Stehen die westlichen Demokratien vor Umwälzungen von revolutionärem Ausmaß? Gewiss – die parlamentarische Demokratie in Deutschland hat in den über sechs Jahrzehnten ihres Bestehens viel geleistet. Wir verdanken ihr Stabilität – mittlerweile ist sie mehr als viermal so alt wie die notorisch instabile Weimarer Republik. Wir verdanken ihr relativen Wohlstand und Frieden – zwei unabdingbare Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Maß an Freiheit. Dies alles kennzeichnet den Status quo der Gegenwart, der nicht blindlings in Stücke geschlagen werden sollte. Doch gibt es mehrere gewichtige Gründe, die dafür sprechen, dass es nicht mehr so wie in den vergangenen sechs Jahrzehnten weitergehen wird. Denn es überlagern sich mehrere Entwicklungen, die nicht beliebig in die Zukunft verlängert werden können.
Da wäre zum einen eine grundlegende Veränderung der politischen Kultur. Seit den 1970er Jahren gibt es eine Reihe von Trends, die über die Jahrzehnte stabil sind und für eine Abkehr vom klassischen Parlamentarismus stehen: sinkende Wahlbeteiligung und Mitgliederschwund bei den großen Volksparteien, ein sprunghafter Anstieg von durchgeführten Volksbegehren seit den 1990er Jahren und schließlich neue Formen der subversiven politischen Agitation vertreten durch Initiativen wie WikiLeaks oder Anonymous. Sie sind durch das Internet getragen, radikal, mithin extrem, ohne dabei ins klassische Schema von "rechts" und "links" zu passen.
Das aus dem 20. Jahrhundert geerbte Konzept der Volkspartei passt immer weniger zu den Menschen der Gegenwart. Einerseits können sich die Menschen immer weniger mit politischen Pauschalangeboten wie "konservativ" oder "sozialistisch" identifizieren, andererseits sorgte in den vergangenen Jahrzehnten die Professionalisierung des Politikgeschäftes – Stichworte sind Mediendemokratie und politische PR – dafür, dass die Menschen nicht zu Unrecht das Gefühl haben, die politische Klasse schotte sich ab und entschwebe in eine Wirklichkeit, die mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit nicht mehr viel gemeinsam hat.
Zum anderen durchleben wir in der Gegenwart eine gewaltige Medienrevolution. Schon immer hatte der Wandel der Kommunikationskultur gravierende Auswirkungen auf die politische Kultur. Das fing an mit der Erfindung der Schrift. Der Weg führte weiter über die Buchstabenschrift bei den Griechen, die Erfindung des Buchdrucks, die Herausbildung des modernen Zeitungswesens bis zur Erfindung von Radio und Fernsehen. Die bislang letzte Stufe dieser Entwicklung stellt das Internet dar. Und allmählich offenbart sich die politische Tragweite dieses neuen Kommunikationsmediums: Blogs, Twitter und zahlreiche alternative Nachrichtenseiten bilden heute ein Unterholz der politischen Meinungsbildung, in der die "Bäume" der Massenmedien immer öfter wie morsches Gehölz wirken. Wie immer bringen auch hier neue Freiheiten neue Gefahren mit sich, von Cyber-Mobbing über Internetsucht bis hin zur unbeschränkten Entfaltung von politischem Fanatismus. Bislang hat sich in vergleichbaren Situationen jedoch stets das Mehr an Freiheit durchgesetzt, ohne dass die Menschheit dadurch dauerhaften Schaden erlitten hätte.
Zum dritten schwebt über der westlichen Welt das Damoklesschwert einer historischen Verschuldungskrise. Auch vergangene Revolutionen wie die Französische Revolution oder der Zusammenbruch des Ostblocks waren im Wesentlichen durch Verschuldungskrisen verursacht. Es ist erschütternd, wie hilflos die europäischen Eliten angesichts dieser hausgemachten Krise wirken: Die Wahl zwischen eisernem Sparen und einer – notgedrungen schuldenfinanzierten – Wachstumspolitik gleicht der Wahl zwischen Pest und Cholera. Beide Wege führen ins Verderben. Denn betrachtet man das westliche Finanzsystem mit dem Blick eines Naturwissenschaftlers, wird klar, dass es nicht dauerhaft stabil sein kann: Zins und Zinseszins sind die wichtigsten Triebkräfte hinter dem Auseinandergehen der sozialen Schere, was früher oder später zum Kollaps führen muss. Denn das durch den Zins bedingte, sich selbst beschleunigende Wachstum von Vermögen und Schulden kennt keine natürlichen Grenzen. Wo durch stumpfsinnige Reinvestition von Kapitalerträgen Vermögen ins Unendliche anwachsen können, ohne eine natürliche Sättigung zu erreichen, ist die Katastrophe programmiert.
Was ist seit 2008 nicht alles geschehen, das uns im Westen klar vor Augen führte: Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus in seiner jetzigen Form beruht auf grundlegenden Fehlkonstruktionen. Was muss noch geschehen, bis eine Mehrheit der politischen Klasse begreift, dass mit allen Rettungsmaßnahmen bisher nur Zeit gekauft wurde, ohne das Grundproblem zu lösen? Und diese Zeit wird immer teurer. Schließlich könnte ein Weiter-so des eingeschlagenen Weges uns sogar die Demokratie kosten. Zu sehr gleicht das Brüsseler Regime schon jetzt einem Notstandskabinett. Die europäische Verschuldungskrise darf unter keinen Umständen als ein solcher Notstand missbraucht werden, mithilfe dessen das kostbarste Gut des politischen Europas ausgehebelt wird: die Demokratie.
Visionen für die Zukunft
Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Schon jetzt erweist sich der Mangel an Demokratie als fatal, etwa wenn es um die Rettung des Euros geht. Meinungsumfragen aus der Zeit der Einführung des Euros zeigen klar, dass die Gemeinschaftswährung in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland höchst kontrovers war. Dieses Meinungsbild spiegelte sich damals jedoch nicht im Parlament wider, wo 672 von 722 Parlamentariern für die Aufgabe der D-Mark beziehungsweise die Einführung des Euros stimmten. Auch in den Massenmedien fand kaum eine Kontroverse über dieses heikle Thema statt.
Schon damals also taten sich tiefe Gräben auf zwischen Parlament und Bevölkerung, zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung. Dagegen hätte eine echte demokratische Debatte über die Einführung des Euros entweder die Einführung verhindert oder aber zu einem gesellschaftlichen Konsens für die Gemeinschaftswährung geführt – der heute fehlt. So aber schreitet die Entfremdung von Bevölkerung und politischer Klasse weiter voran. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Zur inneren Krise des Westens kommen veränderte äußere Umstände hinzu. Wir befinden uns an einer historischen Schwelle. Das Ende des Ostblocks und der Aufstieg neuer Mächte verschoben die Achsen der geopolitischen Konfrontationen. Die altehrwürdigen Kulturen Indiens und Chinas drängen mit aller Macht wieder auf die Plätze der ökonomischen, kulturellen und politischen Geltung, die sie die längste Zeit der Geschichte inne hatten. Die Dominanz des Westens über die Welt scheint beendet. Damit schließt sich ein Kreis, der vor 500 Jahren begann. Die Handwerkskultur des späten Mittelalters und die Industrialisierung hatten jenen zivilisatorischen Vorsprung gegenüber dem Rest der Welt erarbeitet, der es den europäischen Mächten erlaubte, entfernteste Weltregionen zu unterwerfen. Technische und ökonomische Effizienz sind jedoch nicht mehr länger ein Monopol des "weißen Mannes". Will Europa auch weiterhin eine bedeutende Rolle für diesen Planeten spielen, so muss es andere Wege finden.
Worin könnte dieses Neue bestehen? Im europäischen Einigungsprozess? Bis auf Weiteres ist dies zu verneinen. Denn die EU bleibt bislang das Versprechen schuldig, dauerhaft die Fortschritte aufgeklärter Humanität zu institutionalisieren. Schuldig bleibt sie vor allem das Demokratie-Versprechen: Die Bürgerinnen und Bürger Europas wählen ein Parlament, das demokratischen Minimalstandards nicht genügt. Sie unterliegen einem Europäischen Gerichtshof (EuGH), welcher der Gewaltenteilung spottet. Denn im Unterschied etwa zum Bundesverfassungsgericht werden dessen Richter ausschließlich durch die Exekutive bestellt. Fast wirkt es so, als ob es weniger um den Aufbau einer europäischen Demokratie gehe, sondern um die Errichtung eines zweiten Imperium Romanum.
Die Zukunft der europäischen Demokratien wird nicht in Brüssel geschrieben, sondern von vielen Tausend Menschen vor dem Bildschirm und der Tastatur. Im Netz wird die neue politische Leitidee des Westens geboren, nicht in den Köpfen der Europäischen Kommission. Es geht um nichts anderes als um die nächste Stufe der Demokratisierung. Der Erfolg der Piratenpartei ist das markanteste, aber beileibe nicht das einzige Signal eines anstehenden Aufbruchs des politischen Bewusstseins. Neue Formen der Demokratie sind im Entstehen. Wohin könnte die Reise gehen?
Neue Formen der Demokratie
Zu denken wäre etwa an eine Mischung von repräsentativer und direkter Demokratie. In einem solchen System, das internetbasiert umgesetzt werden könnte, hätte jede Bürgerin und jeder Bürger die Möglichkeit, die eigene Stimme entweder durch einen Parlamentarier vertreten zu lassen oder aber das Stimmrecht direkt im Parlament wahrzunehmen.
Ein derartiges System dürfte freilich nur ergänzend zum bisherigen Wahlsystem eingeführt werden – nicht alternativ. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass dem Internet ferner stehende Menschen ausgeschlossen würden. Es darf auch die basisdemokratische Idee nicht dahingehend verwässert und letztlich verraten werden, dass schlussendlich doch nur eine kleine technisch versierte Elite die Politik dominiert.
Eine derartige Reform der Demokratie mag heute noch wie ein Luxus oder eine ferne Utopie erscheinen. Doch es besteht die Gefahr, dass die heranwachsende netzaffine Generation mit einer Kommunikationskultur aufwächst, zu welcher unsere jetzige Demokratie den Anschluss verloren hat. Wie könnte das verhindert werden?
Mittelfristig werden wir um einen offenen Prozess nicht herumkommen, der unsere politische Ordnung auch auf Verfassungsebene umbaut. Die Ziele könnten dabei lauten: mehr Demokratie, mehr Bürgerbeteiligung, mehr Transparenz, mehr Individualität und Pluralität und weniger Macht den Parteien und Institutionen.
Einerseits sollte Hinterzimmer-Politik nach dem Stil der ACTA-Verhandlungen
Analoge Antworten sind auch auf die Frage nach der gesellschaftlichen Solidarität zu finden. Bei all der Schaumschlägerei um die "Macht der Märkte" oder die "Euro-Rettung" darf nicht vergessen werden, dass es letztlich um das Leben und Überleben von Millionen Menschen geht – in Griechenland, in Spanien und auch in Deutschland.
Bis dahin gilt es, im begrenzten Rahmen möglichst viele Erfahrungen mit neuen Formen netzbasierter Demokratie zu sammeln. Regionalpolitik ist hierfür besonders geeignet. Die Kluft zwischen Bürgern und Politikern ist hier vergleichsweise gering, sind Ratsmitglieder in Gemeinden doch in der Regel auch "nur" im Nebenberuf Politiker. Transparente Formen der Politik, in der zu jedem Zeitpunkt die Bürgerinnen und Bürger in den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess eingebunden sind, ließen sich hier vergleichsweise einfach umsetzen. Und Deutschland bietet aufgrund seines stark ausgeprägten Föderalismus ideale Voraussetzungen, zu einer Art Musterland für die "Demokratie 2.0" zu werden.
Um hierfür Gestaltungsfreiräume zu gewinnen, ist eine Beendigung der Schuldenkrise unabdingbar, was nur durch einen Neustart des westlichen Finanzsystems bewerkstelligt werden kann. Denn klar ist: Nur wer ökonomisch nicht mit dem Rücken zur Wand steht, hat die Freiheit, sich in den demokratischen Gestaltungsprozess der Gesellschaft einzubringen.
Mit Neustart ist zweierlei gemeint: Zum einen brauchen wir einen allgemeinen, globalen Schuldenerlass, der zunächst die Symptome der Krise beseitigt. Zum anderen brauchen wir eine Geldordnung ohne eingebautes Verfallsdatum, wozu ein radikales Umdenken notwendig ist.
Dabei sollte klar sein: Die "unteren 99 Prozent" der Vermögenspyramide sollten unbeschadet durch die vermutlich kommenden Verwerfungen gehen, denn sie sind unschuldig an dem Entstehen der Krise. Verzichten muss das eine Prozent, allen voran die 300 reichsten Menschen und Institutionen. Ob etwa eine Familie über ein Vermögen von 500, 50 oder gar nur 5 Millionen Euro verfügt, ist sozialpolitisch unerheblich, denn die meisten Menschen besitzen sehr viel weniger – 50 Prozent der Deutschen haben überhaupt kein nennenswertes eigenes Kapital. Ob aber eine alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin monatlich 50 Euro mehr hat, für die Kinder, für einen Kinobesuch oder einen Kurzurlaub, ist dagegen alles andere als unerheblich.
Eine Revolution wird es mit Sicherheit geben. Ob im wörtlichen oder übertragenen Sinne, hängt davon ab, ob die Eliten des Westens den tieferen Gehalt der anstehenden Zeitenwende begreifen. Die bisherigen Krisenmanager und Institutionen wie der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank haben sich als unfähig erwiesen, die in das fünfte Jahr gehende Finanzkrise auch nur ansatzweise zu lösen. Wir täten gut daran, demokratisch nicht legitimierte Institutionen nicht länger als Autoritäten des globalen Finanzsystems zu akzeptieren.