Die Selbstverbrennung des 26-jährigen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi am 17. Dezember 2010 war der Auslöser für Unruhen, die sich unter Verwendung moderner Kommunikationstechniken spontan an verschiedenen Orten in Tunesien entwickelten und sich zu einer Revolution ausweiteten. Sie wird als "Jasminrevolution" in die Geschichte eingehen.
Am Ende waren aufgrund des Vorgehens der Sicherheitskräfte hunderte Tote zu beklagen. Die Wende wurde eingeleitet, als sich Generalstabschef Rashid Ammar am 13. Januar 2011 weigerte, die Armee auf Demonstranten schießen zu lassen. Das Schicksal des 74-jährigen Staatsoberhaupts Zine el-Abidine Ben Ali wurde nach 23 Regierungsjahren besiegelt, als ihn am folgenden Tag auch der Chef der Nationalgarde fallen ließ und ihn damit zur Flucht veranlasste. Obwohl die Bezeichnung "Revolution" aufgrund der Ereignisse gerechtfertigt ist, muss die Rolle der Sicherheitskräfte als ebenso entscheidend hervorgehoben werden. Daher kann mit gleicher Berechtigung von einem Putsch gesprochen werden: "For the success of the revolutions the two things - the uprising and the readiness to mount a coup - had to come together."
Herausforderungen
Aufgrund des Erstarkens islamistischer
Was die Sicherheitslage anbelangt, gibt nicht nur die Lage im Nachbarland Libyen Anlass zur Sorge. Es werden nach offiziellen Angaben von dort auch immer wieder Söldnerbanden und Waffen nach Tunesien eingeschleust. Bezüglich Algerien unterstellte jüngst der tunesische Interimspräsident Faoud Mebazaa in einem Gespräch mit Journalisten, der Nachbar ginge nicht wirksam gegen Freischärler vor, die aus Algerien nach Tunesien einsickern. Implizit war dieser Feststellung, dass das Land kein wirkliches Interesse am Erfolg der tunesischen Revolution habe. Im Umfeld gewalttätiger Zwischenfälle sind häufig Todesfälle zu beklagen. Dabei steht die Interimsregierung immer in der Kritik: Die einen werfen ihr vor, zu wenig für die Sicherheit zu tun, die anderen, dass sie die Praktiken und Polizeistaat-Methoden des alten Regimes fortführe. Im Fokus der Kritik steht vor allem das Innenministerium, wo alte Seilschaften des Ben Ali-Regimes weiterhin die Fäden zögen.
Diese Kritik wird auch an der bisher schleppenden bis gar nicht stattfindenden Aufarbeitung der Ben Ali-Ära geübt. Vor allem im Justizsektor hat sich bislang wenig geändert. Viele Tunesierinnen und Tunesier haben das Vertrauen in die Justiz verloren, vor allem nach der Freilassung ehemaliger Regierungsmitglieder und der Straflosigkeit, die ehemaligen Beamtinnen und Beamten gegenüber praktiziert wird. Luft macht sich dieser Vertrauensbruch in teilweise gewalttätigen Demonstrationen für eine unabhängige Justiz und für einen Bruch mit dem alten Regime. Auch sind acht Monate nach der Revolution bei den staatlichen Medienanstalten so gut wie keine personellen und strukturellen Erneuerungen zu beobachten. Wie zu Zeiten Ben Alis wird immer noch eine mediale Ausgrenzung praktiziert. Denn trotz "Facebook-Kultur", des Entstehens von hunderten neuen privatwirtschaftlichen Presseprodukten und von privaten Radio- und Fernsehsendern wird die öffentliche Meinungsbildung nach wie vor von den staatlichen Radio- und Fernsehstationen dominiert.
Bereits vor der Revolution im Januar 2011 war vielen bewusst, dass das nach außen hin als erfolgreich dargestellte authoritarian developing regime
Aber diese negativen sozioökonomischen Umstände erklären nicht hinreichend die Implosion des Ben Ali-Regimes. Es waren letzten Endes die mangelnden Zukunftsperspektiven gut ausgebildeter junger Erwachsener, welche diese Verhältnisse nicht mehr länger hinnehmen wollten und sich zunächst in vereinzelten Unruhen Luft machten. Begünstigt durch Internet und neue Medien entstand aus zunächst isolierten Einzelereignissen ein Flächenbrand, der am 14. Januar 2011 mit der Flucht Ben Alis einen vorläufigen Abschluss fand. Auf den ersten Blick mag es paradox wirken, doch ist es nicht verwunderlich, dass ausgerechnet das Vorhandensein von Entwicklungsvoraussetzungen wie gute Bildungschancen für die Bevölkerung und eine breite Internetversorgung zum Scheitern eines Entwicklungsregimes führten. Dieser Umstand unterstreicht, dass wirtschaftliche Entwicklung und demokratische Verhältnisse zwei Seiten einer Medaille sind: der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung.
Nachrevolutionäres Tunesien
Bei den politischen Auseinandersetzungen spielt immer wieder die mangelnde demokratische Legitimität der Übergangsregierung eine Rolle. Das gilt auch für die noch von der ersten Übergangsregierung eingesetzten Institutionen, um die es immer wieder politischen Streit gibt.
Mit dem Dekret für die Wahlen zur VV im Oktober 2011 wurde eine wichtige formale Hürde zur Beilegung der Differenzen genommen. Demnach können auch unabhängige Kandidatenlisten eingereicht werden. Revolutionär ist, dass alle Kandidatenlisten zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern zusammengesetzt sein müssen. Die "Lebensdauer" der VV wurde auf maximal ein Jahr festgelegt. Zu einem Problem könnte die relativ geringe Wählerregistrierung werden, die mit knapp 3,9 Million Eingetragenen bei nur etwas mehr als 50 Prozent der etwa 7 Million Wahlberechtigten liegt. Sollte schließlich die nominale Wahlbeteiligung für die VV bei unter 50 Prozent liegen, kann wieder die "Keule" der mangelnden Legitimität von den Protagonisten herausgeholt werden. Damit würde ein zentrales politisches Ziel - eine demokratisch legitimierte und repräsentative Exekutive und Legislative zu haben - verfehlt. Die im Verhältnis zur wahlberechtigten Bevölkerung niedrige Zahl der registrierten Wählerinnen und Wähler ist nicht verwunderlich, denn Tunesien hat in seiner Republikgeschichte noch niemals freie Wahlen erlebt. Auch bemühen sich die politischen Parteien kaum, die Bevölkerung aufzuklären. Inzwischen gibt es 106 bei der Wahlkommission registrierte Parteien aller Schattierungen. Doch haben nur wenige ein überzeugendes konzeptionelles Parteiprogramm vorzuweisen, welches konsequent eine Staats- und Gesellschaftsidee verfolgen würde - vom Auftrag zur politischen Bildung ganz zu schweigen. Diese wäre aber gerade in der jetzigen Situation bitter nötig.
Mit der Frage des Ausschlusses der Mitglieder des ehemaligen Regimes - laut Hoher Instanz sollten zwischen 12000 und 14000 Personen das aktive und passive Wahlrecht entzogen werden - entflammte sich die Auseinandersetzung über den Bruch mit dem alten Regime und der Rolle ihrer Vertreter im neuen Tunesien. Neben den Diskussionen über das Verhältnis zwischen Staat und Religion (und des Einflusses der Islamisten) ist dies nach wie vor die beherrschende politische Frage. Ihr liegen auch die teilweise in Gewalt umschlagenden Demonstrationen zugrunde. Ohne eine politische Aufarbeitung der Ära Ben Alis wird es schwer sein, weitere substanzielle politische Veränderungen in Tunesien herbeizuführen.
Gegenwärtig muss das "junge Pflänzchen" der tunesischen Demokratie grundlegende politische Richtungsentscheidungen moderieren. Das sind keine guten Voraussetzungen für die politische Zukunft des Landes. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Repräsentation der Bevölkerung durch die politischen Gruppierungen eher skeptisch zu beurteilen: Obwohl sich gegenwärtig einige aus wahltaktischen Gründen zu Gruppierungen zusammenschließen, führt die große Anzahl politischer Parteien eher dazu, dass die Bevölkerung überfordert ist, eine informierte Wahl zu treffen. Neben einer robusten wirtschaftlichen Unterstützung zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit wird eine fortgesetzte, landesweite politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit nötig sein. Denn die Wahl zur VV ist die erste einer Serie von Urnengängen. Neben Kommunalwahlen sind hier vor allem die nach der Verkündung der neuen Verfassung fälligen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu nennen.