Von der arabischen zur iranischen Revolution?
Parallel zu den Demonstrationen gegen die repressiven politischen Systeme in der arabischen Welt richtete sich die Aufmerksamkeit vieler westlicher Beobachter auf den Iran, wo seit 32 Jahren religiöser Despotismus herrscht. Mit Spannung wurde verfolgt, ob die Aufstände in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Staaten auf das Land des herrschenden Klerus übergreifen würden. Die geistliche Führung der Islamischen Republik reagierte gelassen: Oberster Rechtsgelehrter und Staatsoberhaupt Ali Chamenei begrüßte den Aufstand gegen den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak und sah darin die Revolte, die im Iran bereits 1978/79 stattfand. Staatspräsident Mahmud Ahmadinejad verkündete, dass sein Land ein Vorbild für alle Nationen sei und die Aufstände in der arabischen Welt nichts anderes als ein "islamisches Erwachen" nach dem Vorbild des Iran.
Die Solidaritätsbekundungen mit den arabischen Demonstranten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die iranischen Machthaber Proteste, wie sie sich ab Anfang 2011 in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und den arabischen Golfstaaten abzeichneten, im eigenen Land fürchten. Sie fanden im Iran bereits 2009 - und danach immer wieder - statt. Auch wenn diese bislang keinen Systemwandel auslösten, zeigen sie die enorme Mobilisierungsfähigkeit und -bereitschaft gegen die iranischen Machthaber. Vor diesem Hintergrund haben die Oppositionskräfte im Iran ein großes Interesse daran, die Proteste in den arabischen Ländern als "Revolten für die politische Freiheit" im Bewusstsein der eigenen Bevölkerung zu verankern. Dem Aufruf zur Solidarität mit den arabischen Demonstranten folgten im Februar 2011 Massenproteste in Teheran. Die Proteste wurden mit Tränengas und Polizeigewalt niedergeschlagen, Kommunikationsnetze wie Internet und "Facebook" wurden abgeschaltet. Es ist für das iranische Regime scheinbar kein Widerspruch, seine Solidarität mit der ägyptischen Bewegung zu bekunden, gleichzeitig aber mit allen Mitteln zu verhindern, dass ihr Geist auf die Islamische Republik überspringt.
Die Umbrüche der vergangenen Monate signalisieren den Aufbruch in eine neue Epoche, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Der Wunsch nach Freiheit und Reformen hat sich im Iran seit der Entstehung der Islamischen Republik nicht gelegt. Schon die Wahl des reformorientierten Muhammad Chatami zum Staatspräsidenten im Jahr 1997 war ein klares Signal - auch wenn er nicht in der Lage war, als "iranischer Gorbatschow" die vom Volk gewünschten Veränderungen und Reformen durchzusetzen.
Das lag vor allem daran, dass das ideologische Konzept des Islamischen Staates, an dessen Grundwerten er wie auch schon sein "liberaler" Vorgänger Ali Akbar Haschemi Rafsanjani festhielten, das eigentliche Hindernis für eine grundsätzliche Reform darstellt. Eine Selbstverständlichkeit in der Islamischen Republik ist beispielsweise, dass parlamentarische Gesetze im Einklang mit den religiösen Rechtsordnungen stehen müssen. Das bedeutet, dass jede Reformüberlegung ein religiöses Etikett braucht, welches wiederum nur durch die Zustimmung des Klerus legitimiert werden kann.
Ein weiteres zentrales Prinzip liegt in der Idee der "Wahrung des Interesses des islamischen Systems" (hefz-e maslahat-e nezam). Diese erfasst sowohl die religiösen als auch die politischen und territorialen Angelegenheiten. Dafür steht die Doktrin der "Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten" (wilayat-e faqih), das zentrale Machtorgan der Islamischen Republik. Wilayat-e faqih steht für ein Vormundschaftsrecht, das die schiitischen Rechtsgelehrten über die Gläubigen während der Abwesenheit des zwölften Imams der Schia beanspruchen. Dieses Vormundschaftsrecht wurde von Großayatollah Ruhollah Musavi Khomeini (1979-1989) auf alle gesellschaftlichen Bereiche übertragen. Das Amt gibt der obersten religiösen Autorität (wali faqih) ein funktional uneingeschränktes Machtmonopol, das von einem einzigen Mann ausgeübt wird; das bedeutet, dass jegliche Reformwünsche mit dem Willen des wali faqih im Einklang stehen müssen.
Zudem schaffte Chatami es nicht, für seine Reformen die Unterstützung der revolutionären Flügel wie Revolutionswächter, religiöse Juristen und die neue religiöse Elite zu gewinnen. Die Islamische Republik ermöglichte ihnen den Aufstieg in die wichtigen exekutiven und judikativen Machtzentren und damit eine immense Einflussnahme auf das politische Geschehen. Sie haben sich verpflichtet, "Wächter" des Systems zu sein, und da sie die militärische Gewalt innehaben, können sie jederzeit durch einen Putsch das System vollständig unter ihre Kontrolle bringen. Konsequenterweise unterstützen sie keine Reformen, die ihre Interessen bedrohen könnten. Während der Präsidentschaft Chatamis haben sich viele der revolutionären Anhänger, die bereits unter dem sogenannten Liberalisierungskurs Rafsanjanis an den Rand des innen- und außenpolitischen Geschehens gedrängt wurden, in ihrer Existenz bedroht gefühlt. Seit der Regierungsübernahme durch Ahmadinejad im Jahr 2005 sind diese radikalen Kräfte wieder vollständig in die politische Arena zurückgekehrt und verhindern seitdem mit undemokratischen Mitteln jegliche Reformen und politischen Proteste.
Im Hinblick auf die maßgeblichen politischen Kräfte kristallisiert sich folgendes differenziertes Bild heraus:
Daneben sind es die Anhänger der Reformpolitik um Chatami, die weniger im politischen Raum als vielmehr im kulturellen Sektor vertreten sind. Sie streben eine Liberalisierung des Landes an, auch wenn sie nicht im Sinne der offenen Gesellschaft gedacht ist. Dennoch stehen bei ihnen die Förderung der Zivilgesellschaft und der Dialog mit anderen Kulturen im Vordergrund. Sie sind bestrebt, eine traditionelle Lebensart mit einer modernen liberalen in Einklang zu bringen.
Daneben sind es vor allem revolutionäre Hardliner, die den Anspruch erheben, als "Stifter der Revolution" das politische Vermächtnis der Islamischen Republik zu bewahren. In dieser Gruppe sammeln sich vor allem reaktionäre Geistliche, Kriegsveteranen des iranisch-irakischen Kriegs, paramilitärische Milizen, islamische Vereine in den Städten, "Märtyrerfamilien" und einige Verlierer der Globalisierung und der westlichen Boykottpolitik unter den einflussreichen traditionellen Bazaris (Markthändler). Sie sind antiwestlich, antiliberal, ideologisch und pflegen eine neue und radikalere Interpretation des Islams.
Hinzu kommen die zurückgezogen agierenden schiitischen Gelehrten in der theologischen Hochschule in Ghom, die mehr oder weniger quietistisch auf die politische Situation im Iran reagieren. Ihre Forderungen sind eher traditioneller Natur. Gegenüber den neuen Machthabern und der höchsten politischen Autorität der Religionsgelehrten sind sie skeptisch. Stattdessen stehen sie auf der traditionellen Interpretationslinie religiöser Quellen, die eine Vollmacht der religiösen Juristen kritisiert. Sie gelten als separater Flügel, da sie sich politisch wie auch religiös von allen anderen Gruppierungen unterscheiden. Dennoch besitzen sie einen großen Einfluss auf die religiöse Dogmatik und damit auf die traditionelle Interpretationshoheit. Indiz dafür waren die Versuche Ahmadinejads, sie mit enormer finanzieller Unterstützung für die theologische Hochschule in Ghom auf seine Seite zu ziehen beziehungsweise mundtot zu machen. Damit wollte er zugleich die Stellung des Klerus in der Islamischen Republik schwächen und ihr Ansehen beim Volk schmälern. Vergeblich. Ein Sprecher der theologischen Hochschule ließ verlauten, dass das theologische Hochschulzentrum "nicht käuflich" sei. Diese Reaktion konservativer Kleriker gegen Ahmadinejad offenbart einen weiteren wunden Punkt der jetzigen Regierung: Die Hardliner um Ahmadinejad müssen sich nicht nur gegen die Reformisten, sondern auch gegen Teile des Klerus behaupten.
Die "Grüne Bewegung", auch wenn schwer festzustellen ist, welchem politischen Klientel der Islamischen Republik ihre Anhänger zuzuordnen sind,
Religion als Legitimation
Auf die Forderung nach einer "liberalen Islamischen Republik", für Demokratie, Freiheit und einen "anderen Islam",
Die Kritiker Ahmadinejads betonen, dass ein organisierter ideologisierter Staatsapparat freie Meinungsbildung und Entscheidungsprozesse des Volkes verhindert und die Dynamik des geistigen und politischen Wandels blockiert. Mit Ahmadinejad habe zwar der revolutionäre Geist der Islamischen Republik wieder die Oberhand gewonnen, er scheint aber vom Sendungsbewusstsein und vom Ideal des islamischen Internationalismus Abschied genommen zu haben. Denn mittlerweile sprechen Ahmadinejad und seine Anhänger nicht mehr von der islamischen Herrschaft, sondern von einem für die iranische Nation spezifischen Islam; so versuchen die Hardliner, sich als Patrioten für das nationale Interesse des Iran und als "Robin Hood für Arme" auszugeben. Zugleich propagieren sie eine vollständige Unabhängigkeit des Iran von westlichen Mächten und benutzen die umstrittene Atompolitik zu diesem Zweck.
Auffällig ist dabei die starke Verbindung des Freundeskreises der messianischen Mahdi-Erlöser unter der Führung des fundamentalistischen Geistlichen Misbah Yazdi, der sich während der Revolution von 1978/79 nie aktiv gezeigt hatte, mit Ahmadinejads Regierung: Mahdi-Anhänger besetzen nicht nur wichtige Funktionen in den iranischen Sicherheitsapparaten, sondern auch administrative Posten. Sie fungieren als ein religiöses Netzwerk mit dem Ziel, den "satanischen Abweichlern" (gemeint sind Regime-Gegner) entgegenzutreten. Dabei werden offenbar auch weltweite Aktivitäten gegen Iran-kritische Blogger und Webseiten geführt.
Wenn die Eigenen zu Gegnern werden
Seit dem kompromisslosen Vorgehen der Regierung Ahmadinejads gegen Kritiker, Reformer, Intellektuelle und Gegner verliert sie immer mehr an Glaubwürdigkeit und dynamisiert den Protest. Es wenden sich auch diejenigen, die früher als "Eigene" (khodi) angesehen waren, vom System ab. Der schiitische Geistliche Muhsan Kadivar - er hatte zwar keinen politischen Posten, stand aber in den ersten Jahren nach der Revolution wie viele andere auch auf der Seite des Systems; er wirkte vor allem als Intellektueller und Theoretiker im akademischen Bereich - bezeichnet Ali Chamenei als einen "Despoten", der sowohl die Gesetze und die Verfassung als auch die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eklatant missachtet und den Grundsätzen des Islams zuwidergehandelt habe.
Bereits vor ihm nannte der renommierte Religionsgelehrte und Philosoph Mehdi Hairi Yazdi (Sohn von Abdolkarim Haeri Yazdi, dem Gründer der islamischen Schulen in Ghom) das System der Islamischen Republik widersprüchlich und hob in seinem politischen Konzept die Souveränität des Volkes gegenüber der Herrschaft des Klerus hervor. Demnach obliegen die Entscheidungen über die Angelegenheit des Staates und des Gemeinwohls direkt dem Volk selbst, denn es ist der wahre Eigentümer des geopolitischen Raumes, und ihm stehen von Natur aus alle politischen und zivilgesellschaftlichen Rechte zu. Deshalb darf auch keine andere Autorität über eine Entscheidungskompetenz verfügen, die vom Volk nicht gemeinschaftlich legitimiert ist. Seine Staatslehre geht aus seiner Philosophie der Existenz hervor, nach welcher der Mensch in seinem Denken und Tun frei und souverän sei; deshalb könne er die Beantwortung aller politischen, ethischen oder sogar religiösen Fragen auch als seine eigene Aufgabe sehen.
Die gemäßigten Theologen wie auch der religiös-liberale Flügel und die Modernisten signalisieren in ihren Äußerungen, dass sie sich mit dem radikalen Kurs der bestehenden Regierung nicht identifizieren wollen. Ehemalige Revolutionäre und religiöse Intellektuelle, darunter viele Geistliche, mussten entweder ins Exil (wie beispielsweise das ehemalige Mitglied des Rates für Kulturrevolution Abdulkarim Sorush oder Geistliche wie Hasan Yusefi Eshkavari und Muhsan Kadivar) oder sie kamen ins Gefängnis (wie Akbar Gandji, der ehemalige Leibwächter Khomeinis).
Auch die Protestbewegung vom Juni 2009 hat ihre Spuren hinterlassen und zeigt, dass die Regierung von Ahmadinejad langfristig die Reformbewegung im Land nicht verhindern kann. Im Gegenteil: Die harte Reaktion der Regierung hat ungewollt dazu beitragen, dass die Reformkräfte in ihrem Kurs entschlossener und radikaler wurden. Der Dokumentarfilm "The Green Wave" von Regisseur Ali Samadi Ahadi