Modernere Theorien bestätigen Walter Bagehots Erkenntnis des komplementären Zusammenhangs von gesellschaftlichem und institutionellem Wandel aus dem 19. Jahrhundert. Auch sie gehen von der Priorität gesellschaftlicher Prozesse aus, die auf politische Institutionen einwirken und deren Funktionsweisen verändern, ohne notwendigerweise ihre grundlegenden Prinzipien unterminieren zu müssen. Möglich ist aber auch das. Unter der Voraussetzung, dass diese Prinzipien konsensfähig sind, könnte von ihrem Verfall dann gesprochen werden, wenn nicht mindestens gleichwertige, konsensstiftende Alternativen an ihre Stelle treten. "Geistesgeschichtliche Grundlagen" unterliegen in der Realität ihrer Umsetzung evolutionären Entwicklungen. Anders gerieten sie ebenso ins Abseits, wie wenn ihre Identität verloren ginge. Status-quo-Orientierung erfasst diese seit fast zwei Jahrhunderten bekannten Zusammenhänge nicht. Leichtfertig wäre es andererseits, Fragen nach Erosionstendenzen der Integrations-, Legitimations- und Kommunikationsfähigkeit des modernen Parlamentarismus nicht zu stellen, soweit sie seine Leitideen
Integration
Grundsätzlich repräsentieren Parlamente die Gesellschaft in ihrer politischen und sozialen Vielfalt. Gerade dadurch, dass diese Differenzierungen in ihnen zum Ausdruck kommen, eröffnen sie eine Chance für das Mindestmaß gesellschaftlicher Integration: Pluralität gewinnt Handlungsfähigkeit. Staatliche "Einheit" wird über die parlamentarischen Entscheidungsrechte und -prozesse einer funktionsfähigen Volksvertretung wirksam.Diesen Vorgang charakterisiert das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als "integrative Repräsentanz".
Um die aktuellen Entwicklungen zu erfassen, müssten Fragen nach grundsätzlichen Veränderungen des Verhältnisses von Politik und Gesellschaft gestellt werden. Beide haben sich offensichtlich in den jüngeren Modernisierungsprozessen entkoppelt – jedoch keineswegs nur wegen Parteiversagens oder fraktionengesteuerten Parlamentarismuswandels, sondern aufgrund struktureller Entwicklungen. Im Kern ist diskussionsbedürftig, ob Parteien traditionellen Zuschnitts und Verständnisses in einer seit dem 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich gewandelten Gesellschaft noch angemessene, zukunftsfähige politische Institutionen sind. Sie sind zu Anpassungsprozessen gezwungen, die sie zu einem neuen Parteientyp wandeln – ein Typus, der sich immer weniger auf Identifikation durch klassisches Milieu, prinzipientreues Programm und ebenso traditionelle wie wirkungsarme Partizipationstechniken stützt, sondern auf Kommunikationsmanagement und vielfältige kurzfristige Interessenbefriedigung.
Diese Veränderung vollziehen Parteien nicht autonom. Sie folgen (sicher nicht immer voll bewusst) gesellschaftlichen Ursachen. Nicht nur, dass sich die überkommenen sozialmoralischen Milieus, welche die beiden großen Volksparteien getragen haben, durch Säkularisierung einerseits und Schwinden des sekundären Sektors in der Ökonomie andererseits in Auflösung befinden. Von den Wahlberechtigten brachten die beiden "Großen" 2009 gerade noch 39,7 Prozent (1976 waren es 82,1 Prozent) hinter sich, von den Wählern 56,8 Prozent (1976 waren es 91,2 Prozent). Individualisierungsschübe, Wertewandel, Pluralisierung der Lebensstile und Organisationsskepsis stehen parteilichen Bindungen entgegen.
Jüngste Wahlergebnisse belegen diese Entwicklung. Beide großen Parteien verloren beispielsweise 2009 – die eine desaströs, die andere überschaubar, aber immerhin trotz ihres Kanzlerinnenbonus’. Zu Millionen gaben sie frühere Votanten ins Nichtwählerlager ab, was als Indikator für eine über das Parlament hinausweisende Politikdistanzierung gelten kann. Dass die thematisch spezifischeren kleineren Parteien zulegen, indiziert ihre Attraktivität für individuelle Optionen und zugleich einen abnehmenden generellen Integrationswillen eines wachsenden Segments der Bevölkerung – ein Trend, der für die modernen Gesellschaften Europas typisch ist. Deren Individualisierung und Pluralisierung geht der Desintegration der Parteiensysteme samt ihren parlamentarischen Konsequenzen voraus, die sich längere Zeit schleichend vollzog, jetzt aber unübersehbar ist. Die Gesellschaft nimmt sich die Freiheit, sich zu entwickeln, ohne auf Parteien und Institutionen, ihre Organisation und ihr Selbstverständnis Rücksicht zu nehmen. Parteien sind, was sie stets waren: ein Sekundärphänomen. Sie drücken die Gesellschaft aus, aber sie schaffen sie nicht. Je erfolgreicher sie dabei wären, umso differenzierter müssten nun parlamentarische Repräsentation und Entscheidungsprozesse werden, und umso herausfordernder stellte sich das Problem "integrativer Repräsentanz".
Die moderne Wählergesellschaft differenziert sich in unterschiedliche, durchaus stetigem Wandel unterworfene, wahlentscheidungsrelevante Lebensstile und Lebenswelten, deren Komplexität die klassischen sozialmoralischen Milieus übertrifft. Die Ausprägung solcher Lebenswelten und Lebensstile ist stets im Fluss, entlang des Wandels der Gesellschaft, der Sozialstrukturen und der Soziokultur. Die Gesellschaft ist in Bewegung – mit Konsequenzen für politikrelevante Einstellungen und Verhaltensweisen sowie nicht zuletzt für die Funktionsweise der parlamentarischen Institutionen. Es entstehen neue Milieus von „Gleichgesinnten“, die mit den alten alles andere als identisch und schwierig zu integrieren sind. Grüne, Liberale, Piraten und partiell auch die Linkspartei zeigen, wie das Streben nach parlamentarischer Vertretung, zunächst auf Durchsetzung gerichtet, institutionelle Funktionsfähigkeit, "Regierbarkeit" und Integration erschweren kann. Wer, wie die traditionellen Volksparteien, einer Office-Seeking-Function und der Idee umfassender Verantwortung verpflichtet bleibt, muss die unterschiedlichsten Lebenswelten jenseits eines vorgeblichen "Markenkerns" ansprechen.
Was bedeutet aber eine derartige Angebotsdifferenzierung für die Integrations- und Mobilisierungsfähigkeit von Parteien? Kleinere scheinen eher die Chance auf spezifische Korrespondenz mit dem einen oder anderen der je aktuellen "Milieus" zu haben,
Gesellschaftliche Entwicklungen greifen inzwischen weiter als die üblichen Überlegungen, inwiefern sozialer Wandel und normative Ansätze in Theorie und Rechtsprechung zur Deckung zu bringen sind. Prinzipiell und in der aktuellen Vertrauenskrise scheint die Idee "integrativer Repräsentanz" durch Parlamentarismus keineswegs ausreichende Popularität zu besitzen. Auch langfristig steht hinter repräsentativer Demokratie nur ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger, hinter der direkten Demokratie aber eine Mehrheit zwischen 51 Prozent und 55 Prozent. Dass sich Abgeordnete in erster Linie an den Interessen der Bevölkerung orientieren, meinten Anfang der 1990er Jahre 42 Prozent, 2010 nur noch 15 Prozent. Zugleich wurde Politikerinnen und Politikern ausgesprochene Bürgerferne attestiert.
Das im Kern antiinstitutionelle Bedürfnis nach "Selbstregierung" entspricht jedenfalls eher dem Individualisierungstrend als einem gemeinwohlorientierten Partizipationsbedürfnis. Dabei kann nicht einmal mehr von einer befriedigenden, integrativen Wirkung von Plebisziten ausgegangen werden, wenn – wie bei "Stuttgart21" artikuliert – engagierte Akteure nur Abstimmungsergebnisse akzeptieren wollen, die ihrer Intention entsprechen. Dabei lässt sich der Eindruck, die Protestkultur sei gewachsen, empirisch nicht belegen.
Aus ihnen herausführen könnten ergänzende neuere projektbezogene zivilgesellschaftliche Vertretungs- und Delegationsstrukturen neben den üblichen Formen repräsentativer Demokratie, aber in Kooperation mit ihnen. Beispiele gibt es etwa in Norwegen, Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz, Experimente auch in Deutschland.
Legitimation
Kein anderer Akteur außer dem Parlament besitzt in der Regel die Kompetenz, verbindliche politische Entscheidungen zu legitimieren. Darüber hinaus verlangt das Verfassungsgericht, alles, was wesentlich ist, der Regelung durch den Gesetzgeber zu unterwerfen.
Aber selbst diese stößt – wie neuere Tendenzen der Externalisierung der Politikformulierung durch Auftragsvergaben für Gesetzentwürfe an Anwaltskanzleien oder fachlich spezialisierte Unternehmen sowie die befristete Anstellung von Verbands- und Wirtschaftsvertretern in den Ministerien zeigen – an Grenzen ihrer Kapazitäten und Kompetenzen. Von überschaubarem Umfang, scheint diese Externalisierung politisch noch beherrscht.
Tendenzen begründen allerdings noch keinen neuen Typus, wie Verfechter der Post-Parlamentarismus-These selbst einräumen, die vorerst nur Entwicklungslinien beschreiben und deren inhärente Grenze nicht berücksichtigen: die Parlamentarisierung der Regierung und deren Rechtfertigungszwänge gegenüber ihrer parlamentarischen Basis. Deren Wirksamkeit unterliegt allerdings in der Regel Loyalitäts- und Opportunitätserwägungen und ist folglich situationsabhängig.
Unstrittig sind in jüngster Zeit manifeste, vom Bundesverfassungsgericht mehrfach verurteilte
Im Jahr 2011 hat Bundestagspräsident Norbert Lammert, aus dem Spektrum der Fraktionen weithin unterstützt, der Regierung begründet vorgeworfen, sie agiere „grob verfassungswidrig“ bei der über ein Jahr anhaltenden Nichtanwendung eines geltenden Gesetzes (zur Sperrung der Kinderpornografie), beziehungsweise sie handele "grenzwertig" bei der Aussetzung der Wehrpflicht ohne gesetzliche Grundlage, eigentlich sogar gegen das noch bestehende Gesetz.
Beim jüngsten Evakuierungseinsatz des "Parlamentsheeres" wurde die notwendige Zustimmung dieses Parlaments auf der Basis einer "kuriosen Rechtsauffassung" umgangen. Fraktionsübergreifend wird der Bundestagspräsident auch in seiner Rüge unterstützt, den gesetzlichen Bestimmungen für die Beteiligung des Bundestags am "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit" zur Stabilisierung des Euros sei das Kanzleramt „nicht oder allenfalls unzureichend" gerecht geworden: durch vage Andeutungen, während die Medien bereits detailliert über die konkrete Initiative berichteten.
Soweit es angerufen worden ist, hat das Bundesverfassungsgericht diesen Tendenzen entschieden Grenzen gesetzt. Das Recht des Bundestages auf Mitwirkung in Angelegenheiten der EU setze eine intensive und frühzeitige Informationspflicht der Bundesregierung (Art. 23 GG) voraus – umso intensiver, je komplexer der Vorgang ist und je tiefer er in den parlamentarischen Zuständigkeitsbereich eingreift. Der Bundestag dürfe nicht in eine bloß nachvollziehende Kontrolle geraten und müsse sich fundiert befassen und äußern können, bevor die Regierung wirksame und bindende Erklärungen nach außen abgebe.
Legitimität fließt nicht aus Parteigremien, Kanzlerwillen, Koalitionsvereinbarungen, Regierungsbeschlüssen oder aus Verabredungen der Bundesregierung mit Ministerpräsidenten. Sie fließt allein aus der parlamentarischen Gesetzgebung unter Beachtung der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten. In der Missachtung dieses Grundsatzes liegt eigentlich schon mehr als "nur" eine Marginalisierung des Parlaments. Verfestigte sich diese Tendenz, verlöre das Parlament nicht nur seine Fähigkeit zur Teilhabe an der politischen Führung. Es würde auch des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger beraubt, die nicht daran interessiert sind, macht- und einflusslos vertreten zu sein. Um den Bundestagspräsidenten zu zitieren: "Es schadet dem Ansehen des Parlaments, wenn der Eindruck entsteht, als folgten wir vornehmlichen oder tatsächlichen Vorgaben, statt selbstständig zu urteilen und zu entscheiden."
Kommunikation
Die jüngsten Urteile des Bundesverfassungsgerichts orientieren sich strikt an der Unverbrüchlichkeit des Demokratieprinzips und seiner Umsetzung in einer Abfolge der Legitimation durch Bürgerwille, Wahl und Parlamentsentscheidung. Es wäre eine Fehlinterpretation, sie nur als Konfliktregelung zwischen Unions- und Nationalebene, Abgeordneten und Institution oder Parlament und Regierung zu interpretieren. Sie behandeln den Anspruch des Bürgers, im Rahmen der konsentierten Legitimationsstruktur regiert zu werden. Ausdrücklich beabsichtigen sie, ihn vor einem entsprechenden Substanzverlust zu bewahren, worin das Kernargument gegen eine Entleerung parlamentarischer Gestaltungsmöglichkeiten und mit ihr der legitimierenden Ratio des Wahlrechts zu sehen ist. Vielfach wird in diesem Kontext an das Prinzip parlamentarischer Öffentlichkeit als Voraussetzung für die Einbeziehung der Bürger und der Kontrolle der Politik durch sie erinnert. Wichtigen Entscheidungen "muss deshalb grundsätzlich ein Verfahren vorausgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten".
Aber Parlamente verfügen nicht autonom über ihre Außenbeziehungen. Demokratische Legitimation bleibt in der Massendemokratie stets auch journalistischen Selektions- und Interpretationsmustern unterworfen, die ihrerseits politischen Legitimations- und Kontrollprozessen nicht ausgeliefert sind (und nicht sein dürfen). Über den Zugang zur Öffentlichkeit entscheiden durchaus auch von der Kommerzialisierung der elektronischen und der Boulevardisierung zahlreicher Printmedien bestimmte Nachrichtenwerte. Zugespitzt formuliert: Während ehedem parlamentarische Öffentlichkeit sensationell war, muss heute im Parlament Sensationelles geschehen, damit es öffentlich wird. Klagen über Vermittlungsdefizite sind vielfältig und pointiert.
Wie bedeutsam ist diese Außendarstellung noch? Oft weisen Klagen darauf hin, dass der auf Meinungsbildung und Legitimation einwirkende Dialog immer weniger in den institutionellen Arenen stattfindet, sondern "politische" Öffentlichkeit andernorts, speziell in Talkshows, hergestellt wird. Für die Akteure wird es immer unwichtiger, über parlamentarische Öffentlichkeit zu verfügen. Die politische Auseinandersetzung findet um Anteile an der Fernsehkommunikation statt und keineswegs nur über die Kontroversen zwischen Politikern, sondern um die oberflächliche Interpretation politischer Realität zwischen Politikern, Medienmachern und Prominenten.
Die "Fernsehdemokratie" ist Parlamentsdemokratie nur in höchst eingeschränktem Maße. Aufgrund von Bedeutung und Reichweite dieses Mediums ist es stilbildend geworden, hat die Logik der bildlichen Information zur Logik der Massenkommunikation insgesamt avancieren lassen
Gleichzeitig führt die extreme Personalisierung der Politik zu einer übermäßigen Konzentration auf Persönlichkeitseigenschaften von Kandidaten und Amtsinhabern statt auf politische Positionen und Tugenden. Politische Führungspersönlichkeiten müssen maximalen Nutzen aus dem Mediensystem ziehen. Trotz mancher Gegenbeispiele zeigt sich im nationalen wie internationalen Kontext, dass der Gewinn von Führungsämtern mit Telegenität und Beherrschung des spezifischen journalistischen Zeichensystems zunehmend korrespondiert. Dem deliberierenden Parlamentarismus widerstreitet medialisierte Politik in drei Dimensionen: Zum ersten verliert Politik, die der visuellen Logik der Fernsehinszenierung entspricht, bei den Rezipienten an Seriosität; sie wird – wenn überhaupt – im Kontext des Unterhaltungsbedürfnisses wahrgenommen. Zum zweiten entspricht sie nicht der tatsächlichen Komplexität politischer Willensbildungsprozesse. Ihre dramaturgischen Notwendigkeiten lassen Kontinuität und Rationalität vermissen. Die elektronisch hoch sensibilisierte Nation bedarf beständig neuer Reize. Zum dritten wird fast ausschließlich das "Zeigbare" vermittelt. Karriere gemacht haben die Stichworte Visualisierung, Personalisierung und Ritualisierung.
Euphorie und Ernüchterung
Euphorische Hoffnungen richteten sich auf "Computer-Demokratie"
Die Geschichte des Parlamentarismus ist eine Geschichte seiner Herausforderungen. Aktuell entfalten sich diese keineswegs in Deutschland allein, blickt man nur auf grundsätzlich stabile Demokratien. Selbst Capitol Hill in Washington, D.C. verlor jüngst an Identität, Macht und Kontrollpotenz – ja sogar an Respekt der Exekutive. Das britische Unterhaus kämpft um seine Kommunikations- und Kontrollkompetenz. Ob Frankreichs "rationalisierter" Parlamentarismus sich zu emanzipieren versteht, bleibt offen. In Italien schließlich gehört das Regieren mit Notstandsdekreten seit Jahrzehnten zum Normalzustand.
Wenn der liberale Rechtsstaat "ein moralisches Gut ersten Ranges" ist und "seine Verwirklichung in der repräsentativen Demokratie" als eine „der intelligenten Erfindungen, die die Menschheit im Felde der Politik gemacht hat" gelten kann,