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In der dunklen Höhle. Zur Zukunft des Buches - Essay | Zukunft des Publizierens | bpb.de

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In der dunklen Höhle. Zur Zukunft des Buches - Essay

Petra van Cronenburg

/ 14 Minuten zu lesen

Wenn eine Schriftstellerin einen Essay über die Zukunft des Buches verfasst, müsste sie sich theoretisch nur zurücklehnen, an einem Futurologischen Kongress der Literatur in ihrem Kopf teilnehmen und alles aufschreiben. Dort laufen womöglich austauschbare Projektionsflächen von Autoren-Avataren herum, direkt vernetzt mit Social-chip-Implantaten im Hirn ihrer Leserinnen und Leser. Buchhandlungen sind zu riesigen multimedialen Vergnügungszentren geworden. Ein paar Feuilleton-Bots erscheinen in Maske und schauen irgendeiner sexy gestylten Holografie zu, die als interaktiv quatschendes und werkelndes Sterne-Kochbuch in Küchen gebeamt wird und selbstständig den Online-Einkaufszettel im Kühlschrank umprogrammiert. Oder hätte sich das "gute alte Buch“ wie ein Steampunk-Objekt irgendwann aufgrund einer globalen Stromknappheit wieder durchgesetzt?

Etwas kopflos tappen wir derzeit wie in einer dunklen Höhle zwischen E-Books und Papierbüchern umher und streiten, wo Geschichten stattfinden sollen: draußen zum Anfassen oder als flüchtige Projektion auf der Höhlenwand. So viele Wege gabeln sich in dieser Höhle – welcher wird der vielversprechendste sein? Befinden wir uns womöglich auf einem Weg "zurück“ in die Zukunft, hin zu den Ursprüngen des Erzählens, hin zum Erzählmenschen, für den das herkömmlich gedachte Buchkonzept gar keine Rolle spielt?

Der große Umbruch

Die gesamte Buchbranche befindet sich weltweit in einer Umbruchsituation: Schöpferinnen und Schöpfer, Verlage, Distributoren, Handel, Leserinnen und Leser proben ein neues Rollenverständnis und Zusammenspiel. Während dieser Essay getippt wurde, eröffnete Amazon seinen Kindle-Shop in Indien und führte in den USA das Abonnement von Kindle Serials zum Pauschalpreis ein. Amazons E-Book-Verkäufe überholten erstmals auch in Europa die Verkäufe an gedruckten Büchern. In Deutschland hat sich der E-Book-Markt nach sechs Monaten zum Vorjahr insgesamt verdoppelt. Kobo wird mit seiner Self-publishing-Plattform nun auch in Europa zum Konkurrenten von Amazon und Apple. Während in der "New York Times“ die absolut gleichberechtigt behandelten self publisher die Bestsellerlisten stürmen, kommt auch die deutsche Fachpresse langsam nicht mehr um die Bestsellerautorinnen und -autoren im self publishing herum, obwohl diese in den offiziellen Bestsellerlisten weiterhin nicht eingerechnet werden. Sieben deutschsprachige Self-publishing-Titel halten sich im Sommer in den Kindle Top Ten, 49 in den Top 100.

Im englischsprachigen Raum mischt Penguin Books die Vorstellung von einem Verlag auf: Ohne Berührungsängste wurde für 116 Millionen Dollar die Vanity-Firma Author Solutions gekauft, um eine Self-publishing-Plattform zu kreieren. Letzteres machen zwar Holtzbrinck mit Epubli und Droemer Knaur mit Neobooks in Deutschland schon länger, aber noch nie zuvor hat sich ein etablierter seriöser Verlag derart offen mit einem Bezahlverlag verknüpft. Die Leserschaft fragt längst nicht mehr nach hoheitlichen Definitionen von Büchern: Kurze Handyromane aus Asien werden genauso als Buch wahrgenommen wie ein in Deutschland verkaufter 1.000-Seiten-Klotz aus Papier. Wer ein Smartphone oder ein Tablet besitzt, kommt längst in den Genuss von Apps, die das Buch multimedial aufbrechen und mit Elementen aus der Spielewelt, dem Film oder mit praktischen Anwendungen durchsetzen. Es erscheint sogar eine zum Deutschen Buchpreis.

Die Stimmung bleibt dennoch gespalten. Da sind die einen, die das herkömmliche Buch wie eine bedrohte Art betrachten und zu seinem Schutz gegen jede Veränderung anrennen. Sie fürchten vor allem drei Faktoren: den Durchbruch digitaler Technologie, die Gleichberechtigung von self publishing mit herkömmlichen Verlags- und Handelswegen sowie eine mögliche Verlagerung des stationären Buchhandels in die Hände weniger großer Internetkonzerne. Und da sind die anderen, die sich vor allem auf die Chancen und nicht immer unproblematischen Herausforderungen einer künftigen Vielfalt konzentrieren: neue technische wie literarische Formen, aber auch eine Veränderung der Veröffentlichungswege und Durchdringung unterschiedlicher Geräte mit Inhalten unterschiedlicher Medien. Auch wenn das Papierbuch, wie wir es kennen und lieben, womöglich nie untergehen wird – es hat bereits Geschwister bekommen, die nicht weniger liebenswert sind.

Das E-Book setzt sich durch

Seit E-Books zwischen 2004 und 2006 mit der Verbreitung erschwinglicher Lesegeräte zunächst in den USA zu einem ernstzunehmenden Branchenfaktor geworden sind, spricht man von der größten Revolution in der Buchwelt seit Gutenberg. Dabei ist das E-Book erstaunlich "alt“. Seine Geschichte, die man bis ins Jahr 1949 zurückverfolgen kann, ist eng mit der Entwicklung der Computertechnologie und den frühen Bemühungen um Hypertext-Konzepte des world wide web verknüpft. Erste Vorformen von E-Books wurden deshalb nicht von der Buchbranche, sondern in wissenschaftlichen Instituten und unter Beteiligung der amerikanischen Navy entwickelt, die dringend elektronische Handbücher brauchte. Schon in den 1960er und 1970er Jahren manifestierten sich Ideen, wie wir sie heute von Apps kennen. Das sogenannte FRESS-Hypertext-System, das Professor Andries van Dam an der Brown University in Providence auf IBM-Umgebung entwickelte, war für die Lehre konzipiert: Es ging darum, Inhalte so dynamisch zu formatieren, dass unterschiedliche Nutzer sie mit unterschiedlicher Hard- und Software anschauen konnten und nicht nur Zugang zu automatischen Verzeichnissen hatten, sondern auch zu Grafiken und reichhaltigen externen Vernetzungen durch Links.

1971 tippte Michael S. Hart im Rechenzentrum der Universität von Illinois den Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung als elektronisches Dokument ein. Der Test war ein Meilenstein: Hart gründete in den USA das Projekt Gutenberg, um rechtefreie Literatur zu digitalisieren und damit weltweit und kostenlos verfügbar zu machen. Bereits 1988 veröffentlichte William Gibson das erste käufliche elektronische Buch – seinen Roman "Mona Lisa Overdrive“. In den 1990er Jahren herrschte mit der zunehmenden Verbreitung des Internets in normale Haushalte eine ungeheure Aufbruchstimmung und Investierfreudigkeit vor allem in der englischsprachigen Welt. Als 1992 Charles Stacks mit seinem Book Stacks Unlimited die erste Internetbuchhandlung der Welt gründete, wurden dort ebenso ausschließlich physische, gedruckte Bücher gehandelt wie bei Amazon, das drei Jahre später den Nerv der Zeit traf. Gedruckte Bücher boomten durch die neue Handelsmethode und die Verbreitung des Internets wie nie zuvor.

Der erste Hype um das E-Book platzte allerdings ebenso schnell wie die New-Economy-Blase. Lesegeräte wie Rocketbook oder Softbook waren für das normale Publikum viel zu teuer und unhandlich. In Europa fehlte es völlig an mit den USA vergleichbaren Strukturen: vom E-Book-Verlag über den spezialisierten Buchhandel bis hin zu sicheren Bezahlsystemen. Das E-Book erreichte seine Kundinnen und Kunden nicht – die einzigen nachhaltig funktionierenden Systeme jener Zeit sind tatsächlich die Tauschbörsen gewesen. 1997 endlich wurde die Firma gegründet, die ein Jahrzehnt später das elektronische Lesen revolutionieren sollte: die E Ink Corporation. Die Idee, eines Tages so etwas wie „virtuelle Tinte“ auf papierähnlichem Untergrund zu erfinden, klang noch nach echter Science Fiction. Anfang des 21. Jahrhunderts setzte dann der ersehnte technologische Innovationsschub ein: 2004 brachte Sony den Reader Librie Ebr-1000ep auf den japanischen Markt, 2006 folgen die ersten E-Ink-Reader auf dem Weltmarkt, im Jahr darauf Amazons erster Kindle. Der Siegeszug des E-Books ist seither nicht mehr aufzuhalten. Denn jetzt ist die Hardware erschwinglich, das Lesen durch adaptierbare Schriften sogar noch augenfreundlicher als auf Papier, der Download kinderleicht und allen Internet-Nutzern zugänglich. Die Geräte verbessern sich rasend schnell, nur ein einheitliches Format fehlt noch.

Self Publishing: Der Markt öffnet sich

Publizieren speziell für E-Reader macht Arbeitsschritte wie Buchsatz und Buchdruck, aufwändige Logistik und Lagerung überflüssig. Dadurch wird das Veröffentlichen für Menschen, die Verlage umgehen wollen, bezahlbar, einfach und vor allem schnell. Druckkostenzuschussverlage und Vanity Press braucht keiner mehr, also können blutige Laien ihre Texte in die gleichen virtuellen Regale einstellen wie Verlage. Es gibt unter self publishers aber genauso Buchprofis oder auch Verlagsautoren, die ihre Backlist selbst neu auflegen wollen, die ihre E-Book-Rechte lieber selbst verwerten, oder die sich aufgrund der Struktur des neuen Markts allein einen gezielteren Abverkauf und aktuellere Veröffentlichungen ausrechnen. Literarische Experimente und verlegerische Wagnisse lassen sich auf diesem Wege austesten.

Die großen Online-Händler haben die Chance erfasst: Self publishing ist ein wichtiger Markt geworden. Während sich das deutsche Feuilleton noch grämt, dass die Kultur des Abendlandes dadurch gefährdet sein könnte, weil nun wirklich jeder fehlerhafte und schlechte Bücher in die gleichen Läden stellen dürfe wie Verlage, hat sich das self publishing in anderen Ländern längst professionalisiert. Es ließe sich aus umgekehrter Perspektive also durchaus fragen, ob wir nicht vor einer neuen Bildungswelle stehen. So wie einst durch Gutenbergs Buchdruck das einfache Volk und die Frauen zum Lesen fanden, weil Bücher verweltlicht und verbilligt wurden, könnte die Verbreitung einfacher Do-it-yourself-Ware in den Charts dafür sprechen, dass bisher buchferne Internet-Nutzer plötzlich zu Büchern finden. Es bliebe zu untersuchen, ob hier nicht bisher vom gedruckten Buch und vom offiziellen Literaturbetrieb ausgeschlossene Bildungsschichten das E-Book für ihre Interessen lesend wie schreibend erobern.

Neue Formen: Das Buch öffnet sich

Auf der Leipziger Buchmesse 2011 erschien das "EinBuch“ des österreichischen Künstlerkollektivs um Miba Eisbraun alias Michael Braunsteiner und Barbara Eisner in seiner transmedialen Bündelung von Literatur und bildender, darstellender wie angewandter Kunst noch wie ein Science-Fiction-Objekt. Es lässt sich nicht aufblättern: Dieses Buch nebst Fortsetzungen wird inszeniert, fotografiert, aufgeführt, gefilmt, hergestellt, es ist eine kunstvoll demontierbare Installation ebenso wie ein sich verändernder Datenstrom im Internet. Die "Skulptur Buch“ in Einerauflage, bedruckt mit einem Cover und einer einzigen Seite, enthält eine exklusive DVD und wird als Preziose verkauft – während der Text und die zu einem Trailer verkürzte Performance kostenlos millionenfach im Internet abrufbar und teilbar sind. Ein wenig ist hier die Zukunft des Buches schon zu spüren: Neben der Durchdringung unterschiedlicher Medien und Künste wird sich die Vorstellung von Autorenschaft und Verlegerschaft verändern und sicher ungewöhnliche neue Bezahlformen für die Schöpfer erfordern, von denen die Idee des crowdfunding erst der Anfang sein dürfte.

Ein Jahr später wird sichtbar, dass sich überall dort kreativ Neues entwickelt, wo die Schöpfer Print und Digital, physisches Buch und Virtualität, linearen Text und transmedia nicht mehr getrennt voneinander wahrnehmen. Große Verlage experimentieren mit sogenannten enhanced E-Books, die oft noch daran kranken, dass sie nicht eigens für ein neues Medium konzipierte Geschichten erzählen, sondern mit recht konventionellen Mitteln Lesestoff lediglich mit Multimedia-Inhalten "aufpeppen“. Es ist nicht so, dass herkömmliche Romane oder lineares Lesen durch die neuen technischen Entwicklungen obsolet würden, lediglich die Vielfalt von Erzählmöglichkeiten nimmt zu.

Natürlich befruchtet moderner Mediengebrauch auch umgekehrt die Literatur in gedruckten Büchern. Der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk gelang bereits 2007 mit "Unrast“ (dt.: 2009) eine sehr eigene, collagenhafte literarische Erzähltechnik, die an die assoziationshafte Logik des Internetsurfens erinnert. Als in Japan die Handyromane boomten, entwickelte sich eine völlig neue Form von rasanten, kurzen, im Ton sehr jungen Serials. Was man eigentlich nur im Netz vermutet, wird kurioserweise auch gedruckt und zwischen zwei Pappdeckeln verkauft: Mit Mailromanzen (Daniel Glattauer: "Gut gegen Nordwind“) und Blogromanen (Rainald Goetz: „Abfall für alle“) fing es an, es folgten SMS-Bücher und die "Twitteratur“. "Twitteraten“ klopfen online in maximal 140 Zeichen zählenden Tweets Sprüche oder "tweeten“ fortlaufende Geschichten in Echtzeit. Sie überführen die Texte in E-Books und gedruckte Bücher und veranstalten Twitterlesungen, die zum Event mit anderen Künstlern werden (zum Beispiel Jan-Uwe Fitz, Ute Weber, Florian Meimberg, Anousch Müller). Andersherum veröffentlichte die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jellinek bereits 2007 bis 2008 ihren "Privatroman Neid“ kapitelweise kostenlos und ausschließlich auf ihrer eigenen Webseite.

Echte transmediale Projekte entstehen derzeit eher "von unten“ in eigens dafür gegründeten Kooperationen. "Das Wilde Dutzend“ in Berlin vereinigt eine Luxusmanufaktur sowie E-Book und Non-Book mit Events und der Beteiligung von Fans zu echtem transmedia storytelling. Neben interaktiven Aktionen, Ausstellungen, Vorführungen und einem Blog betreibt eine fiktive "literarische Detektivin“ einen realen Salon. Das Experiment "The Gates“ in Zusammenarbeit mit Flickr und dem Institute for the Future of the Book entfernt sich noch weiter vom Textmedium und versucht, über visual literacy das kollektive Gedächtnis zu erforschen. Fotos werden von Teilnehmern unter dem Tag gatesmemory bei Flickr gesammelt und mit dem Bookmarkdienst Delicious und einem Blog vernetzt. So sollen virtuelle Archive und Räume geschaffen werden, die durch Tätigkeiten wie Aktualisieren, Bewerten und Erinnern Inhalte in Bewegung bringen sollen. In Ruhephasen wird das Projekt überarbeitet, bevor es wieder neu wachsen kann.

In diesen Beispielen wird deutlich, dass sich Autorenschaft neu definiert. Transmedia storytelling ist von einer Einzelperson nicht nur kaum zu bewältigen, es lebt vor allem durch die Einbindung des früher nur passiv konsumierenden Publikums. Was beim Schreiben im Elfenbeinturm nur hinderlich wäre, ist hier ausdrücklich erwünscht: Teilhabe, Inspiration und Wissenstransfer von außen, Fortentwickeln einer Geschichte oder eines Themas, Kopie und Übertragung, Variation und Abwandlung. Weil das gültige Urheberrecht solche offenen kollaborativen Formen eher erschwert, werden die meisten dieser Projekte unter Creative-Commons-Lizenz gestellt. Die Diskussion um ein modernes Urheberrecht wird in Zukunft also nicht mehr nur aus einem Angstansatz geführt werden dürfen, wie er die Diskussionen um „geistigen Diebstahl“ beherrscht, sondern vor allem im Sinne einer fortschrittlichen Künstlerschaft. Diese sucht verlässliche und vor allem Kunst nicht behindernde Wege, wenn sie Kollaboration und den Teilungsgedanken von social media in ihre Arbeit integrieren will, und sich das statische "Werk“ immer weiter zum offenen "Prozess“ entwickelt.

Aber auch Herausgeberschaft und das "Verlegen“ verändern sich – hin zu multimedialen Produktionsfirmen, zu losen Kooperationen für jeweils ein Projekt, zu Arbeitsgemeinschaften von Dienstleistern, die auf Augenhöhe offen sind fürs Publikum. Mit wachsender Teilnahme solcher Zulieferer und Laien kommt eine neue Aufgabe ins Spiel: das Kuratieren von Inhalten. Kuratoren, die all die unterschiedlichen Beteiligten, Medien und Inhalte zu einem erfolgreichen Projekt zusammenführen können, dürften in Zukunft zu einem neuen Berufsbild werden.

Vor allem im englischsprachigen Bereich von Forschung und Lehre sind diese neuen "offenen Buchprojekte“ beliebt. Sie vereinen kollaboratives Lesen und Schreiben mit einem Prinzip, das der O’Reilly Verlag 2006 mit seinen rough cuts vorgedacht hat: Scheibchenweise werden sehr aktuelle, bahnbrechende Inhalte vorveröffentlicht. Beim "Networked Book“ des Professors für Kommunikation Noah Wardrip-Fruin beispielsweise werden neben der Federführung des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) handverlesene akademische Peers mit der Online-Community Grand Text Auto vernetzt, einem populären Multiautorenblog, dem auch nichtakademische Spezialisten zum Thema angehören. Es geht darin um digitale Fiktion, Computerspiele und Software-Studien. Man setzt vor allem auf den interdisziplinären Dialog im Blog, wo Forschungskonzepte und Ergebnisse oder Informationen zwischen Industrie, Wissenschaft, Kunst und Allgemeinheit geteilt werden können, die so nie in etablierte Konferenzen finden würden. Das in Echtzeit fortgeschriebene interaktive Buch, bei dem sich Autoren- und Leserschaft in ihren Eigenschaften überschneiden, wird damit zu einem wichtigen Think Tank und Zukunftsmotor. Zwar fungiert die MIT Press noch als gatekeeper, doch gehen die Inhalte und der Arbeitsweg frei von marketingorientiertem Zielgruppendenken aller Beteiligten aus.

Alles nur schön bunt?

Die alte Kernfrage, ob Digitales Print töten wird, ist bereits überholt. Neben der billigen E-Volksausgabe ist die limitierte Luxusausgabe im Print sogar wahrscheinlich. Die in die Zukunft weisende Frage muss ganz anders lauten: Wie gehen wir mit einer weltweit extrem auseinanderdriftenden Zweiklassengesellschaft um: den Menschen mit digitalem Anschluss und denen ohne? Wer wird künftig Zugang zu Informationen und Inhalten haben und wer oder was wird diesen Zugang verteilen, filtern oder gar zensieren? Presse hat einen Auftrag, Literatur ist ein Kulturgut: Wie stellen wir sicher, dass alle Menschen gleiche Chancen haben?

Neben Fragen, wie sich Daten sichern und auf neue Systeme konvertieren lassen, stehen wir auch vor dem Problem, dass sich digitale Inhalte sehr viel unauffälliger zensieren und willkürlich verändern lassen als das bemerkbarere Verbot eines gedruckten Buches. Als Amazon vor drei Jahren ohne Vorankündigung ausgerechnet George Orwells Roman "1984“ seinen Lesern vom Kindle löschte, war ein Präzedenzfall geschaffen. Was aber passiert, wenn wir eines Tages unsere Bibliotheken nicht mehr in der eigenen Wohnung oder in kommunalen und wissenschaftlichen Einrichtungen sichern würden, sondern in einer cloud, die potenziell allen möglichen Manipulationen zugänglich wäre? Sind wir künftig wirklich die unüberwachten, freien "Besitzer“ unserer Inhalte?

Wie lösen wir künftig die Ressourcen- und Energiefrage? Noch schieben wir beim Gebrauch unserer Smartphones Themen wie Kinderarbeit, ökologisch und menschlich desaströse Verhältnisse bei der Rohstoffgewinnung und das Müllproblem in die Dritte Welt ab. Wann wird der erste Reader, der sich 2011 wie ein Science-Fiction-Gerät anfühlte, Müll sein? Und wohin in Zukunft mit all dem Datenmüll? Noch haben wir das Web nicht gelehrt, zu vergessen. Wird es so kommen, wie manche prophezeien, dass sich das Internet womöglich verlangsamen könnte, oder dass wir ernsthafte Probleme mit der Stromversorgung bekommen könnten? Die Geschichte von Texten ist immer auch eine Geschichte des Vergessens und Überlieferns. Früher erhofften sich Autoren durch ihre Werke Unsterblichkeit. Könnte der Wunsch der Zukunft genau das Gegenteil sein: der Traum von der Depublikation, das Verlangen nach Vergessen?

In unserer dunklen Höhle sind wir sind im Moment dabei, ein multimediales Lascaux zu erschaffen. Was derzeit mit der Öffnung von Autoren- und Leserschaft und der Verbindung unterschiedlicher medialer Ausdrucksformen geschieht, nähert sich an den Urkern des Erzählens an, wie es schon die Urmenschen gekannt haben müssen: Eine Geschichte will weitergegeben werden. Aber sie wird nicht zwingend nur in Sprache mitgeteilt. Wie bei den Skulpturen und Malereien steinzeitlicher Höhlen erzählen auch wir wieder zusätzlich in Bildern, binden Grafik, darstellende Künste und Film ein. Wir spielen Theater, werden zu Dramaturgen. Wie einst die Schamanen überschreiten wir eine Grenze zwischen realem und fiktivem Raum, zwischen unserer realen Persönlichkeit als Autoren und unserer Selbstinszenierung im Internet und bei Auftritten. Wir laden Gegenstände im Sinne unserer Geschichten auf, lassen andere mitspielen, kommentieren, weitergeben. Unsere Rituale in den social media wirken archaisch: Wir teilen keine Beute, aber Bilder, wir trommeln uns nicht mehr an die Brust, klappern aber laut mit Eigenwerbung. Wir lösen Emotionen nicht mehr nur mit Fiktionen aus, sondern mit unserer gesamten Kommunikation rund ums Buch. Fiktion und Realität lassen sich nicht mehr wirklich voneinander trennen, sie haben sich ineinander verflochten – in dem Moment, in dem fiktive Romanfiguren bei Facebook zu Ansprechpartnern werden oder Verlage Autoren und Übersetzerinnen erfinden. Zwischen Fiktion und virtueller Inszenierung entstehen Traumpfade wie von Ureinwohnern – gespeist aus dem Buch.

Etwas hat sich allerdings grundlegend geändert: Beim herkömmlichen Bücherschreiben sind die storyteller noch Schöpfergottheiten in einem elfenbeinernen Olymp, die allmächtig Menschen in ihre Fantasiewelten hineinsaugen. Die storyteller von heute steigen vom Olymp herab, um gemeinsam mit den Sterblichen am Lagerfeuer Geschichten zu ersinnen und zu erleben. Wenn wir ein und dieselbe Geschichte lesen, hören, sehen, spielen, träumen und erleben wollen, dann ist das eine Herausforderung so groß wie das Phänomen von Lascaux. In Lascaux wurde Bleibendes geschaffen, weil die darin erzählten Geschichten und die künstlerische Leistung des Erzählens den Menschen über Zeiten hinweg etwas zu sagen haben, weil sie Menschen tief in ihrem Inneren berühren. Diese Essenz wird auch in Zukunft ausmachen, was vom "Buch“ in jedweder Form bleiben könnte. Wohin sich das Buch entwickeln wird, hängt also in starkem Maße davon ab, wie eine Gesellschaft die Kreativen und Künstler achtet, behandelt und fördert. Und es hängt davon ab, wie frei, ungehindert und einfach das Erzählen bleiben wird.

Studium der Theologie und Judaistik; lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Frankreich; zuletzt erschienen ist "Faszination Nijinsky“. Externer Link: http://www.cronenburg.net