Kultur ist paradox. Dem Geist der jeweiligen Epoche entspringend, aber vom Zeitgeist unabhängig, durchzieht sie unsere Geschichte. Das bedeutet nicht, dass sie nicht aktuell, auf konkrete Ziele hin orientiert und engagiert, ja militant sein kann. Es bedeutet, dass Kultur auch losgelöst vom Zeitgeschehen wie ein Strom in eigenen Rhythmen fließt. In souveräner Ungleichzeitigkeit. Auch in "dürftigen" Zeiten, wie Friedrich Hölderlin es nannte, oder – wie wir heute zu sagen pflegen – in Zeiten der "Krise".
"Wozu Dichter in dürftiger Zeit!" – Hölderlins Werk ist die Antwort auf seinen eigenen, am Zeitgeist verzweifelnden Sinn. Auf ihn, den Deutschen, bezieht sich der griechische Dichter Odysseas Elytis in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1979: "Wie soll ich mich hier nicht auf Friedrich Hölderlin beziehen (…). Es ist eben das Übel, das uns auch heute bedrängt, das ihn aufrufen ließ: Wozu Dichter in dürftiger Zeit! Die Zeiten sind, leider Gottes, seit eh und je für den Menschen dürftig gewesen. Aber auch seit eh und je hat die Dichtung ihre Funktion erfüllt."
In Griechenland indessen scheint es so zu sein, als hätten es Geschichte und Geschichtsschreibung einerseits und die Kultur andererseits bewusst und besonders häufig gemieden, auf dem selben Weg zu gehen.
Ein Beispiel betrifft die Kultur in ihrem gesellschaftlichen Sinne in weit zurückliegender Vergangenheit. Sie tritt in geminderter Form zugleich als Garant eigener Identität in einer außerordentlich langen Geschichtsperiode des Landes in Erscheinung: während der osmanischen Herrschaft (1453–1821). Als die Renaissance in Europa, sich an der griechischen Antike orientierend, die Fundamente der Neuzeit setzte, befand sich Griechenland für 400 Jahre unter einer weitestgehend fremden Herrschaft. Kultur reduzierte sich auf ein Minimum, das heißt auf zwei elementare Bereiche: den christlichen Glauben und die kommunale Selbstverwaltung durch gewählte Vertreter. Beides waren Zeichen der, wenn auch punktuellen Toleranz der Besatzer – gewährt in der Hoffnung auf eine geregelte Steuereinziehung durch die Untergebenen selbst.
Die griechische Sprache lebte als genuine Identität weiter und fand ihren höchsten Ausdruck in anonymen, zum Teil revolutionären Volksliedern (die Besonderheit griechischer Volkslieder beeindruckte unter anderem Johann Wolfgang von Goethe, der sich auch als ihr Übersetzer versuchte). In diesen anonymen Liedern werden einige Formen und inhaltliche Elemente der Antike tradiert; in ihnen floss der Strom unabhängig von der "Zeit" weiter, auch wenn mitunter die Gegebenheiten der Zeit besungen oder beklagt wurden.
Näher an unserer Zeit und Erinnerung liegt die "Kleinasiatische Katastrophe" in den 1920er Jahren. Getrieben von der Megali Idea (Große Idee), der Vorstellung einer weiteren Befreiung von Gebieten der heutigen Türkei, die einen hohen griechischen Bevölkerungsanteil hatten
Über diese Zeit ist in den folgenden Jahren in Griechenland viel geschrieben worden. Doch das erste Buch, das frei von beiderseitigen aggressiven Vorurteilen war, erschien erst im Jahr 1962: "Blutgetränkte Erde" von Dido Sotiriou.
Ähnlich verhält es sich mit der "Bewältigung" der geschichtlichen Ereignisse in den 1940er Jahren. Wobei die Literatur und die Volkslieder während der deutschen Besatzung (1941–1944) – naturgemäß als Widerstand im Untergrund – mit der Geschichte Schritt hielten und sich auch nach der Befreiung als thematische Einheit fortsetzten.
Eine solche "Bewältigung" in Bezug auf die griechischen Bürgerkriege (1943–1944 und 1946–1949) findet hingegen erst ein Lebensalter später statt. Noch in den 1950er Jahren wurde sie von der restaurativen Politik der Regierenden regelrecht verhindert, indem "Linke" – eine gängige Pauschalisierung von Andersdenkenden – verfolgt wurden. Ein Meilenstein hinsichtlich der direkten wie auch indirekten Aufarbeitung der eigenen Geschichte samt autobiografischer Traumata ist das schmale Werk von Thanassis Valtinos "Der Marsch der Neun" (erstmals 1963 mit dem Originaltitel "Der Abstieg der Neun" erschienen). Frei von jeglichen Ideologemen zeigt er die Tragödie des eigenen Volkes.
In der Gegenwart – in der Zeit der sogenannten Krise – scheint sich in Griechenland diese Art der Ungleichzeitigkeit von Kultur in umgekehrter Richtung zu bewähren: Dichter aus längst vergangenen Zeiten werden in Presse und Medien, in Parlamentssitzungen und politischen Pressekonferenzen zitiert. Erstaunliches taucht auf wie etwa das Gedicht "In einer großen griechischen Kolonie, 200 v. Chr.", geschrieben im Jahr 1928 – ein Jahr vor der weltweiten Wirtschaftskrise – von dem international bedeutendsten griechischen Dichter aus Alexandria, Konstantinos Kavafis (1863–1933).
Kultur als Widerstand
Griechenland befindet sich gegenwärtig in einer besonders schwierigen Lage. Armut und Arbeitslosigkeit steigen, die Abhängigkeit von ausländischen Krediten, die ohne korrigierende Maßnahmen zum wirtschaftlichen Aufbau gewährt werden, führt zu einem weitverbreiteten Unbehagen. Die verschuldete Klientelgesellschaft steht zweifellos vor einem Umbruch, der sich aber nicht so schnell vollziehen kann, wie es nötig wäre.
Währenddessen wächst das Aufbegehren gegen das "politische System" und die immer noch steuerflüchtigen ökonomischen "Oligarchen" innerhalb und außerhalb des Landes. Überhaupt: Schuldzuweisungen betreffen nicht nur die mysteriösen "Märkte" und die namentlichen Bewertungsagenturen, sondern auch sie selbst: Denker der Nation und Intellektuelle jeglicher politischer Couleur sprechen von nationaler Dekadenz, vom Niedergang, von einer humanen Katastrophe, in die man durch die globale hedonistische Konsumgier getrieben worden sei, und immer wieder vom Verfall der Werte.
In der Krise fällt das Moralisieren leicht – auch das ist kein ausschließlich griechisches Phänomen. Der Pessimismus treibt seit jeher in schweren Zeiten und mit den immer gleichen Begriffen seine bösen Blüten. Dabei kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass dieser Diskurs noch in seinen Anfängen steckt: Denn die Situation bleibt trotz glänzender und kontroverser Analysen unfassbar. Für die Wissenschaft von Interesse, für die Bevölkerung existenziell.
Griechenland und Deutschland
Zu den bösen Blüten der "Krise" gehören die getrübten Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland in breiten Schichten der Bevölkerung beider Länder. Die Animosität der Griechinnen und Griechen gegenüber ihrem – wichtigsten – Kreditgeber ist nicht allein auf dessen Politik zurückzuführen, auch wenn das Brüsseler Mnimonio (Memorandum) von einem großen Teil des politischen Spektrums infrage gestellt wird, wie die Ergebnisse der Parlamentswahlen im Mai und Juni 2012 deutlich zeigten. Sie liegt vielmehr in der Art und Weise begründet, wie diese Politik zum Ausdruck gebracht wird, und vor allem im Verhalten der Medien – insbesondere der deutschen.
Man muss hier darauf hinweisen, dass die deutsch-griechischen Beziehungen im Laufe der Zeit schon immer ungewöhnliche Höhepunkte und unerfreuliche, ja, fatale Tiefpunkte aufwiesen. Deutschland ist das Land, in dem sich in früheren Jahrhunderten der europäische Philhellenismus am stärksten entfaltete und das nach der Gründung des neugriechischen Staates den ersten "König der Griechen" stellte: Otto von Wittelsbach.
Das Pendel schlug auch im 20. Jahrhundert oft um. Zunächst in Richtung einer ernsthaften bilateralen Annäherung im Zeitraum zwischen den zwei Weltkriegen, von der die Griechen erheblich profitierten, unter anderem durch das Studium an deutschen Universitäten. Darauf folgten der Überfall der Nationalsozialisten auf Griechenland und die Besatzungszeit (1941–1944), die den radikalen Bruch jeglicher Beziehungen bedeuteten. Einige Jahrzehnte später gewährte die Bundesrepublik Deutschland den griechischen Demokraten ihre Unterstützung gegen das Militärregime (1967–1974): durch tägliche, in Griechenland gehörte, gegen die Junta gerichtete Sendungen der "Deutschen Welle" und durch konkrete Maßnahmen seitens der höchsten politischen Instanz und mit bleibender Wirkung – wie die Befreiung von Giorgos A. Mangakis
Heute hingegen bestimmen gegenseitige Animositäten die öffentliche Meinung in beiden Ländern. Griechischerseits macht sich Kritik – oftmals zusammenhanglos – an der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands fest, besonders in Karikaturen und im Kabarett. In Deutschland bedient man sich hierfür seltsamerweise der griechischen Antike: Die Akropolis wird in unsäglichen Erzeugnissen, schlimmer als ein Lord Elgin es je vermocht hat, bildlich zerstört, den Griechen wird der Verkauf des Parthenon angeraten.
Aber zur selben Zeit besinnen sich deutsche Autorinnen und Autoren auf Hellas als Inspirationsquelle und begriffliches Reservoir. So Günter Grass in seinem Gedicht über "Europas Schande"
Rezeption Griechenlands und griechisches Bewusstsein
Die griechische Antike hat im abendländischen Raum eine grundlegende Bedeutung, die sich am deutlichsten in Deutschland manifestiert. Zunächst in der besonderen Tradition des Zu-den-Quellen-Gehens, womit wir nicht nur Martin Luther assoziieren, sondern die Beschäftigung der Deutschen vornehmlich mit Hellas. Dadurch wurden sie im Rahmen des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert führend und vorbildhaft für Europa.
Nicht so in der Zeit davor. Die Idealisierung von Hellas als "edle Einfalt und stille Größe", wie Johann Joachim Winckelmanns Satz über die griechische Kunst folgenreich lautete, erklärt vielleicht die ängstliche Ferne, die "Abstinenz" vom realen Griechenland: Während all die "Reisenden" nach Griechenland fuhren, blieben sie – Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Hölderlin und viele andere – dem Land ihrer Sehnsucht fern. Das tat nichts zur Sache, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die "Gräkomanie" zum tyrannischen Einfluss wurde:
Die Griechen selbst erfahren ihr Verhältnis zur eigenen Antike naturgemäß als eine gegebene Zugehörigkeit, die sich aber im Laufe ihrer bewegten Geschichte mitunter als ambivalent erweist. Das Pendel schlägt auch hier große Bögen: mal als Legitimation eines in den 1920er Jahren aufkommenden, elitären Hellenozentrismus und einer mystischen Vision von Welterneuerung; mal als ein tief verankertes Gefühl von schwerer Bürde, so empfunden von einem der bedeutendsten Dichter der sogenannten Generation der 1930er Jahre und Nobelpreisträger für Literatur 1963, Giorgos Seferis: "Wer die schweren Steine trägt versinkt:/die Steine da ich hielt sie solang ich’s ertrug (…) Verwundet von meiner eigenen Erde/versengt von meinem eigenen Gewand."
Und wieder schlug das Pendel um, als die Militärjunta – eine reine Usurpation der Macht, ohne Massenbasis, ohne Ideologie – den Ahnenkult bis zur Perversion missbrauchte: Hellas musste, neben Byzanz, zu Zwecken der Propaganda herhalten, definitorisch verdichtet in der Selbstdarstellung als "Christlich-Griechische Zivilisation" (ellinochristianikos politismos). In einer Reihe antidiktatorischer Texte, gehalten in der Signalsprache der Geknebelten, lehnten einige der Autorinnen und Autoren einen derartigen Identitätsfaktor ab: "Ich pfeife auf dich und deine Gesetze (…) hatte Antigone dem aufgeblasenen Kreon ins Gesicht gerufen. (…) Wunderschön dein goldnes Zeitalter, Perikles! Ein wahrer Albtraum, wo die Menschen lieber sterben als in der goldenen Aura deiner Ära zu leben!"
Das "schwierige Geschäft, ein Grieche zu sein"
Bedeutete das einen tieferen Eingriff in das eigene Bewusstsein? Man hatte auch ohnedies schon früher ein "Griechenland ohne Säulen" in den Vordergrund zu stellen versucht, um sich von dem Bild zu emanzipieren, das die anderen von den Griechen hatten und das seit Winkelmann den Blick für die geschichtliche Realität und die Gegenwart trübte. In Wirklichkeit geht es um mehr: um verschiedene Facetten einer schwierigen Selbstfindung. Denn wer kannte schon jene Verletzung von Seferis: "Wohin ich auch reise, Griechenland verletzt mich"? Wer kannte jenes ekstatische Bild Griechenlands, das Elytis als "blendendes Licht" beschrieb? Wer kannte vor allem jene Wahrnehmung des Griechentums als Romiosini bei Jannis Ritsos?
Romiosini, so nennt Ritsos
Wie stellt man es an, Grieche zu sein? Die Dichter sprachen es auf ihre Weise aus. Bei Konstantinos Kavafis heißt es in mündlicher Überlieferung: "Ich bin nicht Grieche, ich bin griechisch." Eine Beteuerung, die uns zu einem griechischen Kulturpatriotismus führt, jenseits von geografischen Grenzen.
Das vielfältige Bild Griechenlands im 20. Jahrhundert könnte man vervollständigen mit Zeichen, die von international namhaften Griechen gesetzt wurden, wie Landschaften im Nebel in Filmen von Theo Angelopoulos, marxistische und heraklitische Philosopheme von Kostas Axelos, imaginär Institutionelles von Kornelios Kastoriadis, mathematisch strukturierte, elektronische Kompositionen von Iannis Xenakis. Nicht zu vergessen das Werk von Nikos Kasantzakis und sein Geschöpf Alexis Sorbas, der vor allem durch die filmische Interpretation zu einem missverstandenen Romanhelden wurde und der in Wirklichkeit nicht nur, wenn alles in Trümmern liegt, Sirtaki am Strand tanzt (mit den Schritten von Anthony Quinn), sondern einen Prototyp menschlicher Herzensgröße und Weisheit darstellt.
Das 20. Jahrhundert brachte über das Land, das immer in die Geschicke Europas miteinbezogen war, mehrere Kriege und Diktaturen, Vertreibung, Besatzung und Bürgerkrieg, war aber ein für die Kultur großes Jahrhundert. Es war voller Höhepunkte, die nicht nur in der Schöpferkraft von einzelnen Personen begründet waren, sondern auch aus einer eigenartigen Verschmelzung entstanden: Die griechische Kultur erreichte in den 1960er und 1970er Jahren eine Ebene, in der es keine Trennung mehr gab zwischen der sogenannten höheren und der anderen, der populären Kultur. Der Demos war plötzlich Teilhaber und Rezipient einer Einheit. Manos Hatzidakis und Mikis Theodorakis vertonten in der Tradition des Rebetiko, des Volksliedes der Städte, auch Verse von Dichtern, die Weltgeltung errungen hatten: Seferis, Elytis, Ritsos. Hohe Lyrik und populäre Musik vereinten sich in Liedern, die bis heute von allen gesungen werden wie hierzulande Schlager – ein einzigartiges Phänomen in Europa.
Man hat es eine "massenübergreifende Eigenartigkeit des griechischen Geistes" genannt und ist davon überzeugt, dass jeder Hirte in Arkadien "genau versteht, was diese Dichtung sagen möchte"
Griechenland und Europa
Die Griechen sind noch in ihrer großen Mehrheit überzeugte Europäer. Giorgos Mangakis, ein prominenter Gefangener der Militärjunta, schrieb in seinem 1972 aus dem Gefängnis herausgeschmuggelten "Brief an die Europäer",
Indessen fragt man sich weiter, wie man "Grieche" sein kann. Die Antwort ist nicht verwegen. Sie liegt im Aufblühen der Kultur in der "Krise". Sie setzt heute ihre Zeichen: Übergreifend und von hoher Qualität entfaltet sie sich überall in Griechenland, im Dorf, in den Städten, im verwahrlosten, verletzten Athen und verweist auf die Zukunft. Neben den "gekürzten" Möglichkeiten kulturellen Ausdrucks im offiziellen Gewand brodelt freiwillig und "ohne Geld" in allen Sparten der Kunst ein Leben voller Lust, das ein begeistertes Publikum mitreißt, ein Publikum, um das es hauptsächlich geht: Kultur entsteht jetzt weitgehend in der Gesellschaft und für sie, vielfältig und spontan, politisch oder nicht, in alten Foren, den öffentlichen und privaten, und in den neuen, den elektronischen mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten.
Und die Dichter? Noch unbekannt, werden sie bald die „kämpferische Unschuld“ namentlich weitertragen. In Griechenland. Weiter nach Europa. Vielleicht in die Welt. So war es immer gewesen. "Wie soll ich mich nicht auf Hölderlin beziehen?", wie Elytis einst sagte. Noch früher, im Jahr 1959 im geteilten Deutschland, schrieb der deutsche Dichter Peter Rühmkorf im Stil und Geist Hölderlins, um auf seine Art seinen Zeitgenossen zuzurufen, was heute gehört werden sollte, in Griechenland, aber auch in Europa: "Dass ein künftig Geschlecht euch anständig spreche./Größe von eurer Größe zu nennen weiß/und Nein von Eurem Nein."