In einer von Konflikten zerrütteten Region galt das Haschemitische Königreich Jordanien vor dem Aufkommen des "Arabischen Frühlings" als überaus stabil. Es teilt seine Grenzen mit Israel, dem Westjordanland, Ägypten, Irak sowie Saudi-Arabien und schien bislang eine gewisse Immunität gegen die Umbrüche in der Nachbarschaft aufzuweisen. Stellen die Proteste in Ländern wie Ägypten, Tunesien oder Syrien den Vergleichspunkt dar, wirken die politischen Verhältnisse in Jordanien in der Tat nach wie vor sehr beständig. Diese Einschätzung muss relativiert werden, wenn die jordanische Geschichte als Bezugspunkt herangezogen wird. Für jordanische Verhältnisse sind die anhaltenden Proteste und Forderungen der Opposition bemerkenswert und zeichnen ein differenziertes Bild, welches die Vorstellung eines bedingungslos stabilen Jordaniens bröckeln lässt.
Jordanien verfügt kaum über natürliche Ressourcen. Entsprechend hoch ist die externe Abhängigkeit der jordanischen Wirtschaft. Zahlreiche Reformen und Fördermaßnahmen haben in den vergangenen Jahren das Investitionsklima verbessert und ausländische Direktinvestitionen gesteigert. Das jordanische Wirtschaftswachstum lag im Jahr 2010 trotz der globalen Finanzkrise bei 3,1 Prozent. Besonders wichtig für die jordanische Wirtschaft ist der Tourismussektor, welcher der zweitgrößte Arbeitgeber im Privatsektor ist und rund 20 Prozent des jordanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht. Es ist vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, in welcher die wirtschaftliche Unzufriedenheit vieler Jordanier begründet ist. Derzeit liegt die Arbeitslosenquote bei 13 Prozent, die Hälfte der arbeitslosen Bevölkerung kann einen höheren Schulabschluss vorweisen. Besonders problematisch ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit: Über 30 Prozent der Arbeitslosen sind jünger als 24 Jahre. Nichtsdestotrotz schneidet Jordanien beim Wohlstandsindex der Vereinten Nationen im regionalen Vergleich verhältnismäßig gut ab: Der "Human Development Index" erfasst dabei nicht nur das Pro-Kopf-Einkommen, sondern auch die Lebenserwartung und den Bildungsgrad der Bürgerinnen und Bürger eines Landes.
Das Haschemitische Königreich Jordanien ist seiner Verfassung von 1952 zufolge eine konstitutionelle Monarchie. Das jordanische Königshaus beruft sich auf seine Abstammung vom Stamm der Banu Hashim und damit auf die Familie des Propheten Muhammads, um seine Herrschaft zu legitimieren: "The King is the Head of State and is immune from any liability and responsibility." Er ist nicht nur offizielles Staatsoberhaupt, sondern auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte und ernennt den Ministerpräsidenten und den Ministerrat. Der König ernennt auch die 40 Mitglieder des Senats (Oberhaus). Die 120 Mitglieder des Abgeordnetenhauses (Unterhaus) werden in Parlamentswahlen zwar direkt vom Volk gewählt, der König kann das Parlament jedoch jederzeit auflösen und per königlichem Dekret regieren. Von dieser Möglichkeit machte er bereits vermehrt Gebrauch; zuletzt im November 2009, als er das Parlament auflösen ließ und bis zu den Parlamentswahlen im Herbst 2010 per Dekret regierte. Er begründete diese Maßnahme mit der Unfähigkeit des Parlaments, die ökonomische Liberalisierung voranzutreiben, und kritisierte gleichzeitig die zähen Entscheidungsfindungsprozesse. Die Auflösung des Parlaments wurde von vielen Beobachtern als Reaktion auf die angespannte Wirtschaftslage und die zunehmende Unzufriedenheit zahlreicher Jordanier gedeutet. Renommierten Demokratieindizes zufolge ist das politische System Jordaniens (im regionalen Vergleich) nicht sehr repressiv, insbesondere dann nicht, wenn man es mit den Regierungen des ehemaligen ägyptisches Präsidenten Husni Mubarak oder des ehemaligen tunesischen Präsidenten Ben Ali vergleicht. Der Grad politischer Freiheiten hat sich jedoch in den vergangenen Jahren verschlechtert, was insbesondere mit der königlich beschlossenen Parlamentsauflösung 2009 und der zunehmend eingeschränkten Meinungsfreiheit zusammenhängt.
Der Liberalisierungsprozess begann in Jordanien nicht erst in den vergangenen Monaten, sondern bereits 1989. Der damalige König Hussein bin Talal antwortete auf anhaltende Unruhen mit einem umfassenden Liberalisierungsprogramm, das Parlamentswahlen vorsah. Dieses fand jedoch 1993 ein jähes Ende: In den Monaten vor den Parlamentswahlen versuchte die Regierung verstärkt, den Einfluss oppositioneller Bewegungen einzuschränken. Insbesondere ein neues Wahlgesetz verfolgte das offensichtliche Ziel, vor allem den Einfluss der Muslimbrüder zu vermindern und gleichzeitig die transjordanischen und traditionell königstreuen Stämme zu stärken. Das "one man, one vote"-Gesetz zwang die Jordanier dazu, sich zwischen ihren traditionellen Stammesidentitäten auf der einen Seite und ihren ideologischen Überzeugungen auf der anderen Seite zu entscheiden. Wie abzusehen war, profitierten die königstreuen "Eastbanker" bei den Parlamentswahlen von diesem neuen Wahlgesetz, während die islamistische Präsenz im Parlament erheblich sank. Seitdem wurde die jordanische Bevölkerung immer wieder Zeuge verschiedener Reformversprechen und Reformmaßnahmen, die allerdings nicht den Kern des autokratischen Regimes berührten oder gar die Macht des Königs einzuschränken versuchten. Einige Beobachter weisen zu Recht darauf hin, dass der scheinbare Reformstillstand Jordaniens nicht ausschließlich auf Machtinteressen des Königs beruht, sondern auch die politischen Eliten des Landes eine große Rolle spielen. Es handelt sich dabei um einzelne Mitglieder der traditionell königsloyalen und einflussreichen Familien Jordaniens. Sie besetzen meist ranghohe Positionen in der Regierung und im jordanischen Geheimdienst. Der ehemalige Außenminister Marwan Muasher zeigt in einer kürzlich erschienen Studie, wie in der Vergangenheit einige Reforminitiativen des Königshauses von diesen politischen Eliten blockiert wurden. Sie haben sicherlich Einfluss auf den jordanischen Reformprozess, allerdings können auch sie sich nicht über königliche Direktive hinwegsetzen.
Jordanischer Frühling?
Seit Januar 2011 bringen regelmäßig zahlreiche Demonstranten, vor allem in der Hauptstadt Amman, friedlich ihren Unmut über die ökonomische und politische Situation zum Ausdruck. In den Klagen über wirtschaftliche Missstände wird deutlich, dass in der Wahrnehmung zahlreicher Jordanier der Staat primär die wirtschaftlichen Interessen einzelner Individuen verfolgt, statt im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln. Die wirtschaftlichen Forderungen der Protestierenden sind daher kaum von politischen Forderungen nach glaubwürdigen Volksvertretern und Mitspracherechten zu trennen. Dabei weisen die Demonstranten eine erstaunliche Heterogenität auf: Jordanier palästinensischer Herkunft ebenso wie Transjordanier, Muslimbrüder ebenso wie linke Aktivisten, Studierende sowie konservative Gruppen, die dem Königshaus gegenüber traditionell sehr loyal waren. Die Islamic Action Front (IAF) führte zahlreiche friedliche Demonstrationen an, wobei ihr zugute kam, dass sie nach wie vor die am besten organisierte Oppositionspartei ist und einen relativ hohen gesellschaftlichen Rückhalt genießt. Sie ist 1992 aus der jordanischen Muslimbruderschaft hervorgegangen und pflegte in der Vergangenheit ein eher symbiotisches Verhältnis zum Königshaus. Trotz einiger konfliktreicher Phasen, stellte sie die Legitimität des Monarchen zu keinem Zeitpunkt infrage und strebte einen eher graduellen Wandel an, während sie immer wieder ihr Bekenntnis zu pluralistischen Werten unterstrich: "We want to reform. We don't want to control everything."
Ein genauer Blick in die jüngsten oppositionellen Forderungen offenbart eine bemerkenswerte Entwicklung: Nicht nur ranghohe Vertreter der IAF fordern erstmals offen, dass der Ministerpräsident von einem gewählten Parlament bestimmt werden sollte, sondern auch säkulare Aktivisten diskutieren die Möglichkeit, die Ernennung des Ministerpräsidenten der königlichen Macht zu entziehen. Es handelt sich ohne Zweifel um eine radikale Forderung, die noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre. Noch im Februar 2011 ersetzte König Abdullah Ministerpräsident Samir Rifai durch den ehemaligen General Marouf al Bakhit, was von vielen Oppositionellen nahezu als Beleidigung empfunden wurde. Der konservative al Bakhit verfolgte bereits als Ministerpräsident zwischen 2005 und 2007 eine restriktive Politik und gilt vielen nicht als Reformer. Nachdem die Proteste in Jordanien bereits sechs Monate andauerten und den Monarchen in ernsthafte Bedrängnis brachten, kündigte König Abdullah in einer Fernsehansprache am 12. Juni 2011 politische Zugeständnisse an, die in ihrer Reichweite historische Züge annehmen können. Zentral ist die Ankündigung des Königs, zukünftig auf sein Recht zu verzichten, den Premierminister und die Kabinettsmitglieder zu ernennen. Falls am Ende des angekündigten Reformprozesses die Regierung tatsächlich von einem gewählten Parlament bestimmt werden sollte, wäre eine zentrale Forderung der Oppositionsbewegung erfüllt. Doch diese begegnen den Ankündigungen derzeit eher mit Skepsis. Da König Abdullah keinen verbindlichen Zeitplan vorlegte, zweifeln sie daran, dass die angekündigten Reformmaßnahmen implementiert werden.
Derweil erreichten die Demonstrationen im Frühjahr ein neues Gewaltniveau, als bei den Ausschreitungen am 25. März 2011 erstmals ein Mensch ums Leben kam. Zuletzt kam es am 15. Juli bei Protesten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und Regimeunterstützern, wobei 16 Menschen verletzt wurden. Laut Augenzeugenberichten kam es zu Angriffen von Polizei- und Sicherheitsbeamten auf Demonstranten. Da ein Reporter der "New York Times" von Polizisten schwer verletzt wurde, erhielt dieser Vorfall besonders hohe internationale Aufmerksamkeit.
Reform statt Revolution?
Die auch in Jordanien anhaltenden Proteste richten ihren Zorn primär gegen die Regierung und kaum direkt gegen das Königshaus, sodass zum heutigen Zeitpunkt ein Umschlagen der Proteste in revolutionäre Bewegungen unwahrscheinlich erscheint. Auch wenn sich die jordanische Monarchie als äußerst langlebig erwiesen hat, zeigten die vergangenen Monate deutlich, dass dies nicht zwangsläufig mit innenpolitischer Stabilität einhergehen muss. Die anhaltenden Proteste und Demonstrationen in den Städten Jordaniens sowie die weitreichenden Forderungen der Opposition stellen die lange vorherrschende Ansicht infrage, dass Jordanien im Gegensatz zu anderen arabischen Ländern immun gegen Aufstände und bedingungslos stabil sei. Die politische Krise Jordaniens wird nicht enden, wenn sich König Abdullah nicht glaubwürdig zu demokratischen Reformen verpflichtet, über die bisherigen unverbindlichen Ankündigungen hinausgeht und dabei einem festgelegten Zeitplan folgt. Eine langfristige Lösung kann nur darin bestehen, die Bürgerinnen und Bürger an relevanten politischen Entscheidungen zu beteiligen und Prozesse einzuleiten, die zu einer tatsächlichen politischen Liberalisierung führen.