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Nötige Modernisierung der griechischen Wirtschaft: eine Herkulesaufgabe

Karl Brenke

/ 16 Minuten zu lesen

Griechenland hat lange Zeit über seine Verhältnisse gelebt – in dem Sinne, dass mehr Güter verbraucht als produziert wurden. Die Güterverwendung einer Volkswirtschaft setzt sich aus drei Komponenten zusammen: dem privaten Konsum, dem Konsum des Staates (zu dem etwa die Gehälter für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst zählen) sowie den Investitionen – seien es Investitionen der privaten Haushalte (Bau eines Eigenheims), der Unternehmen (Fabriken, Maschinen, Bürogebäude) oder des Staates (Straßen, Schulen oder Feuerwehrautos).

In Griechenland überstiegen all diese Ausgaben zusammengenommen das Bruttoinlandsprodukt, also die Wirtschaftsleistung des Landes, deutlich. Wenngleich die Daten des Statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat) im Falle Griechenlands immer noch als "vorläufig" gekennzeichnet sind, so sollten sie doch inzwischen zumindest einigermaßen zuverlässig sein und systematisch nur solche Fehler enthalten, die auch in den Zahlenwerken anderer Länder zu finden sind. Den Daten nach war der Verbrauch in der gesamten vergangenen Dekade immer um mehr als ein Zehntel höher als die Produktion (vgl. Abbildung in der PDF-Version). Im Jahr 2008 wurde mit 15 Prozent der Spitzenwert erreicht. Wenn mehr Güter konsumiert oder für Investitionen verwendet als selbst produziert werden, gibt es ein entsprechendes Defizit im Außenhandel.

Dann kamen die Krisen. Zunächst war es die in der zweiten Jahreshälfte 2008 einsetzende weltweite Finanzkrise. Sie hat sich aber fast nur bei der Investitionsneigung bemerkbar gemacht. Der Konsum der privaten Haushalte wurde indes kaum gedämpft, und der Verbrauch des Staates zog sogar noch an. Es folgte die originär griechische Krise. Nach den Parlamentswahlen im Herbst 2009 wurde das tatsächliche Ausmaß der Staatsverschuldung mehr und mehr offen gelegt – vielleicht auch deshalb, weil die neu gewählte Regierung eine Begründung dafür brauchte, dass die großzügigen Wahlversprechen nun doch nicht eingehalten werden konnten.

Anfang 2010 wurde ob des chaotischen Zustands der Staatsfinanzen von der EU und den Kapitalmärkten ein Umlenken erzwungen. Die Staatsausgaben wurden eingeschränkt; deshalb und angesichts einer wachsenden Verunsicherung der Bevölkerung brach der private Konsum ein. Der scharfe Nachfragerückgang ließ die Produktion stark schrumpfen. Und weil die Nachfrage rapide abnahm, wurden auch weniger Güter importiert, weshalb der Fehlbetrag im Wirtschaftsaustausch mit dem Ausland zurückging: Griechenland lebte nun nicht mehr so sehr über seine Verhältnisse wie zuvor. Gleichwohl blieben privater und staatlicher Konsum sowie die Investitionen zusammengenommen immer noch höher als die Wirtschaftsleistung – im vergangenen Jahr waren es noch 8 Prozent. Nachdem die "rauschende Party" vorbei war, folgte der Katzenjammer. Besonders deutlich ist das an der Entwicklung der Arbeitslosigkeit abzulesen: Die Zahl der Arbeitslosen hat sich seit 2008 verdreifacht; die Erwerbslosenquote hat inzwischen 22 Prozent erreicht, mit steigender Tendenz.

Vorgeschichte

Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Wenn dauerhaft große Defizite im Außenhandel bestehen, muss das Geld aus dem Ausland kommen: über den Erwerb von Anleihen und anderen Schuldverschreibungen des Staates, über Kredite an die griechischen Banken und an andere Unternehmen sowie durch ausländisches Geld, dass in Bauten oder technische Ausrüstungen investiert wird. Das aus dem Ausland zufließende Geld sickert in den gesamten Wirtschaftskreislauf ein und sorgt somit für eine erhöhte Nachfrage. Durch den angekündigten und im Jahr 2001 erfolgten Beitritt zur Eurozone wurde Griechenland zu einem Land mit harter Währung. Anders als zuvor, als die Drachme gegenüber wichtigen Leitwährungen wie dem US-Dollar oder der D-Mark immer wieder an Wert verlor, wurden nun Kredite und Investitionen für ausländische Geldgeber kalkulierbarer und sicherer. Sie mussten nun nicht mehr Abwertungen der Währung und somit eine Schmälerung ihres eingesetzten Kapitals fürchten. Das Risiko hatten sie sich früher durch hohe Zinsen vergüten lassen; nun war das nicht mehr nötig. Entsprechend näherten sich die Zinssätze in der gesamten Eurozone stark aneinander an, und die Zinssätze früherer Weichwährungsländer wie Griechenland sanken massiv. Es gab also "billiges Geld“ – und zwar viel davon, weil die Geldgeber die Mitgliedschaft in der Eurozone auch als einen Garanten für die Zahlungsfähigkeit ihrer Schuldner ansahen.

Wie man mittlerweile feststellen musste, war das eine Illusion. Sie wurde im Falle Griechenlands allerdings dadurch genährt, dass es die Aufsichtsgremien der EU lange Zeit vermieden hatten, einen genaueren Blick auf die wirtschaftliche Lage und den tatsächlichen Zustand des Staatshaushaltes zu werfen. So verschloss man wohl aus politischem Opportunismus die Augen, als schon 2004 bekannt wurde, dass Griechenland seine Lage viel zu rosig dargestellt hatte. Einen weiteren Geldfluss stellten die diversen Fonds der EU dar; seit seinem Beitritt im Jahr 1981 war Griechenland einer der bedeutendsten Nettoempfänger.

Wie es aber so ist: Wer denkt schon an morgen, wenn die Quellen fließen – zumal aufgrund des Euro plötzlich mehr und billigeres Geld verfügbar ist? Die Nachfrage wächst, und es geht für jeden sichtbar mit der Wirtschaft bergauf. Nach der Einführung des Euro im Jahr 2001 bis zur Finanzkrise im Jahr 2009 stieg die, vor allem konsumgetriebene Wirtschaftleistung um nominal knapp 60 Prozent, die Löhne stiegen um 80 Prozent. Man konnte sich sogar teure Großveranstaltungen wie die Olympischen Spiele leisten.

Wenn einmal Euphorie um sich greift, gibt es kaum noch ein Halten. Man kennt das von den zahlreichen Scheinblüten, die im Laufe der Wirtschaftsgeschichte entstanden sind. Ein überzogener Optimismus lässt den Glauben an einen stetig anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung aufkommen. Aber irgendwann hat jeder Höhenflug ein Ende, und die Rückkehr auf den Boden der Realität ist dann nicht nur ernüchternd, sondern bereitet auch heftige Schmerzen. Das ist aktuell nicht nur in Griechenland so, sondern auch in den USA, in Irland und in Spanien angesichts der dort geplatzten Blasen auf den Immobilienmärkten. In Griechenland ist die Lage aber besonders schlimm, weil die wirtschaftliche Basis wenig an Substanz vorweisen kann.

Auf die Exportbasis kommt es an …

Einzelne Volkswirtschaften können nicht all die Güter herstellen, die im Land benötigt werden. Man sollte es auch gar nicht erst versuchen, weil man sich dadurch die Vorteile der Arbeitsteilung und des internationalen Handels vergeben würde. Je kleiner die Länder sind, desto mehr sind sie im Allgemeinen auf Arbeitsteilung und Wirtschaftsaustausch angewiesen. Dabei ist darauf zu achten, dass Ausfuhren und Einfuhren sich in etwa ausgleichen. Deutschland erzielt seit Jahrzehnten einen Exportüberschuss, lebt also unter seinen Verhältnissen, weil per saldo Geld abfließt. Auf Griechenland trifft das Gegenteil zu. In Deutschland müsste die Binnennachfrage gestärkt werden, in Griechenland indes die Exportbasis.

Denkbar wäre für Griechenland natürlich auch, bisher importierte Güter selbst herzustellen. Der Importsubstitution sind aber Grenzen gesetzt, wie die langjährigen und letztlich vergeblichen Versuche mancher Länder auf der südlichen Erdkugel, insbesondere in Lateinamerika, gezeigt haben. Als ein übergreifendes Entwicklungskonzept bietet sich Importsubstitution nicht an; lediglich auf Teilmärkten ist ein Ersatz von Importen durch verstärkte heimische Produktion möglich.

Zur Exportbasis eines Landes gehört traditionell die Industrie, in den meisten entwickelten Ländern ist sie deren weitaus wichtigster Teil. In einer Reihe von Staaten sind auch Rohstoffe wichtig. Griechenland hat wie viele andere EU-Staaten in dieser Hinsicht aber kaum etwas anzubieten. Zur Exportbasis zählen auch manche landwirtschaftlichen Produkte, oft aber erst nach industrieller Weiterverarbeitung. Auch einige Dienstleistungsgüter sind international handelbar wie Software, Lizenzen oder Ingenieurleistungen. Hinzu kommt schließlich der Tourismus. Wenn Auswärtige im Land Geld für Übernachtung, Verpflegung, Transport oder Unterhaltung ausgeben, ist das faktisch nichts anderes als wenn beispielsweise Maschinen exportiert werden, denn in beiden Fällen werden Einnahmen im Wirtschaftsverkehr mit dem Ausland erzielt.

… die in Griechenland sehr schwach ist

Zunächst lässt sich feststellen, dass sich im Jahr 2011 die Exporte Griechenlands bei Waren und Dienstleistungen auf gerade einmal 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beliefen. Das ist der geringste Wert aller EU-Staaten; der Durchschnitt beträgt 44 Prozent. Portugal und die Tschechische Republik – die gemessen an der Bevölkerung ähnlich große Staaten sind wie Griechenland – kamen auf 36 beziehungsweise 75 Prozent. Selbst Länder wie Italien oder Frankreich, die wegen ihrer Größe vergleichsweise wenig auf die internationale Arbeitsteilung angewiesen sind, erreichten höhere Werte (29 beziehungsweise 27 Prozent). In Deutschland waren es 50 Prozent.

Anhand der einschlägigen Statistiken lässt sich der Exportsektor nicht genau abgrenzen, sondern nur skizzieren. Zum Teil sind die Daten nicht sehr zeitnah, aber doch hinreichend aktuell. Einen Anhaltspunkt bietet der Anteil der grundsätzlich zum Exportsektor gehörenden Wirtschaftszweige an der gesamten Wertschöpfung. Danach spielt das verarbeitende Gewerbe, also die Industrie einschließlich industrieller Kleinbetriebe, innerhalb der griechischen Wirtschaft nur eine vergleichsweise geringe Rolle (vgl. Tabelle in der PDF-Version). In fast allen anderen EU-Ländern hat sie eine bedeutendere Position inne. Außerordentlich schwach ist in Griechenland ebenfalls die Bedeutung der gemeinhin als hochwertig bezeichneten Dienste wie die EDV, die private Forschung und Entwicklung oder Ingenieurleistungen. Ein erhebliches Gewicht hat dagegen in Griechenland das Gastgewerbe. Nur in der spanischen Wirtschaft kommt dieser Branche ein noch höherer Stellenwert zu.

Die Beiträge der einzelnen Sektoren zur gesamten Wirtschaftsleistung eines Landes sagen aber nur wenig darüber aus, wie viel davon tatsächlich für den Export bestimmt ist. So wird beispielsweise auch ein Einheimischer in Griechenland eine Gaststätte oder ein Hotel besuchen. Auch ist nicht längst jedes Industrieprodukt für den Export bestimmt. Manche Erzeugnisse sind dafür gar nicht geeignet; beispielsweise werden schwere Baustoffe wegen hoher Kosten nicht über weite Strecken transportiert; auch bei frischem Fleisch, Milch oder Tageszeitungen ist die Produktion oft in der Nähe der Kunden angesiedelt. Als Faustregel kann aber gelten, dass je größer die Wirtschaftsleistung eines Sektors innerhalb einer Volkswirtschaft ist, desto mehr wird davon nicht für den eigenen Bedarf, sondern für Kunden außerhalb des Landes hergestellt. Im Falle Griechenlands verweist also die große Bedeutung des Gastgewerbes auf einen ausgeprägten Tourismus, während die kleine Industrie wohl vor allem Waren für den Binnenmarkt produziert.

Wie schwach die Industrie ist und wie wenig sie zur eigenen Versorgung beiträgt, zeigt ein Blick auf den Außenhandel mit Waren, bei denen es sich im Wesentlichen um industrielle Erzeugnisse handelt. Im Jahr 2011 wurden Waren im Wert von 43,7 Milliarden Euro importiert, aber nur Produkte im Wert von 22,8 Milliarden ausgeführt. Die Importe waren also fast doppelt so hoch wie die Exporte. Und bei allen wichtigen Warengruppen waren die Einfuhren deutlich höher als die Ausfuhren. Am geringsten war die Diskrepanz noch bei Nahrungsmitteln sowie bei Grundstoffen; hier übertrafen die Importe die Exporte um jeweils etwas mehr als 40 Prozent. Besonders ausgeprägt war dagegen das Missverhältnis bei technisch eher komplexen Waren wie chemischen Erzeugnissen, wo die Importe fast dreimal so hoch wie die Exporte waren, und bei Maschinen und Fahrzeugen; hier übertrafen die Importe die Exporte um fast das Vierfache.

Die Produktion der Industrie ist recht stark konzentriert. Mit großem Abstand am bedeutendsten ist die Herstellung von Nahrungsmitteln, die nach den zeitnahesten Daten, die für 2010 vorliegen, immerhin ein Drittel der gesamten Wertschöpfung der Industrie ausmacht. Trotzdem hat Griechenland bei Nahrungsmitteln ein beachtliches Außenhandelsdefizit. Ein erhebliches Gewicht hat zudem die Mineralölverarbeitung (ein Zehntel der Industrieproduktion), die aber wohl ebenfalls auf den Nahabsatz ausgerichtet ist (Benzin, Heizöl). Danach folgt die Metallerzeugung und -verarbeitung (neun Prozent). Das hängt mit Fundstätten von Bauxit zusammen, der als Rohstoff für Aluminium dient, das zu Rollen, Profilen oder Endprodukten wie Getränkedosen verarbeitet wird. Dann kommt schon die Produktion von Druckerzeugnissen (sieben Prozent), nicht zuletzt von Zeitungen und Zeitschriften. Eine gewisse Bedeutung hat noch die pharmazeutische Industrie; zu einem erheblichen Teil werden allerdings lediglich Generika und Medikamente in Lizenz hergestellt. Ein Blick auf die Produktionsstruktur zeigt zudem einen Schwerpunkt bei der Herstellung baunaher Erzeugnisse verschiedener Art sowie bei Schiffsreparaturen.

Die Bedeutung des Tourismussektors ist schwer zu bestimmen. Einerseits entfallen nicht alle Leistungen des Gastgewerbes auf Touristen, andererseits spülen die Touristen nicht nur bei Hotels und Gaststätten Geld in die Kasse, sondern auch in verschiedenen anderen Teilen der Wirtschaft. In Deutschland erbringt das Gastgewerbe etwa 40 Prozent der dem Fremdenverkehr zuzurechnenden Leistung. Überträgt man diesen Wert auf Griechenland, dann entfällt auf den Tourismus ein Sechstel der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung – und damit mehr als auf das verarbeitende Gewerbe und vor allem viel mehr als auf denjenigen Teil der Industrie, der überhaupt zur Exportbasis gerechnet werden kann. Da die sogenannten höherwertigen Dienstleistungen wie EDV, Softwareproduktion, Forschung und Ingenieurleistungen eher bedeutungslos sind, ist also der Tourismus der entscheidende Sektor, mit dem Griechenland Einkommen im Austausch mit anderen Staaten erzielt. Entsprechend konnte Griechenland im Wirtschaftsverkehr mit dem Ausland 2011 ein deutliches Plus bei den Dienstleistungen (12,6 Milliarden Euro) erzielen. Das reichte aber längst nicht aus, um das Minus beim Warenhandel auszugleichen.

Der Fremdenverkehr wächst fast überall auf dem Globus kräftig, in Europa aber nur unterdurchschnittlich. Dabei spielt sowohl eine Rolle, dass sich die Präferenzen hinsichtlich der touristischen Ziele verändert haben, als auch die Tatsache, dass im Zuge des Wirtschaftswachstums – etwa in manchen Schwellenländern – weltweit die Zahl der Menschen zunimmt, die sich einen Urlaub fernab ihres Wohnorts leisten können. In Europa gab es nach der Finanzkrise einen Einbruch beim Tourismus, der aber 2010, in manchen Ländern erst 2011, wieder mehr als ausgeglichen werden konnte. Das gilt auch für Griechenland.

Für 2012 ist allerdings damit zu rechnen, dass in Griechenland der Tourismus stark zurückgeht, weil viele potenzielle Urlauber das Land wegen der hier inzwischen zugespitzten Staatsschuldenkrise und damit verbundener möglicher Unruhen und Streiks meiden. Anfang Juni 2012 war von einem Rückgang der Buchungen in der Größenordnung von 30 bis 40 Prozent die Rede. In welchem Maße die Besucherzahlen tatsächlich abnehmen, bleibt abzuwarten. Denn es wird versucht, mit Preissenkungen die Gäste zu locken – die allerdings ebenfalls zulasten der Einnahmen gehen.

Wahrscheinlich dürfte ein deutlicher Rückgang bei den Touristenzahlen aber nur vorübergehender Natur sein. Allerdings wird Griechenland mit stärker werdenden Konkurrenten im Mittelmeerraum konfrontiert, die insbesondere mit niedrigeren Preisen punkten. Dazu zählen Kroatien und Bulgarien, insbesondere aber die Türkei, die ihr touristisches Angebot stark ausgeweitet und verbessert hat. Hinzu kommt, dass Griechenland kaum am boomenden Städtetourismus teilnehmen kann, weil es kaum über attraktive Destinationen verfügt. Wegen der wirtschaftlichen Schwäche werden sich zudem Geschäftsreisen in engen Grenzen halten. Potenzial besteht dagegen beim Gesundheitstourismus sowie bei einer Veränderung des Saisonangebots. In Griechenland entfielen auf die Monate Mai bis Oktober im vergangenen Jahr fast alle Übernachtungen von Gästen aus dem Ausland (94 Prozent), in Italien waren es lediglich 75 Prozent und in Spanien und Portugal nur etwa zwei Drittel. Durch eine Saisonverlängerung lassen sich die Einnahmen steigern, sie erfordert allerdings auch Investitionen.

Kleinteilige Unternehmensstruktur

Ein herausragendes Merkmal der griechischen Wirtschaft ist der hohe Anteil an Selbstständigen – jeder dritte Erwerbstätige ging 2011 einem eigenen Geschäft nach oder half im Familienverbund. Der allergrößte Teil der Selbstständigen – drei Viertel – beschäftigt keine Arbeitnehmer. Vergleichbares findet sich nirgendwo in Europa. Am nächsten kommt Griechenland noch Italien: Dort ist ein Viertel aller Erwerbstätigen selbstständig (einschließlich mithelfender Familienangehöriger). Im EU-Durchschnitt beläuft sich die Selbstständigenquote auf ein Siebtel.

Ein weit über dem EU-Durchschnitt liegendes Ausmaß an selbstständiger Beschäftigung findet sich in der gesamten privaten Wirtschaft Griechenlands. Die Landwirtschaft ist stark kleinbäuerlich geprägt, hier sind drei Viertel aller Beschäftigten selbstständig, in der EU ist es die Hälfte. In Griechenland kommt im Handel und im Gastgewerbe ein Selbstständiger auf zwei Arbeitnehmer, in der EU sind es fünf Arbeitnehmer. Auch im Verkehrsgewerbe ist in Griechenland jeder dritte Erwerbstätige ein Selbstständiger, in der EU jeder neunte.

Selbst im verarbeitenden Gewerbe sind in Griechenland 22 Prozent der Beschäftigten selbstständig, im Durchschnitt der EU sind es indes nur 7 Prozent. Damit einher geht eine extrem kleinbetriebliche Struktur in diesem Wirtschaftszweig. Fast die Hälfte aller Erwerbstätigen arbeitet in Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten; auf Mittel- und Großbetriebe (250 Beschäftigte und mehr) entfällt nicht einmal ein Fünftel aller Industriebeschäftigten. Zum Vergleich: In Deutschland ist es mehr als die Hälfte. Selbst in den ostdeutschen Bundesländern, wo nach dem Mauerfall die industrielle Basis neu aufgebaut werden musste, waren 2011 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 39 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit mehr als 250 Beschäftigten tätig.

Keine schnelle Genesung in Sicht

Griechenland ist pleite. Am Anfang der diversen Rettungsaktionen sollte dem Land lediglich kurzfristige Hilfe gewährt werden, sodass sich danach der Staat wieder rasch selbst auf dem Kapitalmarkt finanzieren kann. Davon ist nun keine Rede mehr. Ende vergangenen Jahres belief sich die Staatsschuld auf knapp 360 Milliarden Euro, fast 170 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Inzwischen gab es einen Schuldenschnitt, bei dem die privaten Gläubiger von ihren 200 Milliarden an Forderungen auf 107 Milliarden verzichten mussten, die übrigen 93 Milliarden wurden in meist lang laufende Anleihen umgewandelt.

Den größten Teil der griechischen Staatsschulden tragen mittlerweile Institutionen der Eurozone – und somit letztlich deren Mitgliedsländer. Da Griechenland seine Kreditwürdigkeit auf den Märkten völlig verloren hat, hängt es nun faktisch von Transferleistungen – auch in Form von Bürgschaften – der anderen Staaten ab. Und die Verschuldung Griechenlands schreitet weiter voran – zumal die Versuche zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte sich dämpfend auf die Wirtschaftsentwicklung auswirken, dadurch die Steuereinnahmen gedrückt und die Ausgaben etwa für Sozialleistungen erhöht werden.

Einen einfachen und schnellen Ausweg aus diesem Teufelskreis gibt es nicht. Auch wenn es mit Härten verbunden sein wird, muss auf jeden Fall der Staatsapparat grundlegend reformiert werden. So bedarf es neben vielem Anderen einer effektiven Finanzverwaltung sowie der Erfassung und der wirksamen Besteuerung der Liegenschaften. Zudem ließe sich mit dem Abbau von Privilegien im privaten Teil der Wirtschaft (etwa im Verkehrsgewerbe oder im Gesundheitssektor) der Wettbewerb und somit die Wirtschaftsleistung ankurbeln.

Innovationsstrategie erforderlich

Aber selbst dann, wenn in dieser Hinsicht große Fortschritte erzielt werden würden, bliebe immer noch das zentrale strukturelle Problem einer unzureichenden Exportbasis. Der Tourismus dürfte zwar noch ausbaufähig sein, aber zur allein tragenden Säule, um in einer arbeitsteiligen Welt die Einkommen zu erzielen, die man braucht, um die nötigen Importe zu bezahlen, wird er sich gewiss nicht entwickeln. Das wäre allenfalls für einzelne Regionen wie Rhodos denkbar; die Tourismuseinnahmen reichen aber nicht für eine ganze Volkswirtschaft. Deshalb bleibt vor allem, über vermehrte Warenlieferungen die Position im Außenhandel zu verbessern – also auf eine Stärkung der Industrie zu setzen. Das ist im Falle Griechenlands aber außerordentlich schwierig und eine Aufgabe, die nur auf lange Frist zu bewältigen ist.

Denn es handelt sich hier im Kern um eine Gesellschaft von Kleingewerbetreibenden und Staatsbediensteten, die in die Welt des globalen Industrie- und Informationszeitalters katapultiert wurde. Überdies ist die Wirtschaft an den Euro gebunden, dessen Außenwert zum Teil von sehr leistungsfähigeren Volkswirtschaften – beispielsweise der deutschen – bestimmt wird. Deshalb muss Griechenland gegenüber den Ländern außerhalb und innerhalb der Eurozone auf eine Leistungsfähigkeit wie die der starken Länder kommen.

Der erforderliche wirtschaftliche Umbau fällt wegen dieser Umstände viel schwerer, als es etwa den früheren Ostblockstaaten fiel. Denn zum einen verfügten diese Länder bereits über eine industrielle Tradition – zu der ein entsprechend qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial, industrienahe Ausbildungsstätten in der Berufsbildung und den Hochschulen sowie die Mentalität zählen, sich in großen industriellen Organisationen arbeitsteilig einzugliedern. In Griechenland ist Vergleichbares nicht vorhanden – und bis es entsteht, braucht es erfahrungsgemäß Jahrzehnte.

Zum anderen hatten die osteuropäischen Länder den Vorteil, dass sie neue Produktionen unter dem Schutz einer eigenen Währung und somit eines Wechselkurses aufbauen konnten, der die Produktivität ihrer Wirtschaft widerspiegelte. Will Griechenland seine industrielle Basis erweitern, bleibt nicht der Weg der langsamen Anpassung an das Produktivitätsniveau der maßgeblichen Länder der Eurozone, sondern es muss auf Produktionen setzen, die sofort einen hohen Stand an Wettbewerbsfähigkeit aufweisen.

Viel einfacher wäre es daher für eine Wirtschaft, die aufholen muss, wenn sie nicht in das für sie zu starre Korsett des Euro gezwungen wäre. Auch für den Tourismus wäre ein Abschied vom Euro von Vorteil, weil sich auf diese Weise preisliche Nachteile nachhaltig ausgleichen lassen.

Ein Verlassen der Eurozone würde kurzfristig ohne Zweifel erhebliche Probleme mit sich bringen. Denn die dann eingeführte eigene Währung käme sofort unter einen starken Abwertungsdruck. Dadurch würden vor allem die Preise für Importgüter deutlich steigen, sodass die Teuerung im Lande kräftig zunehmen könnte. Damit ginge ein Rückgang der Realeinkommen einher, der auch nicht durch Lohnsteigerungen oder durch eine Erhöhung der Sozialtransfers kompensiert werden könnte, da solche Anhebungen den Druck auf den Wechselkurs der eigenen Währung – etwa der Drachme – nur verstärken würden.

Doch weil die Löhne im Verhältnis zur Produktivität sinken würden, könnte die griechische Wirtschaft ihre Waren und Dienstleistungen zu niedrigeren Preisen als bisher anbieten. Die Wettbewerbsfähigkeit würde somit wachsen. Zudem käme es in beschränktem Maße zu einem Ersatz von Importen durch eigene Produktion; beispielsweise könnte das erhebliche Außenhandelsdefizit bei Nahrungsmitteln reduziert werden. Überdies hätten Investoren – insbesondere solche aus dem Ausland – eine gewisse Planungssicherheit. Denn auch dann, wenn Griechenland weiter am Euro festhielte, würde immer wieder der Verbleib des Landes in der Eurozone infrage gestellt werden. Ein Ausscheiden wäre letztlich nichts anderes als eine Anpassung an die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die Alternative bestünde in einer permanenten Abhängigkeit des Landes von Transfers aus anderen Staaten, die zu noch größeren Konflikten innerhalb des Landes sowie auf internationaler Ebene führen könnte.

Ein Austritt aus dem Euro müsste freilich flankiert werden – etwa um den Zusammenbruch von produzierenden Unternehmen zu verhindern, die Schwierigkeiten bei der Rückzahlung von auf Basis des Euro laufenden Krediten bekämen.

Keinen Sinn macht es indes, auf den bekannten Pfaden der EU-Förderung fortzuschreiten, denn sie haben sich schon in der Vergangenheit als ineffizient erwiesen. Die diversen Programme sind vor allem ausgleichsorientiert und sollen schrumpfende Wirtschaftszweige wie die Landwirtschaft stützen oder zurückliegende Regionen voranbringen. Das sind aber nicht die zentralen Probleme Griechenlands. Es hilft daher wenig, noch mehr Marktplätze mit einem Marmorbelag zu verschönern oder Straßen zu bauen, die so recht niemand braucht – zumal die Straßeninfrastruktur in Griechenland im Vergleich zu manch anderen Staaten der Eurozone bestens ist.

Statt weiterhin von außen ein hilfloses Helfersyndrom zu pflegen, braucht Griechenland eine Innovationsstrategie. Die kann aber nur aus dem Land selbst kommen, da die Politik und die Gesellschaft dort selbst am bestens herausfinden können, welche Wachstumspotenziale bestehen und wie sie zu erschließen sind. Manche liegen sogar für einen Außenstehenden auf der Hand – wie die Verbesserung des touristischen Angebots, um auch außerhalb der Sommermonate Gäste anzuziehen, oder eine Veredelung der Nahrungsmittelproduktion. Überdies würde ein Austritt aus dem Euro der Industrie zu einer höheren preislichen Wettbewerbsfähigkeit verhelfen und ihr zusätzliche Marktchancen eröffnen. Doch was mögliche Wachstumsfelder anbelangt, hüllt sich die griechische Politik bisher weitgehend in Schweigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein grundlegendes Problem bei der Ermittlung der Wirtschaftsleistung stellt die Schattenwirtschaft dar. Mit den einschlägigen Erhebungsverfahren wie Unternehmens- oder Haushaltsbefragungen, der Auswertung von Register- und Steuerdaten ist sie kaum zu fassen. Dieses generelle Problem dürfte wohl im Falle Griechenlands unter anderem wegen seiner sehr kleinteiligen Wirtschaftsstruktur besonders stark ausgeprägt sein.

  2. Sofern nicht anders vermerkt, wurden alle in diesem Aufsatz angegebenen statistischen Informationen der Eurostat-Datenbank entnommen.

  3. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.), Bericht zu den Statistiken Griechenlands über das öffentliche Defizit und den öffentlichen Schuldenstand, Brüssel 2010, S. 13ff.

  4. Vgl. dies., Haushalt 2010, Finanzbericht, Luxemburg 2011, S. 75.

  5. Vgl. Lutz Hoffmann, Importsubstitution und wirtschaftliches Wachstum in Entwicklungsländern, Tübingen 1970; Dieter Boris, Zur Politischen Ökonomie Lateinamerikas, Hamburg 2001.

  6. Vgl. Ferdinand Pavel, Wirtschaftsfaktor Tourismus, Berlin 2012.

  7. Vgl. UNWTO (ed.), Tourism Barometer. Statistical Annex, Nr. 10, Januar 2012.

  8. Vgl. Michael Kuntz, Tourismus nach Griechenland bricht ein, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.6.2012.

  9. Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Stergiou in dieser Ausgabe. (Anm. d. Red.)

Dipl.-Soz., geb. 1952; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung mit den Forschungsschwerpunkten Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsmarktentwicklung und Konjunktur, Mohrenstraße 58, 10117 Berlin. E-Mail Link: kbrenke@diw.de