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Politische Kultur in Griechenland

Heinz A. Richter

/ 15 Minuten zu lesen

Das Griechische ist fast die einzige europäische Sprache, in der es das Wort Republik nicht einmal als Lehnwort gibt. Im modernen Griechischen bedeutet Dimokratia sowohl Demokratie als auch Republik. Bevor in der Antike in Griechenland etwas entstehen konnte, was der römischen res publica gleichgekommen wäre, verlor Griechenland seine politische Unabhängigkeit und die Fremdherrschaft begann: zuerst die der Makedonen, dann die der Römer, Byzantiner und schließlich die der Osmanen. Fast 2000 Jahre lang hatten die Griechen keinen eigenen Staat.

Vom 15. bis zum 19. Jahrhundert waren Griechenland und die übrigen Länder des Balkans Teile des Osmanischen Reiches. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Herrscher war die Vernichtung der bisherigen Oligarchie, also der Aristokratie, da diese die Führung in potenziellen Aufständen hätte übernehmen können. Übrig blieben die ursprünglich gewählten lokalen Dorfbürgermeister, die sogenannten Muchtare, welche die osmanische Regierung vor Ort vertraten. Sie hatten eine doppelte Funktion: Einerseits wurden sie zu Führern und Beschützern der örtlichen Bevölkerung, andererseits waren sie Objekte osmanischer Repression, wenn in ihrem Verantwortungsbereich etwas schiefging.

Aus ihrer Funktion als Beschützer gewannen sie in den Augen der Beschützten Prestige und Macht. Als Gegenleistung erwarteten sie Loyalität von ihren Hintersassen. Die Osmanen belohnten treue Dienste, und so wurden diese lokalen Notabeln im Laufe der Zeit wohlhabend – und oft zu Geldverleihern und Wucherern. Dieses äußerst profitable Geschäft – 30 Prozent Zinsen waren üblich – führte zu einer wachsenden Abhängigkeit der örtlichen Bauern. Diese Abhängigkeitsbeziehung existierte im ganzen Osmanischen Reich und wird als Muchtarsystem bezeichnet. Es ist der historische Ursprung des heutigen Klientelsystems.

In Teilen Griechenlands währte die osmanische Herrschaft über 400 Jahre. Während in Westeuropa ein selbstbewusstes Bürgertum entstand, das den Staat als das eigene Staatswesen und die eigene bürgerliche Republik empfand, war der Staat für viele Griechen gleichbedeutend mit Fremdherrschaft, gegen die es sich zu wehren galt. Steuervermeidung und Diebstahl von staatlichem Eigentum waren typische Abwehrreaktionen. Diese Einstellung wurde zu einer Tradition, die bis heute fortwirkt.

Anfänge des Klientelismus

Als 1821 der griechische Unabhängigkeitskrieg begann, waren die klientelistischen Strukturen des Muchtarsystems die einzigen Kristallisationskerne für die politische Organisation des Kampfes. Während der Auseinandersetzung vernetzten sich die Muchtare horizontal und bildeten vertikale Strukturen, sodass pyramidenförmige Klientelnetzwerke entstanden. Da sie in der Regel keine militärischen Erfahrungen hatten, griffen sie auf die Anführer der Klephten (Räuber aus den Bergregionen) zurück, die sich der osmanischen Kontrolle entzogen. Als die Unabhängigkeit kam, gab es also eine klientelistisch organisierte Führungselite, welche die Klephtentradition aufrechterhielt, indem sie dieses Metier unter anderen Vorzeichen weiterbetrieb.

Der erste neugriechische Staat war zunächst eine Republik, aber diese passte nicht in die nach-napoleonische politische Landschaft der Restauration, weshalb Griechenland ein Monarch oktroyiert wurde. Der Monarch war ein König von Großmächte Gnaden, und das Land wurde zum Klientelstaat der europäischen Mächte. Die Großmächte übten ihren Einfluss auf das Land aus, indem sie ihre Anhänger kontrollierten. Diese waren in „Parteien“ organisiert, die aber im Grunde reine klientelistische Netzwerke waren. Es gab zunächst drei „Parteien“ – die russische, die englische und die französische. 1862 setzte Großbritannien eine neue Dynastie ein, und von da an waren die griechischen Monarchen britische Vizekönige und Griechenland ein britisches Protektorat.

Als der erste griechische König der Neuzeit, Otto von Wittelsbach (1832–1862), mit einer Handvoll bayerischer Verwaltungsbeamter nach Griechenland kam, zeigte sich rasch, dass er mit diesen das Land nicht regieren konnte. Er musste auf die klientelistischen Netzwerke zurückgreifen und sie in die Verwaltung integrieren. Auf diese Weise gewannen die Patrone Zugang zu staatlichen Geldern. Damit aber änderte sich der Charakter des bis dahin praktizierten Klientelismus. Bis dahin war die traditionelle Beziehung zwischen Patron und Klient von einer gewissen Freiwilligkeit der Unterordnung geprägt gewesen. Nun wurde der Klientelismus zu einem Zwangsmittel, um dem Individuum seinen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen. Die Patrone begannen, sich in die Politik einzumischen, und entdeckten rasch, dass der Klientelismus auch zu politischen Zwecken genutzt werden konnte. Um ihre Klientel an sich zu binden, verteilten sie Gefälligkeiten (Rousfetia). Dazu verwendeten sie oft gestohlene staatliche Gelder oder vermittelten Posten in der Verwaltung. Als Gegenleistung erwarteten sie, dass die Klientel bei den nächsten Wahlen für sie stimmte.

Als Großbritannien 1862 die alleinige Schutzmacht wurde, änderte sich der Charakter der griechischen "Parteien". Es entstanden "politische" Parteien – eine liberale und eine konservative Partei –, aber an deren klientelistischem Charakter änderte sich wenig. Der Staat wurde zum Ausbeutungsobjekt der jeweiligen Anführer der klientelistischen Pyramide. Postenschacher, Patronage, Korruption und das aus der US-Geschichte bekannte Spoils System (das bedeutet, dass der Gewinner einer Wahl das gesamte administrative Personal auswechselt) durchdrangen die staatliche Verwaltung, das Rechtssystem und das Militär.

Stimmenkauf bei Parlamentswahlen und Wahlfälschungen waren gängige politische Erscheinungen. Ende des 19. Jahrhunderts charakterisierte ein griechischer Abgeordneter dieses System als "politische Zuhälterei". Von 1862 an war Griechenland ein britischer Klientelstaat und der König ein britischer Statthalter. Von nun an folgten die griechischen Könige und Politiker der Maxime ti thelei o xenos paragontas (Was will der ausländische Faktor?). Wenn ein König, wie Konstantin I. (1913–1917 und 1920–1922) im Ersten Weltkrieg, versuchte, sich aus der klientelistischen Abhängigkeit von Großbritannien zu lösen, intervenierte die Schutzmacht, und der König verlor seinen Thron.

Klientelistische Parteien

Die aus diesem System hervorgegangenen politischen Parteien hatten auch im 20. Jahrhundert mit ihren europäischen Gegenstücken wenig gemein, außer dass sie sich Parteien nannten. Parteiprogramme, Parteiorganisationen oder Parteitage waren unbekannt, ebenso wie innerparteiliche Willensbildung von unten nach oben oder durch Diskussion unter den Mitgliedern. Die Partei war die Klientel des Parteiführers und seiner Granden. Bis in die 1990er Jahre entschieden die Parteiführer souverän über den einzuschlagenden Kurs. Danach verschob sich das Hauptgewicht zu den Parteigranden.

Konflikte innerhalb einer Partei wurden nicht durch Diskussion und Kompromisse gelöst, sondern dadurch, dass Dissidenten zusammen mit ihrem klientelistischen Subnetzwerk die Partei verließen und sich einer anderen klientelistischen Pyramide anschlossen. Parteiloyalität hing davon ab, welche Rousfetia der Parteiführer seiner Klientel zukommen lassen konnte. Die Wählerinnen und Wähler zogen daraus typische Konsequenzen: Sie stimmten bei Wahlen nicht für eine Partei, sondern gegen jene Partei, die ihnen in der vergangenen Legislaturperiode den erwarteten Gefallen (Rousfeti) nicht getan hatte. Nur Parteien, welche die Regierung stellen und so Zugriff auf öffentliche Mittel erhalten, sind in einem solchen System politisch wirksam. Parteien, die keinen Zugriff haben, sind wenig erfolgreich und bleiben daher klein. Dies gilt sogar für die kommunistische Partei, die kaum über 5 Prozent kommt. Unter diesen kleinen Parteien gibt es auch Programmparteien, die durchaus ihren europäischen Vorbildern ähneln, aber im klientelistischen System chancenlos bleiben.

Die feste Verankerung des Klientelismus in der politischen Kultur des Landes zwang selbst die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts zur Anpassung. Auf dem Balkan wurde der Faschismus zu einem Klientelfaschismus. Der griechische Diktator Ioannis Metaxas (1936–1941) verkündete stolz, dass er keine Massenpartei brauchte, weil das ganze Volk Partei gewesen sei. Es gab nur noch eine Klientel mit ihm als Führer. Der Aufbau einer faschistischen Massenpartei wie in Deutschland oder Italien wäre systemfremd gewesen. Nur wenn man den Klientelismus in die Betrachtung der faschistischen Systeme auf dem Balkan einbezieht, erkennt man den wahren Charakter dieser Diktaturen in den 1930er Jahren. Es waren klientelfaschistische Systeme.

Ein weiteres Charakteristikum des Klientelismus ist die faktische Steuerfreiheit der Reichen. Die politische und wirtschaftliche Oligarchie war (und ist) aufs Engste verfilzt, was dazu führte, dass die gesamte Oberschicht steuerfrei blieb – wobei sich die politische Oligarchie selbst bereicherte. Die staatlichen Einnahmen stammten zum größten Teil aus indirekten Steuern und der Lohnsteuer, welche die "kleinen Leute" bezahlten. Zu einer Industrialisierung wie in Westeuropa kam es nicht. Die wirtschaftlichen Schwerpunkte lagen in der Landwirtschaft, dem Tourismus, dem Handel und der Schifffahrt. Ein chronischer Mangel an Arbeitsplätzen war die Folge und führte zu Auswanderung und Arbeitsmigration.

Um ihre Klientel an sich zu binden, sorgte die jeweils regierende Partei dafür, dass ihre Anhänger Arbeit im öffentlichen Dienst, in den staatlichen Betrieben und den Streitkräften fanden, die dadurch immer weiter aufgebläht wurden. Heute arbeitet jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst. In Deutschland sind 0,25 Prozent der Bevölkerung Angehörige der Streitkräfte, in Griechenland viermal so viel. Eine dringend notwendige Entlassungsaktion in größerem Umfang würde aber die Parteien Wählerstimmen kosten und zu massiven sozialen Verwerfungen führen.

Der aufgeblähte Staatsapparat führte zu hohen Ausgaben. Dazu kamen außen- und innenpolitische Extravaganzen, die mehrfach zum staatlichen Bankrott führten, so beispielsweise 1893. Damals war Griechenland pleite und wurde unter europäische Finanzaufsicht gestellt. Aber die griechische Führung wusste, dass ihre Schutzmacht Großbritannien sie aus geostrategischen Gründen vor dem totalen Absturz retten würde (Großbritannien brauchte Griechenland zur Absicherung der life line des Empires durchs Mittelmeer). Als 1948/1949 die nächste große Pleite folgte, sprang die neue Schutzmacht, die USA, in die Bresche und rettete das Land. In diesem Fall diente die kommunistische Gefahr als Begründung.

Diese Staatspleiten führten aber nicht dazu, dass die griechische Oligarchie vorsichtiger wirtschaftete. Im Gegenteil: Sie verließ sich darauf, dass die jeweilige Schutzmacht sie nicht fallen lassen würde. So konnte der alte Kurs beibehalten werden. Der EU-Beitritt bildete eine weitere Absicherung in diesem Sinne.

Chancen für eine Überwindung des Klientelismus

Der griechische Klientelismus überstand auch nationale Katastrophen, wie die nach dem verlorenen Krieg gegen die Türkei (1919–1922), als 1,5 Millionen griechische Flüchtlinge nach Griechenland kamen, das damals eine Bevölkerung von etwa sechs Millionen hatte. Es gab im 20. Jahrhundert nur eine echte Chance, den Klientelismus zu überwinden: am Ende des Zweiten Weltkrieges. Metaxas hatte 1936 die klientelistischen Strukturen zerschlagen, und da während der Okkupation das Lebenselixier des Klientelismus, der Zugriff auf die staatlichen Gelder, nicht länger möglich war, wurden auch die alten politischen Strukturen bedeutungslos.

Die Bevölkerung wandte sich von den alten Parteien ab und den aus der linken Résistance hervorgehenden Kräften zu, die in den von den Partisanen kontrollierten Regionen den griechischen Staat neu aufbauten. Diese Kräfte umfassten alle progressiven Elemente der Gesellschaft von den Liberalen bis zu den Kommunisten. Am Horizont zeichnete sich eine Nachkriegsrepublik mit politischen Strukturen ab, die denen der europäischen ähnelten.

Dieser neue Staat hätte auch sein Abhängigkeitsverhältnis zu Großbritannien beendet – unvorstellbar für den damaligen britischen Premierminister Winston Churchill. Für ihn war der einzige Garant eines probritischen Kurses Griechenlands der König. Also musste die Monarchie restauriert werden. Da die überwältigende Mehrheit der Griechen dies nicht wollte und die Résistance strikt dagegen war, befahl Churchill 1943, den König wenn nötig mit Gewalt zurückzubringen. Um eine militärische Intervention moralisch zu rechtfertigen, beschwor er die kommunistische Gefahr. Im Oktober 1944 sicherte er die Intervention durch das berüchtigte Prozentabkommen mit Josef Stalin ab, und im Dezember 1944 erfolgte diese schließlich.

Der nach vierwöchigen Kämpfen abgeschlossene Friedensvertrag von Varkiza war ein Kompromiss. Doch seine Bedingungen wurden von den griechischen Royalisten mit stillschweigender Billigung der Briten in jeder Hinsicht verletzt und die Republikaner wurden gnadenlos unterdrückt. Das Resultat war eine Wiederbelebung des klientelistischen Systems und ein Bürgerkrieg zwischen Royalisten und Republikanern, der bis 1949 dauerte.

Der danach existierende griechische Staat wurde zunächst von der konservativen Klientelpartei von Konstantin Karamanlis, die nun ERE (Nationale Radikale Union) hieß, regiert. Die oppositionelle Klientelpartei unter Georgios Papandreou hieß EK (Zentrumsunion) und war eine Art Fortsetzung der Liberalpartei aus der Vorkriegszeit. Aber auch als Papandreou nach 1963 für wenige Jahre an die Macht kam, änderte sich am klientelistischen System wenig. Sogar die Militärdiktatur (1967–1974) veränderte daran nur, dass jetzt die Militärs und ihre Klienten (Anhänger der Rechten außerhalb der ERE sowie Kleinbürger) die Nutznießer waren und nicht länger die politische Oligarchie.

Während dieser Diktatur begann unter den in Europa lebenden Exilgriechen eine intensive Diskussion darüber, wie man das klientelistische System überwinden könnte, an der auch Andreas Papandreou teilnahm. Bald bestand Konsens, dass man Parteien europäischen Typs (evropaikou typou) ins Leben rufen müsse, also Parteien mit Programmen, Kongressen, internem demokratischen Willensbildungsprozess und Wahl der Führung. Dazu sollte nach dem Ende der Diktatur eine neue sozialdemokratisch ausgerichtete Partei gegründet werden. Man begann, sich zu organisieren. Doch bevor Konkretes entstand, kam es zu einer neuen Entwicklung.

Im Sommer 1974 stürzte die Militärjunta über die von ihr durch einen Putsch gegen Erzbischof Makarios III. ausgelöste Invasion Zyperns durch die Türkei. Karamanlis kehrte nach Griechenland zurück und hauchte seiner ehemaligen ERE-Partei unter dem Namen Nea Dimokratia (ND) neues Leben ein. Aber die ND war nichts anderes als die wiederbelebte Klientelpartei der Konservativen. Wenig später erschien Andreas Papandreou in Athen und gründete, ohne sich um die guten Vorsätze der Vergangenheit zu kümmern, die PASOK (Panhellenische Sozialistische Bewegung). Nach außen hin gab sich die neue Partei als links, tatsächlich war sie vom ersten Moment an eine von Papandreou straff geführte Klientelpartei. Als oppositionelle Gruppen in der Partei, wie etwa die ehemalige Widerstandsgruppe Dimokratiki Amyna (Demokratische Verteidigung), die gegen die Militärjunta gekämpft hatte, dagegen protestierten, ließ Papandreou sie aus der Partei werfen.

Damit war das alte klientelistische Zweiparteiensystem wieder etabliert. Alternative demokratische Kräfte wurden bedeutungslos. Karamanlis regierte das Land bis 1981. Da der größte Teil der Führungselite der ND aus dem wohlhabenden Bürgertum stammte, hatte diese es zumeist nicht nötig, sich selbst zu bereichern. Außerdem waren die Mittel, die zweckentfremdet werden konnten, begrenzt. Dies änderte sich jedoch, als 1981 die PASOK an die Macht kam. Unter den Führungskadern der PASOK waren viele, die aus weniger wohlhabenden Schichten stammten, noch nie Zugriff auf die staatlichen Kassen gehabt hatten und nun einen „Nachholbedarf“ verspürten. Außerdem musste die Führung die Partei auf allen Ebenen erst einmal aufbauen und sich eine breite Anhänger- und Wählerschaft sichern. Über Rousfetia in großem Umfang versicherte man sich der Loyalität der Anhängerschaft.

Dies wäre auf der Basis der bisherigen Staatseinnahmen kaum möglich gewesen, aber da Griechenland seit 1981 EG-Mitglied war, flossen nun Fördergelder. Der EG-Beitritt ermöglichte es Griechenland auch, Geld zu günstigen Zinsen auf dem internationalen Kapitalmarkt zu leihen.

Auch 1990, als die ND wieder an die Macht kam, änderte sich daran wenig. Mit der erneuten Amtsübernahme der PASOK 1993 erreichten die Veruntreuung von EG-Geldern und die Finanzskandale einen neuen Höhepunkt. 1996 trat Papandreou aus Gesundheitsgründen zurück. Kostas Simitis, ein in Deutschland ausgebildeter Jurist, wurde sein Nachfolger. Unter ihm schaffte es Griechenland mit geschönten Zahlen in den Kreis der Eurostaaten aufgenommen zu werden.

Der Euro entpuppte sich für Griechenland letztlich als ein Fluch: Denn Griechenland kam nun noch einfacher an zinsgünstige Anleihen. Simitis erkannte die Gefahr und versuchte gegenzusteuern. Doch das System erwies sich stärker als er, obwohl er Premierminister und Vorsitzender der PASOK war. Der Klientelismus der PASOK hatte eine weitere Metamorphose durchgemacht. Die PASOK war nicht länger die monolithische klientelistische Pyramide mit dem Patron an der Spitze, sondern bestand nun aus relativ unabhängigen Teilnetzwerken mit Subpatronen an der Spitze. Als Simitis sie zu bremsen versuchte, erlebte er eine Palastrevolution seiner Granden, die ihn aus der Macht drängten.

Aber auch unter der ND ab 2004 ging es so weiter. Die führenden Persönlichkeiten der Partei waren nicht länger wohlhabende Konservative, sondern eine jüngere Generation, die von der Gier nach schnellem Geld getrieben wurde. Während ihrer Herrschaft nahm die Schuldenmacherei größere Ausmaße an. Im Unterschied zur Amtszeit der PASOK sickerte aber kaum Geld nach unten durch.

Die staatliche Schuldenmacherei verleitete auch die griechischen Banken dazu, Schulden zu machen, und diese wiederum animierten die Bürgerinnen und Bürger, auf Kredit zu konsumieren. Etwa zwei Jahrzehnte lang gab es so in Griechenland einen noch nie da gewesenen Wohlstand der breiten Bevölkerung. Aber es wurde nicht investiert. Die geliehenen Gelder flossen in den Konsum oder „verschwanden“ auf der politischen Ebene. Viele Griechinnen und Griechen sind davon überzeugt, dass etwa die Hälfte der Gelder des angehäuften Schuldenberges noch existiert – außerhalb Griechenlands. Das Ende dieser Entwicklung ist bekannt: Griechenland ging de facto pleite.

Die gegenwärtige Krise

Seit 2010 befindet sich Griechenland in der größten Krise seiner jüngeren Geschichte. Als der damalige Premierminister Papandreou sich unter den Rettungsschirm der EU begab, stellte diese harte Forderungen: Die griechische Regierung sollte sparen und die Steuern erhöhen. Dies waren Rezepte, die in den übrigen europäischen Staaten einigermaßen funktionierten, aber nicht in Griechenland. Sparen bedeutete, dass unter anderem der aufgeblähte Staatsapparat drastisch reduziert werden musste. Damit hätte Papandreou seine eigenen Anhänger und Wählerinnen und Wähler desavouiert. Sparen bedeutete auch, dass die Gehälter und Renten gekürzt werden mussten und erheblich weniger Rousfetia verteilt werden konnten.

Der Großteil der Maßnahmen traf eher die "kleinen Leute", denen nun der Absturz in die Armut drohte. Die einzige spürbare und nennenswerte Entlastung – eine Besteuerung der Reichen – wurde nicht in Erwägung gezogen, da diese entweder bereits ihr Geld ins Ausland transferiert hatten oder damit drohten. Außerdem war die Wirtschaftsoligarchie mit der politischen Oligarchie so verfilzt, dass Papandreou in diesem Fall mit einer Palastrevolution rechnen musste.

Papandreous Versuch im Herbst 2011, seinen Spielraum durch die Abhaltung eines Plebiszits zu vergrößern, war im klientelistischen System eine richtige Maßnahme, denn er hätte dadurch die Legitimation durch das Volk gewonnen, um auch härtere Maßnahmen gegen den Willen seiner Granden durchzusetzen. In Europa aber wurde dieser Schritt missverstanden und torpediert. Dies führte letztlich zu Papandreous Rücktritt.

Die darauffolgende Regierung aus PASOK und ND wurde von den europäischen Partnern als eine "große Koalition" interpretiert – was irreführend ist. Denn in Westeuropa sind parteiübergreifende große Koalitionen geeignet, schwierige Situationen zu überwinden. In einem klientelistischen System wird eher das Gegenteil erreicht: Die beiden Klientelparteien vereinigen ihre Kräfte bei der Abwehr von Forderungen, die ihre Basis schwächen können.

Wie gering die Bereitschaft zu tief greifenden Veränderungen ist, zeigt sich auch an der Koalitionsregierung seit Juni 2012 unter Antonis Samaras (ND). In populistischer Manier versprach Samaras im Wahlkampf Dinge, von denen er wusste, dass er sie nur schwerlich wird einhalten können – zumal er sich selbst gegenüber der Troika (EU-Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) durch seine Unterschrift gebunden hatte.

Die Koalition ist im Grunde eine Neuauflage des Bündnisses der beiden alten Klientelparteien (PASOK und ND) mit einem Juniorpartner, der Unabhängigen Linken (Anexartiti Aristera). Ob Letztere in dieser Koalition einen positiven Einfluss in Richtung Überwindung des Klientelismus haben werden, ist offen. Fraglich ist auch, ob die seit Juni 2012 amtierende Regierung die volle Legislaturperiode bis 2016 durchhalten wird, zumal sie von zwei Seiten unter Druck gerät: innenpolitisch durch die populistischen Kampagnen von Alexis Tsipras und des Parteienbündnisses SYRIZA und außenpolitisch durch die Forderungen aus Brüssel (und Berlin).

Systemwandel nötig

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Schuldenerlass und Finanzspritzen nur die Symptome der griechischen Krise bekämpfen, aber nicht die Ursache: Solange das Klientelsystem weiterhin besteht, stabilisieren die Finanzhilfen in erster Linie das alte System, statt es aufzubrechen. Eine echte Veränderung dagegen kann nur durch einen Systemwandel erreicht werden.

Der einzige Weg, den Klientelismus zu überwinden, ist, die finanziellen Quellen für die Rousfetia auszutrocknen. Dies kann nur durch eine strenge Kontrolle der staatlichen Finanzen durch ausländische Experten erreicht werden, welche die Methoden des Klientelismus genau kennen. Dies wird natürlich nicht ohne (freiwillige) Einschränkung der staatlichen Souveränität über die Bühne gehen, wogegen sich die Oligarchie natürlich heftig wehrt, indem sie an den griechischen Nationalstolz appelliert. Flankierend müssten "die Reichen" (die Millionäre und Milliardäre) Griechenlands dazu gebracht werden, ihre Steuern zu bezahlen.

Es ist die Rede von einem neuen Marshall-Plan für Griechenland, was irreführend ist: Der Marshall-Plan baute Vorhandenes, aber durch den Krieg Zerstörtes wieder auf; aber in Griechenland gibt es keine Industrie, die wiederaufgebaut werden könnte. Daher stellt sich die weitere Aufgabe, für das Land geeignete Industrien aufzubauen, die langfristig Arbeit bieten. Nur durch die Schaffung einer großen Zahl von permanenten Arbeitsplätzen wird es möglich sein, die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf ein vernünftiges Maß (in Analogie zu anderen EU-Staaten) zu reduzieren, ohne dass es zu sozialen Verwerfungen kommt. Dadurch wird ein weiterer Aspekt des Klientelismus beseitigt. Ähnliches gilt für die Streitkräfte und die staatlichen Betriebe. Sollten dagegen keine systemüberwindenden grundlegenden Reformen durchgeführt werden, droht Griechenland sich zum failed state zu entwickeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heinz A. Richter, Athener Klientelismus, in: Lettre International, (2012) 96, S. 25ff.; ders., Zwischen Tradition und Moderne, in: Peter Reichel (Hrsg.), Politische Kultur in Westeuropa, Frankfurt/M. 1984, S. 147.

  2. Vgl. Keith Legg, Politics in Modern Greece, Stanford 1969, S. 34.

  3. Vgl. Emanuel Turczynski, Sozial- und Kulturgeschichte Griechenlands im 19. Jahrhundert, Möhnesee 2003.

  4. Zit. nach: Hariton Korisis, Die politischen Parteien Griechenlands, Hersbruck 1966, S. 105.

  5. Vgl. Heinz A. Richter, Griechenland zwischen Revolution und Konterrevolution 1936–1946, Frankfurt/M. 1973, S. 198–205.

  6. Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Stergiou in dieser Ausgabe. (Anm. d. Red.)

Dr. phil., geb. 1939; 1991 bis 2003 Professor für griechische und zypriotische Zeitgeschichte an der Universität Mannheim, Plöck 12, 69198 Schriesheim. E-Mail Link: hrichter@rumms.uni-mannheim.de