Was bedeutet Ihnen im Leben etwas? Und was davon sollte Ihrer Meinung nach in Maßzahlen des nationalen Wohlergehens abgebildet werden? Diese Fragen stellte das britische Statistikamt im Jahre 2011 den Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen der vom Premierminister David Cameron angestoßenen Initiative zur Neuvermessung des National Well-Being. Bei den über 34.000 Antworten kam heraus, dass den Menschen vor allem folgende Dinge am Herzen liegen: Gesundheit, intakte Beziehungen zur Partnerin oder dem Partner, Familie und Freunden, Zufriedenheit im Beruf und ökonomische Sicherheit, der Zustand der Umwelt sowie eine gute Ausbildung.
Seit Veröffentlichung des Abschlussberichts der sogenannten Stiglitz-Kommission
In der Vergangenheit war dieser Kompass zumeist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Summe an Gütern und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einem Land produziert werden. Das BIP hat tatsächlich den Vorteil, dass sich Elemente verschiedenster Mengeneinheiten kombiniert in einer einzigen, international vergleichbaren, monetären Zahl ausdrücken lassen. Weiterhin liegt der Indikatorenwahl die Annahme zugrunde, dass je mehr auf dem Markt produziert wird, desto besser können die Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen, ergo desto glücklicher sind sie. Allenfalls die Arbeitslosenrate wurde im Laufe der Jahre darüber hinaus noch als Leitindikator hinzugezogen, wenn es darum ging zu beurteilen, ob es im Land "bergauf“ oder "bergab“ ging.
Mehr und mehr setzte sich in den vergangenen Jahren jedoch die Einsicht durch, dass es damit nicht getan ist. Denn vor allem das BIP blendet zu viele wichtige Aspekte menschlichen Wohlergehens aus – wie die Antworten im eingangs zitierten britischen Beispiel gezeigt haben. Insbesondere ist unklar, wer eigentlich vom BIP-Wachstum profitiert: So kann das Median-Haushaltseinkommen in einem Land fallen, während das BIP pro Kopf steigt. Ein sogenannter Trickle-down-Effekt, bei dem auch die mittleren und unteren sozialen Schichten vom Wachstum profitieren, ist keineswegs garantiert. Außerdem steigt das BIP bei Naturkatastrophen an, es ignoriert Nachhaltigkeitsaspekte sowie sämtliche außerhalb des Marktes erbrachten Leistungen von Haushaltsarbeit bis hin zu ehrenamtlichem Engagement, die jedoch für unser Wohlergehen wichtig sind.
Zwar zeigen neuere Untersuchungen, dass das BIP als Indikator für gesellschaftlichen Fortschritt besser geeignet ist, als es so manche Kritik suggeriert. Zum einen schneidet es in einer internationalen Studie
Dennoch betonen auch diese neueren Studien, dass es jenseits des BIP noch genug Verbesserungspotenzial zur Abbildung der wahren Lebensqualität eines Landes gibt. Außerdem bleibt es schon aus prinzipiellen Gründen fraglich, ob wir unseren Fortschritt primär an einem so beschränkten Indikator wie der Gesamtmenge an produzierten Gütern und Dienstleistungen ausrichten wollen.
Deutschland auf der Suche
Nun hat sich also Ende 2010 eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags auf den Weg gemacht, neue Maßzahlen für das Wohlergehen des Landes zu suchen und einen "ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikator“ zu entwickeln.
Dieses Vorgehen birgt zwar die Gefahr, dass – anders als bei reinen Expertenrunden etwa in statistischen Ämtern – das wichtige Thema der Kommission unter die "parteipolitischen Räder“ gerät. Die Verortung der Runde hat jedoch den entscheidenden Vorteil, dass bei einer Konsenslösung das Ergebnis mit der ganzen Autorität eines gewählten Parlaments verkündet und mit entsprechender Relevanz in das politische Alltagsgeschäft integriert werden kann. Dafür wird es bis zum Ablauf dieser Legislaturperiode im Herbst 2013 jedoch nötig sein, dass alle Beteiligten die im Einsetzungsbeschluss aufgestellten Forderungen gegenüber etwaigen parteipolitischen Überlegungen priorisieren. Frei nach dem Motto: erst das Land, dann die Partei.
In einem Zwischenbericht hat sich die Projektgruppe 2 der Enquete-Kommission bereits auf bestimmte Bereiche für die neuen Indikatoren des Fortschritts geeinigt:
Allerdings muss konstruktive Kritik erlaubt sein. So hat sich die Enquete-Kommission laut Zwischenbericht darauf verständigt, mehrere einzelne Leitindikatoren nebeneinander zu stellen, anstatt sie in einem einzelnen Index zu aggregieren.
Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass man nicht die Einzelindikatoren verschiedener Maßeinheiten wie Lebensjahre und Euro miteinander verrechnen und gewichten muss, was niemals ohne das Fällen von gegebenenfalls kontroversen Werturteilen geschehen kann. Nachteilig ist dabei jedoch, dass es somit am Ende ein Nebeneinander von mehreren Indikatoren geben wird, von denen einige besser und andere schlechter abschneiden. Aufgrund der in der Politik oft anzutreffenden Neigung zu selektiver Wahrnehmung birgt dies die Gefahr des "Rosinen pickens“. Ein Index nach dem Vorbild des Canadian Index of Well-Being hätte stattdessen den Vorteil, das nationale Wohlergehen griffig und wirksam in einer einzigen Zahl abzubilden – in der Tat ist diese Prägnanz sicher einer der Hauptgründe, warum das BIP bis heute so erfolgreich dafür genutzt wird. Darüber hinaus kann man argumentieren, dass bereits durch die Selektion einzelner Indikatoren ein erhebliches Werturteil gefällt wurde, welches durch eine anschließende Gewichtung in einem Index nicht entscheidend "verschlimmert“ würde.
Im Fazit sprechen meiner Ansicht nach daher keine ausreichend überzeugenden Gründe dagegen, den finalen Indikatorensatz nicht auch in einen parallel existierenden Index zu aggregieren, welcher in der Folge sogar das öffentliche Interesse einfacher einzufangen vermag und somit als „Einfallstor“ für den detaillierteren Indikatorensatz fungieren kann.
Zudem sind neue Indikatoren kein Selbstläufer. Es muss selbstverständlich die Frage geklärt werden, was die ganze Übung bewirken soll; im Englischen spricht man treffend von der So-What!?-Frage. Klar ist, dass es sich bei der Suche nach neuen Indikatoren nicht um eine Trockenübung für Statistiker handelt, sondern dass es darum geht, den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zentrale Leitlinien des Fortschritts zur Orientierung zu geben. Falls man sich auf solche Indikatoren am Ende einigen kann, ist der entscheidende Punkt folglich, welche Relevanz sie für das alltägliche Geschäft haben werden.
Bereits heute verfügen wir über eine Vielzahl von Sozialindikatoren, die uns über fast alle Aspekte des täglichen Lebens Informationen liefern können. So gibt zum Beispiel das Statistische Bundesamt alle zwei Jahre einen Indikatorenbericht "Nachhaltige Entwicklung in Deutschland“ heraus, in welchem die vier Leitlinien der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt, internationale Verantwortung) anhand von 35 Maßzahlen sehr anschaulich und detailliert überprüft werden
Es wird deshalb darauf ankommen, die neuen Maßzahlen hochrangig in der Sozialberichterstattung zu verorten und dadurch in die politischen Debatten der Zeit gezielt einzuspeisen. Ein zu dieser Thematik neu zu schaffender Sachverständigenrat oder ein Institut könnten wirksame Mittel sein. Zu ritualisierende Mechanismen wie eine indikatorenbasierte State-of-the-Union-Rede eines führenden Regierungsvertreters können ebenfalls helfen.
Sollte es jedoch gelingen, neue Indikatoren des gesellschaftlichen Wohlergehens an prominenter Stelle zu verankern und mit Relevanz für die politische Praxis regelmäßig in die Debatten unserer Zeit einzubringen, könnten sich tief greifende Folgen für politische Prozesse einstellen: angefangen von einer neuen Kultur der Rechenschaft bis hin zu mehr evidenzbasierten Politikmaßnahmen und mehr Bürgerbeteiligung in der Frage, wie wir eigentlich zukünftig zusammenleben wollen und woran wir unseren Fortschritt bemessen.
Von der Theorie zur Praxis
Der Politik bietet sich dieser Tage vor allem jedoch eine Chance, die auch die Enquete-Kommission bis zum Ende ihrer Arbeit noch mehr forcieren muss. Wenn wir verstärkt fragen, was uns im Leben etwas bedeutet und wie die Politik diese Faktoren befördern oder zumindest nicht behindern kann, kommt uns die neue akademische Glücksforschung wie gerufen. Eine rasch wachsende Zahl von Forschungsarbeiten erkundet, was Menschen zufrieden macht (vgl. Abbildung in der PDF-Version). Die Glücksforschung ermittelt in Umfragen, wie glücklich oder auch wie zufrieden die Befragten mit ihrem Leben sind. Glück und Lebenszufriedenheit werden dabei in der Literatur oft synonym verwendet, so auch in diesem Text. Es ist jedoch anzumerken, dass streng genommen Fragen nach der Lebenszufriedenheit ein geeigneterer Maßstab sind als Fragen nach dem Glück: Während letztere eher eine affektive Einstellung einfangen, vermögen erstere eine kognitive Bewertung des Lebens der Menschen abzubilden und sind somit eindeutig vorzuziehen, wenn es um politische Gestaltung geht.
Der von der Glücksforschung eingeleitete Paradigmenwechsel geht quer durch die akademischen Disziplinen: Volkswirte sprechen von einer "Revolution“ in ihrem Fachgebiet, wie zum Beispiel die "Happiness-Ökonomen“ Lord Richard Layard und Bruno Frey. Auch Psychologen haben neue Methoden der "Positiven Psychologie“ entwickelt, allen voran Martin Seligman, der jüngst sogar damit beauftragt wurde, die Forschungserkenntnisse beim größten Arbeitgeber der USA zur Anwendung zu bringen – der US-Army.
Die potenziell weitreichenden Folgen dieser neuen Erkenntnisse für die Ausgestaltung unserer Politikmaßnahmen wurden jedoch noch nicht annähernd ausreichend erörtert – geschweige denn durch einen systematischen Wissenstransfer von der Glücksforschung in die praktische Politik institutionalisiert überprüft. Mit anderen Worten: Was müssten Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger anders machen, wenn wir die Erkenntnisse zur Lebenszufriedenheit der Menschen beim Gesetzgebungsprozess berücksichtigen würden?
Eine solche "Politik des Glücks“ ist keineswegs gleichzusetzen mit einer "Glücksgarantie“ durch die Politik. Die Eigenverantwortung des Individuums bleibt selbstverständlich zentral. Etwas anderes ist schließlich gar nicht möglich und gehört allenfalls in die fiktionalen Dystopien à la Aldous Huxley: Die Politik kann uns nicht zwingen, glücklicher zu werden, genauso wenig wie sie uns zwingen kann, produktiver zu werden. Aber die Politik sollte dem Glück des Einzelnen auch nicht im Wege stehen, sondern stattdessen effektive Rahmenbedingungen setzen, damit jede Bürgerin und jeder Bürger auf ihre und auf seine Weise glücklich werden kann. Darum ist es wichtig, bestehende und zukünftige Gesetzesinitiativen daraufhin zu prüfen, inwiefern sie im Einklang mit den Erkenntnissen der Glücksforschung die Lebenszufriedenheit der Menschen mehren oder mindern.
Stehen politische Entscheidungsträger zum Beispiel vor der Frage, ob sie von einem knappen Budget mehr Ressourcen in den Gesundheitssektor oder den Bildungssektor fließen lassen sollen, kann die Glücksforschung zusätzliche Informationen über eine effektive Nutzung der Mittel geben. Durch Evaluation von Initiativen bezüglich ihres Effekts auf die Lebenszufriedenheit erhalten Entscheider außerdem einen unabhängigen und wichtigen Maßstab, der erkennbar macht, welchen Einfluss bestimmte Programme, beispielsweise Schulpolitiken, Integrationsmaßnahmen oder Arbeitsbeschaffungsinitiativen, jeweils auf die Betroffenen haben. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten der Kosten-Nutzen-Analyse, die nicht etwa auf monetäre Faktoren beschränkt sind, sondern deren Währung die tatsächliche Lebensqualität der Menschen ist. Dies wiederum kann uns helfen, knappe öffentliche Ressourcen optimal zu verteilen.
Auf internationaler Ebene hat man dies bereits erkannt: Schon der erwähnte Stiglitz-Bericht urteilte, dass solche subjektiven Indikatoren insgesamt eine Schlüsselrolle bei der Ermittlung der Lebensqualität der Menschen spielen. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat im Juli 2011 per Resolution die Regierungen aufgefordert, das Glück und die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger stärker ins Zentrum des Regierungshandelns zu rücken. Auch die OECD, weltweit bedeutendste Quelle verlässlicher statistischer Daten und Hort rigoroser Ökonometrie, nimmt sich inzwischen des Themas Glücksmessung an und entwickelt dazu ein eigenes Handbuch für statistische Ämter. Damit soll zukünftig offiziellen Statistiken zur Lebenszufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger in OECD-Ländern der Weg gebahnt werden. Und schließlich forderte jüngst Herman Van Rompuy, Präsident des Europäischen Rates, die Regierungschefs führender Nationen – von Barack Obama bis Angela Merkel – in einem offenen Brief auf, die Themen "Glück und Wohlergehen“ zur politischen Priorität 2012 zu machen.
Wer dennoch Skepsis beim Gedanken an die Wortpaarung Glück und Politik hat oder – wie jüngst Bundespräsident Joachim Gauck – eine "glücksüchtige Gesellschaft“ fürchtet, der sollte bedenken, dass sich der Staat nicht aus seiner bestehenden Verantwortung stehlen kann. Ob wir wollen oder nicht, die Politik ist bereits jetzt in Teilen für unser Glück verantwortlich: Bei der Ausgestaltung der öffentlichen Sicherheit, der Organisation eines menschlichen Wirtschaftssystems oder auch der Konzeption einer bewohnerfreundlichen Stadtplanung braucht das Individuum den Staat. Für die Politik ergibt sich daraus ein dringender Bedarf, zukünftig zu überprüfen, wie Politikmaßnahmen auf den neueren Forschungserkenntnissen beruhend optimiert werden können. Der große Verdienst der Glücksforschung ist dabei, den Menschen nicht durch die Politik oder die Wissenschaft vorzuschreiben, welche Aspekte und Dimensionen der Lebensqualität man von "Expertenseite“ für wichtig erachtet (wie etwa Einkommen), sondern aus den Antworten der Befragten selbst zu erkennen, was ihnen für ihr eigenes Glück wichtig ist.
Die Zeit ist also Reif für ein systematisches Glücks-Audit in der Politik. Wir müssen überprüfen, wie Politikmaßnahmen auf die wichtigsten Einflussfaktoren für hohe Lebenszufriedenheit wirken, wer demzufolge die wirklichen Gewinner und Verlierer von neuen Regelungen sind, und wie wir somit die Lebensqualität in unserem Land effektiv steigern können. Internationale Vorbilder formieren sich schon. Im britischen "Green Book“, einer Art Bausteinkasten für Politikmaßnahmen mit Relevanz für sämtliche neuen Gesetzesvorhaben, untersucht derzeit die Treasury, das britische Finanzministerium, inwiefern Ansätze aus der Glücksforschung bei der Evaluation und Planung von neuen Maßnahmen berücksichtigt werden können.
Nicht zuletzt zeigt auch das kleine Himalaya-Königreich Bhutan innovative Schritte auf, indem zur Mehrung des "Bruttonationalglücks“ jede geplante Gesetzesinitiative durch ein Policy Screening Tool daraufhin überprüft wird, wie diese auf das Wohlergehen der Bevölkerung wirkt. Und auch in Deutschland werden Gesetzesmaßnahmen bereits durch eine institutionalisierte Folgenabschätzung immerhin in Bezug auf Nachhaltigkeit überprüft. Hier lässt sich anknüpfen.
Solch ein systematisches Glücks-Audit dürfte am Ende auch zu einer Überprüfung eingefahrener ideologischer Denkmuster links wie rechts führen. Denn die Messung der Lebenszufriedenheit folgt keiner vorgefertigten Ideologie, sondern ist nur den unabhängigen Selbstauskünften der Bürgerinnen und Bürger in basisdemokratischer Weise verpflichtet. Es wäre unter diesen Umständen nicht mehr möglich seine Klientel heimlich zu bevorzugen oder Partikularinteressen zu verschleiern. Trauen sich die politischen Akteure das zu?