren elektronischen Geräten vertiefen? Einige Leute sind davon sicher überzeugt, und es handelt sich ja auch um ein Argument, das gebraucht wird, seitdem es das E-Book gibt. In "Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange?“ beschreibt Nicholas Carr die Hoffnung in den 1980er Jahren, also zur Zeit, als die ersten PCs in unser Leben einzogen, dass der Unterricht einmal mit digitalem Material statt mit Papier vonstattenginge: "Viele Lehrer waren überzeugt, dass es das Lernen erleichtern würde, wenn man auf Bildschirmen dargestellte Texte mit Hyperlinks versah. Der Hypertext, so argumentierten sie, werde das kritische Denken der Schüler stärken, da er es ihnen ermögliche, zwischen verschiedenen Ansichten hin und her zu wechseln.“
Im darauffolgenden Jahrzehnt aber zeigte eine Studie nach der anderen, dass das digitale Lesen eher zu einer Verminderung denn zu einer Stärkung des Verständnisses führte. Während sie am Computer lasen, waren die Schüler unkonzentriert, behielten weniger Informationen als diejenigen, die das gleiche Material in gedruckter Form lasen, und sie brauchten länger, um es zu lesen. Forscher, die dachten, dass diese frühen Fehlversuche lediglich Ausdruck einer gewissen Lernkurve waren und dass die Schüler (ganz zu schweigen von der restlichen Bevölkerung) schon bald eine "Hypertext-Kompetenz“ entwickeln würden, und damit solche Herausforderungen und Defizite überwinden würden, wurden eines Besseren belehrt. Und heute, weit in der Internet-Ära, zeigt eine Studie nach der anderen, dass die Nutzer dem Computer mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Text. Oder, wie es Carr ausdrückt: "Das Medium, das zur Darstellung der Worte verwendet wurde, ließ deren Bedeutung in den Hintergrund treten.“
Auch wenn ich den Wert dieser Studien nicht per se in Abrede stellen will, so finde ich sie dennoch nicht überzeugend genug, um einem Verzicht auf eine breit angelegte Nutzung elektronischer Texte das Wort zu reden. Und dies vor allem deshalb, weil, auch wenn das Lesen auf Papier besser sein mag als das auf dem Bildschirm (wenn es um das Verständnis des Textes geht), es sich dabei nicht um eine Wahl handelt, die Menschen immer haben.
Ich lese an jedem Tag ein Dutzend Zeitungsartikel, Reportagen, Interviews und Rezensionen. Ermöglicht wird dies durch das Internet und meine verschiedenen elektronischen Geräte, die mit ihm verbunden sind; mit der Ausnahme der "New York Times“ und ein oder zwei Magazinen, die ebenfalls New York im Titel tragen, nutze ich Publikationen, zu denen ich keinen Zugang hätte, würde ich sie als physisch greifbare Exemplare abonnieren wollen. Das Lesen digitaler Inhalte macht meine Welt unendlich viel größer, als wenn ich darauf beschränkt wäre, alles nur in der Druckfassung lesen zu können und dies gilt, denke ich, für die meisten Menschen. Und wenn ich hierbei ein paar Prozent meines Verständnisses einbüßen sollte, weil ich es auf dem Bildschirm und nicht in gedruckter Form lese, soll es mir recht sein. Wenn ich schließlich nur die Wahl habe, etwas elektronisch oder gar nicht zu lesen, entschiede ich mich immer für das elektronische Lesen.
Und diese Abwägung gibt es bei allen Medien. Ja, Musik klingt besser auf Vinyl als per MP3, doch habe ich online so viel einfacheren Zugang zur Musik, als wenn ich es per Post bestelle und manchmal Wochen auf die Lieferung warten muss. Und man darf nicht vergessen, dass ja Vinyl selbst auch schon einen Kompromiss darstellt; vor 200 Jahren konnten die Menschen Musik nur hören, wenn sie direkt live vor ihnen gespielt wurde. Ich bin sicher, dass das aufregend war, habe aber keinen Platz für einen Flügel in meinem Wohnzimmer.
Das Gleiche gilt für Filme. Ich würde gern jeden Film in einem großen Kino sehen, mit dem vollen Sound, aber das ist unmöglich. Deshalb begnüge ich mich mit DVDs auf meinem Flachbildschirm und bin, wenn ich auf einem Langstreckenflug bin, zufrieden mit dem Mini-Bildschirm auf der Rückseite des Sitzes meines Vordermannes. Überall gehen wir Kompromisse ein. Und auch wenn ich zögere zu sagen, dass ich lieber eine wichtige aktuelle Nachricht falsch verstehe, als sie komplett zu versäumen, denke ich, dass, wenn es um Geschichten geht, wir dieses Risiko nicht eingehen können. Es geht nicht nur darum, ob wir die Buchseite dem Bildschirm vorziehen; für Millionen würde es bedeuten, gar nichts mehr zu erhalten anstatt etwas.
Ist es schon zu spät?
In seinem Buch "Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht“ spricht Jaron Lanier ausführlich über das Phänomen des "Lock-in-Effekts“ von Software. Damit meint er den Effekt, dass Nutzer sich so daran gewöhnen, dass ihre Software in einer ganz bestimmten Weise funktioniert – selbst wenn sie mit neuen Funktionalitäten viel besser arbeiten könnte – und sie damit in der Zeit „steckenbleibt“. Lanier schreibt: "Der Prozess des Lock-in gleicht einer Welle, die unablässig über das Regelwerk des Lebens hinwegstreicht und die Vieldeutigkeit flexiblen Denkens abschleift, während immer mehr Denkstrukturen sich zu einer dauerhaften Realität verfestigen.“
Ich frage mich, ob es nicht genau das ist, was auch mit der Literatur geschieht. Ist es schon zu spät? Ist der "Lock-in-Effekt“ nicht auch bei der Vorstellung darüber, was ein Buch oder ein Roman ist, in den Köpfen der Leser zu erkennen? Und ist es so nicht eine vergebliche Hoffnung, sie dazu zu bringen, sich etwas Neuem zu öffnen? Falls ja, wäre es sehr schade, denn die Geschichte des Romans ist eine der Innovation und des Wandels. Vom Briefroman bis zum Bewusstseinsstrom hat sich die Form des Romans – über Hunderte von Jahren – entwickelt. Ist es so abwegig, sich zu wünschen, dass sie sich ein weiteres Mal verändert? Oder ist es, wie ich es bereits andeutete, letztlich nur eine Frage der Terminologie, und wir brauchen lediglich einen neuen Namen für den digitalen Roman-Hybrid, den ich anrege?
Oder sind tatsächlich wir es, die "steckengeblieben“ sind? Wir lehnen es ab, unser Denken zu ändern oder uns die Literatur als etwas anderes vorzustellen, als das, was wir kennengelernt haben. Sollte dies wirklich der Fall sein, wäre es nicht nur eine Schande, sondern auch ein Versagen unserer kollektiven Vorstellungskraft.
Was Werke wie die "Odyssee“, "Alice im Wunderland“ und "Gullivers Reisen“ so wundervoll macht (und was sie über all die Jahre in unserem kollektiven Bewusstsein verbleiben ließ), ist, dass sie uns einladen, unsere Vorstellungskraft zu nutzen. Es sind Werke, in denen wir selbst unseren Platz finden. Egal, wie viele auf der Grundlage von Lewis Carrolls Klassiker basierende Real- oder Animationsfilme gedreht werden, existiert Alice erst dann, wenn wir selbst sie in unseren Köpfen erschaffen, und nur dann wird ihre Reise in den Kaninchenbau auch zu unserer eigenen Reise.
Was wir jetzt brauchen, ist ein weiterer, und vielleicht letzter Schub für unsere Vorstellungskraft. Wir brauchen Autoren, welche die sich heute bietenden digitalen Möglichkeiten nutzen, um das Erzählen neu zu erfinden; und wir brauchen Leser, die diese Erfahrungen annehmen und sich zu eigen machen. Die Alternative wäre eine Zukunft des "unrealized sound“, eine Welt, in der die Geschichten von Morgen tatsächlich die Geschichten von Gestern sind.