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Haushaltsautonomie des Parlaments – Kronjuwel adé? – Essay | Parlamentarismus | bpb.de

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Haushaltsautonomie des Parlaments – Kronjuwel adé? – Essay

Reinhard Müller

/ 12 Minuten zu lesen

Haushalt – den Begriff kennt jeder. Den eigenen sowieso. Aber auch den der großen Politik. Dass der Deutsche Bundestag über Einnahmen und Ausgaben entscheidet, ist nichts Neues. Zwar gelten Haushaltsfachleute irgendwie als Exoten – zu genau will man es dann doch nicht wissen –, aber das Budgetrecht des Parlaments würden auch politisch weniger Interessierte als eine Kernaufgabe bezeichnen. Als ein Verfassungsproblem ist die Haushaltsautonomie bis vor Kurzem allenfalls im Verhältnis zwischen Bund und Ländern angesehen worden. Dazu hat sich auch das Bundesverfassungsgericht schon oft geäußert. Doch recht neu ist die Möglichkeit jedes Bürgers, eine Aushöhlung dieses Rechts zu verhindern. Das ist ein Phänomen der immer enger werdenden europäischen Einigung – vor allem der Euro-Rettungspolitik.

Seit der Karlsruher Maastricht-Entscheidung von 1993 kann grundsätzlich Jeder jeden weiteren europäischen Integrationsschritt mit der Begründung angreifen, sein Wahlrecht zum Bundestag werde ausgehöhlt. Das hat das Verfassungsgericht dann in seinen Urteilen zum Vertrag von Lissabon und zur Griechenlandhilfe fortgesponnen. Das Wahlrecht des Bürgers ist insbesondere dann verletzt, "wenn sich der Deutsche Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können".

Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit grundlegend ist. Das Budgetrecht ist zentrales Element der demokratischen Willensbildung. Es dient der Kontrolle der Regierung. Zum anderen "aktualisiert" der Haushaltsplan nach Karlsruher Diktion "den tragenden Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten als eine wesentliche Ausprägung rechtsstaatlicher Demokratie". Nur der Bundestag hat die Kompetenz für den Haushaltsplan. In diesem Plan spiegelt sich die gesamte Politik: Das sieht man schon an der Bedeutung der Debatten im Parlament über den Haushalt. Sie sind eine Art Generalabrechnung.

Verfassungsrechtliche Grenzen

Was folgt daraus für das stark von der Regierung geprägte Handeln in internationalen Organisationen, vor allem im Staatenverbund der Europäischen Union? Die Abgeordneten müssen stets die Kontrolle über die grundlegenden haushaltspolitischen Entscheidungen behalten – natürlich nicht über jede Einzelheit, sonst wäre die Mitwirkung Deutschlands sinnlos, aber über Einnahmen und Ausgaben.

Das Parlament trägt die Gesamtverantwortung. Also darf es seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Das Bundesverfassungsgericht verbietet es dem Parlament, sich "finanzwirksamen Mechanismen" auszuliefern, die "zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können". Aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folgt demnach, dass der Bundestag einem zwischen den Staaten vereinbarten in seinen Auswirkungen nicht begrenzten "Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus" nicht zustimmen darf, der seiner Kontrolle entzogen ist. Aber ist nicht der Bundestag der Souverän? Karlsruhe bemüht sich hervorzuheben, dass dieses Verbot die Haushaltskompetenz des Parlaments nicht beschränke, sondern – im Gegenteil – bewahre.

Der Bundestag muss demnach "Herr seiner Beschlüsse" bleiben. Er darf nicht in erheblichem Umfang pauschale Ermächtigungen zulassen. Also keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründen, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen. "Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs" im internationalen oder EU-Bereich "muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden", verlangt das Bundesverfassungsgericht.

Solche Hilfsmaßnahmen sind zur Regel geworden. Europäische Solidarität soll institutionalisiert werden. Nach dem vorläufigen Euro-Rettungsschirm EFSF soll der ständige Rettungsmechanismus ESM notleidenden europäischen Staaten und Banken helfen und die Finanzmärkte beruhigen.

Aber begründet nicht gerade der ESM-Vertrag einen solchen Mechanismus? Hier entscheiden die europäischen Finanzminister. Ein – strafrechtlich immunes und weisungsgebundenes – Direktorium kümmert sich um das Alltagsgeschäft. Das schon genehmigte Stammkapital des ESM beträgt 700 Milliarden Euro; gut 190 Milliarden entfallen auf Deutschland. Kritiker befürchten, dass die Haftung Deutschlands im schlimmsten Fall viele Hundert Milliarden Euro betragen könnte. Manche sprechen schon von einer Billion. Muss das Land womöglich nachschießen, ohne dass der Bundestag zustimmt? Deutschland könnte über seinen Anteil hinaus zur Nachzahlung verpflichtet sein, wenn ein anderer Mitgliedstaat seiner Pflicht nicht nachkommt.

Das erscheint nicht unwahrscheinlich, denn es ist fraglich, ob ein Staat wie Griechenland sich vertragstreu verhalten kann. Dass Nachschüsse nicht beabsichtigt oder nicht geplant sind, ändert daran nichts. Schon wird darüber geredet, dem ESM eine "unbegrenzte Feuerkraft" zu geben, ihn mit einer Banklizenz auszustatten.

Reicht es aus, dass gegebenenfalls der Europäische Gerichtshof angerufen werden kann? Ein Austritt aus dem ESM ist nicht vorgesehen. Es ist zweifelhaft, ob hier die völkerrechtliche Regel der clausula rebus sic stantibus hilft, der Wegfall der Geschäftsgrundlage: Da müsste schon das ganze Rettungssystem zusammenbrechen; und es ist höchst fraglich, ob sich Deutschland darauf berufen könnte.

Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts müsste eigentlich jede grundlegende Entscheidung nur mit Zustimmung des Bundestages möglich sein. Es darf weder zum Zuschauen verurteilt sein, noch getroffene Entscheidungen nur nachvollziehen.

Wahrung von Handlungsspielräumen

Natürlich hat der Gesetzgeber Spielraum. Der gilt auch mit Blick auf die zukünftige Belastbarkeit des Haushalts und das wirtschaftliche Leistungsvermögen Deutschlands. Es kommt, so Karlsruhe in seiner Entscheidung zur Griechenlandhilfe, insoweit insbesondere nicht darauf an, "ob die Gewährleistungssumme gegebenenfalls weit größer ist als der größte Haushaltstitel des Bundes und die Hälfte des Bundeshaushalts erheblich überschreitet, weil dies allein nicht der Maßstab einer verfassungsrechtlichen Begrenzung des Handlungsspielraums des Gesetzgebers sein kann".

Apropos Handlungsspielraum: Wie steht es mit dem Fiskalpakt? Auch er engt die Haushaltsautonomie ein: Was in Deutschland in erster Auflage misslang, soll in neuer Auflage ganz Europa stabilisieren.

Immerhin gibt es im Grundgesetz schon seit Jahrzehnten eine Schuldenbremse. Sie wurde nur nicht straff genug betätigt. Seit der Finanzreform Ende der 1960er Jahre sind durchgehend immer mehr Schulden angehäuft worden. Dabei sah das damals geschaffene Konzept vor: Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen waren allein "zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ zulässig. In Zeiten konjunktureller Erholung sollten die Schulden zurückgeführt werden. Das klappte anfangs.

Doch insbesondere mit dem Ausbau des Sozialstaats stieg die Verschuldung, weil Investitionen nur noch aus Krediten, nicht mehr aus laufenden Einnahmen bezahlt wurden. Die Schuldenbremse habe sich "in der Realität nicht als wirksam erwiesen", entschied das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren. Auch die strengere Schuldenbremse aus dem Jahr 2009 lässt Spielraum für die Aufnahme neuer Kredite. In Notlagen dürfen weiterhin neue Schulden gemacht werden, etwa wenn die Konjunktur einbricht. Oder wohl auch, wenn der Bund die Steuern senkt und den abhängigen Ländern Einnahmen fehlen.

Das ist durchaus verständlich. Politik, sichtbare Politik jedenfalls, besteht im Geldausgeben. Sparpolitik wird zwar auch sichtbar, taugt aber nicht gut als Wahlkampfschlager. Immerhin versuchen manche Länder, ihre Altschulden abzubauen. Den "exorbitanten Schuldensockel des Bundes" sah Karlsruhe als das wahre Problem an: "ein Klotz am Bein der Konjunktur und der politischen Handlungsmöglichkeiten" – der allein dadurch zustande gekommen sei, dass die Finanzverfassung "über Jahrzehnte missachtet worden ist".

Europäische Einigung

So ist die Lage im als vorbildlich geltenden Deutschland, dem wirtschaftlich stärksten Land der EU, in recht guten Zeiten. Diese Schuldenbremse wollen sich die meisten anderen europäischen Länder mit dem Fiskalpakt auferlegen. Darunter sind Staaten, die aus verschiedenen kulturellen Gründen eine andere Finanzpolitik betreiben. Die Herkulesaufgabe besteht zunächst darin, die Parlamente und Völker davon zu überzeugen, vor allem aber dann darin, diese Kulturrevolution durchzusetzen, in guten wie in schlechten Zeiten.

Freilich kann niemand auf europäischer Ebene einen ausgeglichenen Haushalt erzwingen. Was schon in einem funktionierenden Bundesstaat kaum möglich war, wie soll das mit einem völkerrechtlichen Vertrag funktionieren? Man kann hier weder auf die EU-Kommission noch auf den Europäischen Gerichtshof hoffen. Das haben schon der Vertrag von Maastricht und der Europäische Stabilitätspakt gezeigt. Es ist fraglich, ob ein völkerrechtlicher Vertrag mehr bewirkt.

Das heißt nicht, dass der Pakt unnütz wäre. Er ist mehr als ein Symbol. Man sollte nur keine Wunder erwarten. Zu deutlich klingen die Stabilitätsversprechen im Ohr, mit denen die gemeinsame europäische Währung begründet wurde. Zu deutlich ist, dass die EFSF und ESM genannten Brandmauern – entgegen früheren Versprechen – immer höher gezogen wurden. Dadurch darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, die nationalen Parlamente hätten nichts mehr zu sagen. Im Gegenteil: Weder EFSF und ESM noch der Fiskalpakt dürfen die Haushaltsautonomie der Einzelstaaten aushebeln.

Nun sollte nicht vergessen werden, dass der Bundestag selbst alle Schritte in der Finanzkrise getragen hat. Womöglich ist das Parlament (und nicht nur dieses) von der Geschwindigkeit und Komplexität der Krise überfordert. Die eigentlich selbstverständliche Gesamtverantwortung des Parlaments vor allem in Haushaltsfragen ist deshalb auch ein Versuch der Entschleunigung. Karlsruhe hat zwar kein Mandat, um Europapolitik zu betreiben. Es überprüft sie aber streng und umfassend. Das von zwei Abgeordneten erfolgreich angegriffene "Neuner-Gremium" – das maßgebliche Entscheidungen zur Euro-Rettung treffen sollte – ist dabei, obschon Teil des Parlaments, einer der umstrittenen Versuche jener Hinterzimmer-Politik, die "Europa" so viel Vertrauen gekostet hat. Dass die EU genau so, also von oben und als Elitenprojekt, entstanden ist und dass sie wohl nur so entstehen konnte, trägt heute als Legitimationsgrundlage nicht mehr.

Natürlich muss Deutschland in der EU handlungsfähig sein, gerade jetzt. So wie ein eiliger Streitkräfteeinsatz auch ohne Bundestagsbeschluss begonnen werden kann, darf die parlamentarische Befassung sensible finanzpolitische Maßnahmen nicht behindern. Das wäre buchstäblich fatal. Aber nicht alles ist eilig, quasi ansteckend. Beschlüsse zur Euro-Rettung in Milliardenhöhe sind keine geheime Kommandosache.

Verantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers

Ob die Abgeordneten dieser Gesamtverantwortung gerecht werden (können)? Jedenfalls hat sich ihr Selbstbild in den vergangenen Jahren verändert. Es ist noch gar nicht lange her, dass sie – nämlich im Verfahren zum europäischen Haftbefehl – in Karlsruhe den Eindruck erweckten, sie seien nur ahnungslose Vollstrecker des Brüsseler und Berliner Regierungswillens. Doch das hat sich geändert. Nun scheinen selbst unter Hinterbänklern im Parlament der Wille und das Bedürfnis ausgeprägt, nicht nur die komplexen Euro-Rettungsmaßnahmen kritisch zu hinterfragen, sondern auch der Regierung, und sei es der "eigenen", auf die Finger zu klopfen.

Die Parlamentarier sind in ihre vorgesehene Rolle hineingewachsen. Auf die Bühne gesetzt hat sie das Verfassungsgericht. Die Richter, die selbst von einem kleinen, nicht öffentlich tagenden parlamentarischen Gremium nach einem kaum durchschaubaren Verfahren gewählt werden, haben den Hort der Demokratie mit Schutzschirmen und Brandmauern umgeben. Entscheiden müssen die Volksvertreter. Das kann ihnen niemand abnehmen. Wenn es aber wirklich um Krieg und Frieden gehen sollte, sind sie zumindest gut gerüstet. Man darf sich freilich auch keinen Illusionen hingeben. Bis auf wenige Ausnahmen sind die weiteren Karrieren der Abgeordneten von der Parteiführung abhängig. Widerstand gegen die vorgegebene Linie will somit gut überlegt sein.

So traten die Parlamentarier in der mündlichen Verhandlung zum Euro-Rettungsschirm auch dem Eindruck entgegen, die Gesetze seien im Eiltempo verabschiedet worden. "Der Deutsche Bundestag nimmt seine Rolle in der Europa-Politik sehr, sehr ernst", hieß es. Und: "Wir haben das sehr gründlich in Ausschüssen, Fraktionen und Anhörungen erörtert." Auch die "kritischen Kollegen" seien ausgiebig zu Wort gekommen.

Der Vorsitzende des Rechtsausschusses gestand freilich auch ein: "Ob der Weg, den wir eingeschlagen haben, der Königsweg ist, wird die Geschichte zeigen – wir hatten eine solche Situation noch nie." Während die Vorsitzende des Haushaltsausschusses hervorhob, der Bundestag habe viele Möglichkeiten einzugreifen, wurde aber auch darauf hingewiesen, dass es bei den Abstimmungen fast immer an bezifferten Alternativen zu den Rettungsmaßnahmen gefehlt habe: "Es gab nur allgemeine Horrorszenarien." Auch sagte mancher, es sei kaum möglich gewesen, die Fülle der Unterlagen zu verarbeiten.

Hauptsache, niemand lässt sich von der simplen Rechnung beeindrucken: Krieg oder Frieden, Integration oder Rückschritt. Es ist klar, dass eine Regierung gern durchregieren will – sei es bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, der schleichenden Veränderung des Nato-Vertrags oder eben in Fragen der europäischen Integration. Karlsruhe hat die Handlungsfähigkeit der Exekutive auch nie infrage gestellt. Im Gegenteil: Auslandseinsätze etwa ließ es – ohne Änderung des Grundgesetzes und entgegen einer jahrzehntelangen Praxis – im internationalen Rahmen in vollem Umfang zu. Aber nur mit Zustimmung des Parlaments. Daran führt auch in Eilfällen, in denen die Regierung handeln darf, kein Weg vorbei. Notfalls müssen die Soldaten zurückgeholt werden. Das gilt auch für Kredite und Garantien, die den Bundeshaushalt zu sprengen drohen. Die Frage ist freilich, ob ein solches Zurückholen hier möglich ist. Aber die Karlsruher Warnung ist deutlich: Es gibt keine "Blanko-Ermächtigung" für weitere Rettungsmaßnahmen.

Dieser Wink war dringend notwendig. Das Gericht kann dabei allerdings nur grobe Fehltritte überprüfen, sonst würde es seiner Rolle im Verfassungsstaat nicht gerecht. Es macht aber deutlich, dass auch dem parlamentarischen Gesetzgeber unter diesem Grundgesetz Grenzen gesetzt sind. Das weist über Europa hinaus. Eine Selbstentmachtung des Bundestages ist grundsätzlich untersagt. Deshalb gab es schon Bestrebungen, die Karlsruher Festlegungen zu den Grenzen der Integration durch eine Verfassungsänderung wieder zurückzudrehen.

Einstweilen hat das Parlament jedenfalls sichergestellt, dass weitere Finanzhilfen seiner Zustimmung bedürfen. Dass nicht das Plenum, sondern der Haushaltsausschuss, in Eilfällen sein Unterausschuss entscheiden muss, ändert im Prinzip nichts an der Kontrolle.

Aber auch hier droht Gefahr. Denn diese "Kontrolle" kann im Geheimen stattfinden. So ist der EFSF-Rahmenvertrag ein privatrechtlicher Vertrag, und so wurde er von der Bundesregierung auch behandelt. Auch der ESM-Vertrag war lange für die Öffentlichkeit in deutscher Sprache nicht greifbar. Schon über den Lissabon-Vertrag hatte der Bundestag abgestimmt, ohne dass jeder Abgeordnete eine konsolidierte Textfassung vor sich gehabt hätte.

Hier muss das gesamte Parlament wachsam sein, dass nicht wieder eine Hinterzimmer-Europapolitik eingeführt wird. Karlsruhe hat im Übrigen schon früher grundsätzlich entschieden: Entscheidend sei "nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns, sondern deren Effektivität".

Wenn das Parlament dazu nicht in der Lage wäre, bliebe nur noch Karlsruhe. Warum aber sollen acht Richter es besser wissen als Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat? Weil es hier gar nicht um Institutionen, sondern um den Menschen, um den Bürger geht. Dieser Bürger steht im Mittelpunkt der gesamten Rechtsprechung zu Europa. Er hat ein Recht auf Teilhabe am politischen Prozess. Das muss er auch durchsetzen können.

Fazit: demokratisches Prinzip bleibt unantastbar

Eines kann in der Debatte über die Grenzen der Haushaltsautonomie des Bundestages leicht in Vergessenheit geraten: Auch das Parlament vertritt nur das Volk. Und wenn eine bestimmte Grenze überschritten ist, muss es direkt gefragt werden. Das ist eine Selbstverständlichkeit, auch wenn es dazu keine Grundgesetzvorschrift gäbe.

Über eine Ablösung des Grundgesetzes muss der Souverän entscheiden. Eigentlich will niemand das Grundgesetz komplett abschaffen. Das Volk müsste allerdings auch gefragt werden, wenn Deutschland zu einem Glied in einem europäischen Bundesstaat würde. Wenn es also seine souveräne Staatlichkeit aufgäbe. Doch immerhin weist auch die Präambel des Grundgesetzes von 1949 den Weg nach Europa: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."

Daraus schließen manche, das Bundesverfassungsgericht verenge seinen Blick zu sehr auf die staatliche Souveränität und vernachlässige den europäischen Blick. Doch muss eben auch nach dem alten Grundgesetz die erlaubte und gewünschte europäische Integration bestimmten Vorgaben folgen. Es sprechen gute Gründe dafür, dass die Befugnisse des Bundestages nicht schleichend entleert werden dürfen. Der Bürger muss noch etwas zu sagen haben – auch über Europa.

Das Bundesverfassungsgericht ist mit seinen nahezu unbegrenzten Kompetenzen ein Solitär. In seiner unverändert großen Beliebtheit bei den Bürgern spiegelt sich deren Unbehagen über die Auswüchse der repräsentativen Parteiendemokratie. In der Politik ist Karlsruhe weniger beliebt, die Akzeptanz bröckelt.

Tatsächlich ist seine Rechtsprechung auch von Anmaßungen und Zumutungen geprägt. Doch sollte auf der Grundlage der Entscheidung zur Euro-Rettung, die das demokratische Prinzip einmal mehr für unantastbar erklärt, ein neuer Konsens möglich sein. Viele mag es nicht interessieren, viele überfordern: Aber auch die Euro-Rettungspolitik muss in die Öffentlichkeit. Das ist letztlich der Sinn des Ringens der Verfassungsorgane. Gerade wenn die maßgeblichen politischen Parteien sich einig sind, wenn der eingeschlagene europäische Weg als alternativlos dargestellt wird, dann schlägt die Stunde des Schiedsrichters.

Erst im 19. Jahrhundert setzte sich im Übrigen der Grundsatz durch, dass der Haushalt öffentlich sein muss. Seine Planung, der Vollzug und seine Kontrolle müssen demnach nicht nur dem Parlament, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich sein. Der mittlerweile aus dem Amt geschiedene Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio nannte das Budgetrecht des Parlaments dessen "Kronjuwel".

Womöglich wird man erst merken, was man an diesem Juwel hat, wenn es spürbar eingeschränkt wird. Die Debatte über Kredite und Garantien wirkt abstrakt und blutleer, selbst wenn es um Milliarden geht. Sollte aber etwa Brüssel einmal vorgeben, dass Deutschland bestimmte Brücken nicht mehr bauen, bestimmte Sozialleistungen nicht mehr auszahlen darf, dann wird man sich der Kronjuwelen erinnern. Und sie verteidigen. Oder eben mit breiter Mehrheit ein gemeinsames europäisches Haus mit von allen akzeptierten und gelebten Regeln und gemeinsamen Juwelen schaffen.

Dr. iur., geb. 1968; verantwortlicher Redakteur für Zeitgeschehen und für Staat und Recht der "Frankfurter Allgemeine Zeitung".
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