Seit März 2011 wird auch Syrien von der Protestwelle des "Arabischen Frühlings" überrollt. Die wenigen Bilder, die aus dem Land kommen, zeichnen ein düsteres Szenario. Syriens Staatschef Bashar al Assad gelang es nicht, der Protestbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Seine politischen Zugeständnisse fielen mager aus und fanden nicht die Zustimmung der Opposition. Mittlerweile haben sich die Fronten verhärtet. Beobachter rechnen damit, dass im Falle eines Sturzes des Assad-Regimes den Anhängern massive Vergeltungsaktionen drohen und das Land auseinanderbrechen könnte. Mit Blick auf das Schicksal seiner früheren Amtskollegen in Ägypten und Tunesien wird deutlich, warum Assads Konzessionsbereitschaft kaum viel höher ausfallen kann.
Andererseits gibt es auch für die Opposition kein Zurück mehr. Zu hoch ist deren Zahl an Todesopfern, die laut Angaben von Menschenrechtsorganisationen bis Anfang September 2011 bei 2200 lag. Die Protestbewegung fordert mittlerweile auch die Beseitigung des gesamten Machtapparats, manche Aktivisten sogar den Tod des Präsidenten. Assad und seine Generäle setzen in dieser Krise verstärkt auf eine militärische Option. Das harsche Vorgehen seiner Armee begründete der Präsident mit der "hohen Zahl getöteter Sicherheitskräfte", die durch "terroristische Banden" ums Leben gekommen seien; es gehe darum, eine "Verschwörung" von Syrien abzuwenden.
Assad kann sich nach wie vor auf die Loyalität seiner Armee verlassen - und auf seine Allianzpartner, vornehmlich den Iran. Die seit Jahren bestehende Achse Damaskus-Teheran scheint sich im Zeichen der Krise zu "bewähren". Auch Moskau und Peking halten sich mit Kritik an Syrien bisher zurück. Beide Vetomächte haben vor dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) eine stärkere Isolation Syriens verhindert. Selbst der Westen, einschließlich Israel, steht möglichen Veränderungen der Machtverhältnisse in Syrien eher verhalten gegenüber. Denn trotz aller Probleme verfolgt die Regierung Assads einen säkularen Weg und galt bislang als weitgehend berechenbar.
Hintergründe der Protestbewegung
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlebten nur wenige Länder dermaßen viele Staatsstreiche wie Syrien. Erst mit der Machtübernahme durch Hafez al Assad im Jahr 1970 kam das Land oberflächlich zur Ruhe - wenn auch zu einem hohen Preis. Seine Herrschaft war streng autoritär und wurde durch seinen Sohn Bashar in ähnlichem Stil fortgesetzt. Mit Blick auf die lang anhaltenden Bürgerkriege im Libanon und später im Irak erschien dies nicht wenigen als der einzig gangbare Weg, den sozialen Frieden im Land zu stabilisieren. Assads autoritärer Stil wurde daher oftmals schlicht hingenommen.
Mit der Machtübernahme von Bashar al Assad im Jahr 2000 setzte in Syrien eine wirtschaftliche Öffnung durch beginnende Teilprivatisierungen ein. Sie brachte, gerade für Bewohner städtischer Räume, eine Verbesserung des sozioökonomischen Status mit sich. Unterprivilegiert blieben hingegen Menschen des ländlichen Raumes, darunter viele Sunniten jüngeren Alters. Letztere scheinen bis heute kaum Zukunftsperspektiven für sich zu erkennen. Die aktuelle Protestbewegung dürfte sich, neben vermuteter kurdischer Beteiligung, im Wesentlichen aus ihnen zusammensetzen. Hinzu kommt der Einfluss von Oppositionellen, die sich bislang im Ausland aufhielten und deren Stärke schwer einzuschätzen ist. Infolge der erfolgreichen Erhebungen in Tunis und Kairo sehen diese Gruppen eine Chance, ihre Interessen in die Öffentlichkeit zu tragen.
Hierbei fällt jedoch auf, dass das "Mobilisierungspotenzial" für eine Revolution in Syrien deutlich geringer ist als in Ägypten. Kaum vertreten sind etwa religiöse Minoritäten, die sich unter der Regierung Assads weitreichender Freiheiten erfreuten - sofern sie kein politisches Engagement zeigten. Auch die "Generation Facebook" zieht es in Syrien nicht auf die Straße. Dem Regime kommt zugute, dass die untere Mittelschicht in Syrien breit aufgestellt ist und daher das Potenzial Protestwilliger überschaubar ist. Gruppierungen wie etwa Palästinenser, Armenier, irakische Flüchtlinge und auch Frauen gelten in Syrien als weniger sozial benachteiligt als in Nachbarländern. So kommt es, dass Wortführer und politische "Repräsentanten" des Aufstandes bislang rar sind. Tatsächlich haben viele in Syrien Einiges zu verlieren: Besitz, Einfluss, Familie, vor allem aber die Sicherheit vertrauter Verhältnisse. Da die Protestler bisher auch keine attraktiven Alternativen anbieten konnten, wünschen sich zahlreiche Menschen, vor allem in den großstädtischen Zentren von Damaskus und Aleppo, Stabilität und ein rasches Abebben der Protestwelle.
Über Organisationsstrukturen und das operative Vorgehen der Opposition ist bislang wenig bekannt. Eine zentrale Führung oder eine Kooperation untereinander sind kaum auszumachen - sieht man von einigen Treffen der Exilopposition in der Türkei ab. Es handelt sich wohl eher um autonome lokale Gruppierungen, die unabhängig voneinander agieren und sich in Ideologie und Zielvorstellung unterscheiden. Ein erheblicher Teil dürfte sich zudem aus Anhängern der Muslimbrüder zusammensetzen. Deren geografische Hochburg Hama ist derzeit stark umkämpft. Bereits im Jahr 1982 ließ Hafez al Assad einen in Hama durch Muslimbrüder initiierten Aufruhr niederschlagen. Zwischen 10000 und 30000 Menschen sollen damals ums Leben gekommen sein. Zwar sind in der aktuellen Protestbewegung bisher nur wenige religiöse Parolen nach Außen gedrungen. Kritiker argwöhnen jedoch, dass eine machtvolle Unterwanderung durch gewaltbereite Islamisten stattgefunden haben könnte.
So verschiedenartig die Gruppierungen also sind, gibt es gemeinsame Kernforderungen wie die Aufhebung des seit 1963 (seit der Machtübernahme der herrschenden Baath-Partei) andauernden Ausnahmezustands, die Gründung von demokratischen Parteien, eine Reform der Verfassung, die eine maximal einmalige Wiederwahl des Präsidenten vorsieht, die Freilassung aller politischer Gefangener und die Bekämpfung der Vetternwirtschaft und Korruption. Assad reagierte bisher zögerlich auf diese Punkte, sowohl in der Sache als auch im Ablauf. Grund hierfür mag sein, dass ein zu schnelles Eingehen auf die Forderungen der Opposition als Zeichen präsidialer Schwäche ausgelegt werden könnte. Dies gilt wohl auch mit Blick auf die eigenen Reihen im Führungszirkel, wo die Machtposition des Präsidenten mittlerweile stark hinterfragt werden dürfte. Möglicherweise werden manche politischen Fäden längst an anderer Stelle gezogen.
Die bisher weitgehend unbewaffnete syrische Protestbewegung hat sich schwer erreichbare Ziele gesetzt. Denn die Herrschenden haben ihr System über vier Jahrzehnte gefestigt. Es stützt sich auf die Person des Präsidenten, eine herrschende Partei mit breitem Unterbau, ein loyales Militär und starke Geheimdienste. In den meisten Machtpositionen wurden Personen installiert, die entweder religiöse, familiäre oder heimatbezogene gemeinsame Bande mit dem Präsidenten aufweisen - vorwiegend Alawiten aus der Gegend um Qardaha, dem Heimatort der Assads. Eine Schlüsselrolle in der Auseinandersetzung nimmt die Armee ein. Anders als in Ägypten sind die Streitkräfte in Syrien nicht auf den Staat, sondern auf das Regime eingeschworen und stehen bisher fest hinter Assad, der ihr Oberbefehlshaber ist. Die Vernetzung der Alawiten innerhalb der Generalität gilt als intensiv. Unter den 200000 Mann in den Eliteeinheiten der Armee befinden sich etwa 140000 Personen mit alawitischer Abstammung. Auch die Eliteeinheit der "Republikanischen Garde", die von Assads Bruder Maher geführt wird, ist alawitisch dominiert. Gerade sie wird von der Opposition für viele Übergriffe mit hohen Opferzahlen verantwortlich gemacht.
Internationale Verknüpfungen
Die Krise um Syrien hat die internationale Gemeinschaft weit mehr gespalten als der Fall Libyens. Es sind vornehmlich Syriens geostrategische Lage und seine komplexen Allianzen, die dazu führten, dass die internationale Gemeinschaft bisher in ihrem Handeln keine klare Linie erkennen lässt.
Achse Damaskus-Teheran-Hisbollah:
Die Verbindung zum Iran und zur "Partei Gottes" im Libanon gilt als wichtige strategische Stütze für Assads Regime. Sie garantiert Syrien, seinen Machtanspruch im Libanon umzusetzen sowie auf Israel indirekt Einfluss auszuüben. Die enge Bindung zum Iran verhindert gleichzeitig eine umfassende außenpolitische Isolation des Landes. Während viele einstige Partner Syriens mittlerweile auf Distanz zu seiner Politik gegangen sind, scheint sich Teheran weiterhin mit Damaskus zu solidarisieren. Neue Machtverhältnisse in Syrien würden für die iranischen Mullahs gravierende Einbußen ihres Einflusses, insbesondere im Nahost-Konflikt, nach sich ziehen. Zur Stützung Assads stellte Teheran jüngst 1,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung und könnte auch mit Energielieferungen zur Seite stehen.
Türkei:
Ankara sieht sich in einer schwierigen Lage. Erst vor wenigen Jahren kam es zur politischen Annäherung an Syrien. Die wirtschaftliche Kooperation wurde verstärkt und die Visumspflicht abgeschafft. Regierungschef Erdoan will Stabilität und Sicherheit an seinen Grenzen. Dies gilt insbesondere in der Kurden-Frage, in der sich Syrien noch bis 1998 gegen die Türkei positioniert hatte. Aktuell sieht sich die Türkei einem starken Zustrom syrischer Flüchtlinge gegenüber. Klare Konzepte, die Krise anzugehen, waren bisher in der Türkei nicht erkennbar. Ankara wird aufpassen müssen, dass der Funke der Revolution nicht auch auf türkisches Territorium überspringt, werden doch manche von den syrischen Protestlern thematisierten sozioökonomische Missstände auch in Südostanatolien empfunden.
Russland, China:
Ein Trumpf der syrischen Regierung ist die Partnerschaft mit Russland. Vom Westen befürwortete Sanktionen der VN wurden von Moskau im Zusammenspiel mit Peking verhindert. Assad profitiert davon, dass sich Russland und China in der Libyen-Frage vom Westen ins Abseits gedrängt fühlten. In Syrien steht für Moskau Erhebliches auf dem Spiel: Zwar sind die Erdölvorkommen des Landes bescheiden, der Kreml schätzt aber den geostrategischen Wert Syriens. So wird derzeit etwa der syrische Hafen Tartous für die russische Mittelmeerflotte ausgebaut.
USA und die EU:
Nach anfänglicher Unschlüssigkeit fordern heute die USA und die EU offiziell den Rücktritt Assads. Die bisherigen Sanktionen gegen Syrien - eingeschlossen die langjährige Unterstützung der Auslandsopposition durch die USA - haben nicht zum gewünschten Effekt geführt, den Machtapparat zu destabilisieren. Assad hatte sich aufgrund des Drucks aus Washington in den vergangenen Jahren zunehmend politisch der EU angenähert. In Brüssel galt der syrische Präsident lange als schwieriger, aber berechenbarer Staatschef. Inzwischen folgten den Forderungen konkrete Maßnahmen.
Israel:
Jerusalem beobachtet die Lage mit erheblichem Unbehagen. War die Lage an den Grenzen Israels zu Ägypten und Syrien bisher relativ stabil, so könnte sich dies nun ändern. Lange galt das Regime Assads in Jerusalem als Garant für eine gewisse Ruhe am Golan, wo seit 1973 kein Schuss mehr gefallen war. In Israel wird man sich in Zukunft mit der Frage befassen müssen, in welche Hände das syrische Waffenarsenal mit seinen Scud-Raketen und eventuellen Chemiewaffen im Falle eines Machtwechsels fallen könnte. Wäre dann in Syrien mit einem Erstarken der Muslimbrüder, der Gründung eines weiteren Gottesstaates oder mit zunehmendem Einfluss des Iran zu rechnen?
Perspektiven
Syriens Weg in eine Zivilgesellschaft ist steinig, aber gangbar. Das Justizsystem, die Polizei, die Sicherheitskräfte und die Armee müssten von Grund auf reformiert, Schaltstellen neu besetzt und in ihrem politischen Agieren transparenter werden. Die politische Machtverteilung in Syrien bedarf einer kompletten Neustrukturierung. Ein Proporzsystem, in dem die Macht im Staat entsprechend der Stärke der ethnischen und religiösen Gruppierungen verteilt würde, müsste wohl ausbalanciert sein. Ansonsten drohen bürgerkriegsähnliche Verhältnisse wie einst im Libanon oder im Irak. Der Schutz von Minderheiten wäre daher in einer neuen Verfassung besonders zu berücksichtigen. Wer derzeit als Vermittler zwischen den verfeindeten Seiten innerhalb Syriens zur Verfügung stehen könnte, ist offen. Die autoritär regierten Staaten der Arabischen Liga haben nur wenig Interesse an einer demokratischen Transformation des Landes. Auch Finanzmittel aus den reichen, wenig demokratischen Ölstaaten sind kaum zu erwarten. Der Westen wiederum wird sich, auch wegen der gemischten Erfolge mit militärischen Einsätzen in Libyen und im Irak, mit größerem Engagement in Syrien zurückhalten, zumal das Land über wenig Öl verfügt. Dennoch: Die Bereitschaft in Syrien, demokratische Verhältnisse zu testen, dürfte weit höher liegen als in anderen nahöstlichen Staaten. Denn ein Großteil der syrischen Bevölkerung, gerade in den Städten und Küstenbereichen, gilt als sehr aufgeschlossen gegenüber demokratischen Werten. Viele wünschen sich engere Kontakte zu Europa und eine Angleichung an westliche Lebensstandards, wobei der Libanon oft als Vorbild betrachtet wird. Es bleibt zu hoffen, dass Syrien und seine Menschen recht bald einen Weg des Miteinanders finden, um nicht Teil eines großen Flächenbrandes in Nahost zu werden.