Die Frage, welches Wachstum und welchen Wohlstand wir wollen, wird derzeit intensiv diskutiert. Das hängt mit der aktuellen Wirtschaftskrise und einer Intensivierung der Diskussion um die ökologische Krise zusammen.
Die bedeutendste Wachstumskritik ist der seit etwa 40 Jahren bestehende Diskussionsstrang der ökologischen Grenzen des Wachstums. Ausgehend von der Studie "Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome aus dem Jahre 1972 entwickelte sich eine intensive wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatte. Die zentrale Annahme lautet, dass es eine Knappheit von Ressourcen sowie der Möglichkeiten der Energieumwandlung gibt. Diese Diskussion wird seit den 1990er Jahren ergänzt durch die Grenzen der Aufnahmefähigkeit etwa von Wäldern und Ozeanen ("Senken“) sowie der Atmosphäre und Stratosphäre für Emissionen oder Immissionen (CO2, Chemikalien, Abfälle aller Art). Seit den 2000er Jahren wird die Zerstörung zusammenhängender Ökosysteme in der Diskussion wichtiger.
Hier setzt die ökologisch ausgerichtete Post-Wachstumsdebatte an. Viel diskutiert ist etwa das Buch "Wohlstand ohne Wachstum“ von Tim Jackson,
Einen zweiten Strang bildet die Glücksforschung, welche die These vertritt, dass ab einem bestimmten Punkt die Höhe des Einkommens kaum mehr mit wachsender Lebenszufriedenheit korreliert: "Wirtschaftswachstum war für lange Zeit Motor des Fortschritts, doch in den reichen Ländern ist dieser Antrieb inzwischen weitgehend erschöpft. Das ökonomische Wachstum ist nicht mehr wie einst von Maßnahmen für das Wohlergehen und Wohlbefinden der Bürger begleitet. Schlimmer noch: So haben Ängste, Depressionen und andere soziale Probleme mit wachsendem Wohlstand zugenommen.“
Wirtschaftswachstum ab einer bestimmten Einkommenshöhe verschärft demgegenüber soziale Probleme, da in Gesellschaften mit weitgehend gesicherten Grundbedürfnissen Druck, Konkurrenz und Konsumismus zunehmen. Entsprechend benötigen die Menschen einen anderen Blick auf ihre eigenen Gesellschaften, um überhaupt ein breiteres Verständnis von Lebensqualität zu erhalten.
Ein dritter Strang nimmt Motive der ökologischen Kritik und der Glücksforschung auf und übersetzt sie in eine radikale Diagnose sowie eine attraktive Botschaft.
Konsens in der "starken“ wachstumskritischen Diskussion ist, dass es gesellschaftlicher Veränderungen bedarf, um vielfältige soziale und ökologische Probleme zu bearbeiten. Die Orientierung an wirtschaftlichem Wachstum ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Wohlstand ohne Wachstum ist vorstellbar, umsetzbar und unabdingbar. Die unterschiedlichen Beiträge stellen zudem eine Kritik an der herrschenden Meinung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften dar, da sie den nutzenmaximierenden und ausschließlich auf die Güterwelt ausgerichteten homo oeconomicus sowie die Zentralität des Wirtschaftswachstums hinterfragen.
Allerdings läuft die wachstumskritische Debatte Gefahr, zentrale Momente wirtschaftlichen, das heißt kapitalistischen Wachstums zu unterschätzen, nämlich ihren herrschaftlichen Gehalt. Wirtschaftswachstum reproduziert nämlich gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Lebenschancen und Handlungsspielräume, Vermögen und Einkommen höchst unterschiedlich verteilt sind. Es sichert gesellschaftlichen Ein- und Ausschluss, Klassen- und Eigentumsverhältnisse, die asymmetrische Beziehung zwischen Männern und Frauen, zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten sowie internationale Ungleichheiten. Dies soll im Folgenden anhand zentraler Argumente feministischer und marxistischer Wachstumskritik ausgeführt werden. Es bedarf dazu auch einer Präzisierung, was unter kapitalistischem Wachstum verstanden wird.
Feministische Wachstumskritik.
Die feministische Wachstumskritik nimmt einige der oben genannten Motive auf; wenngleich feministische Einsichten immer wieder in anderen wachstumskritischen Beiträgen – und auch in der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ – übergangen werden.
Aus feministischer Perspektive sind andere Verständnisse von Wohlstand und dessen Produktion sowie von Genuss notwendig – und damit ein viel breiteres Verständnis von Ökonomie, das über die kapitalistische markt- und geldvermittelte Wirtschaft hinausgeht. Gemeint sind viele nicht-kapitalistische Wirtschaftsformen, die unter anderem als Gemeinschaftsökonomien bezeichnet werden.
Marxistische Wachstumskritik.
Eine in der Tradition von Karl Marx stehende Wachstumskritik geht davon aus, dass gesellschaftliche Dynamik erstens von der Produktion des Tauschwertes und nicht von der Produktion der konkreten Gebrauchswerte bestimmt wird. Die Ware, die den Tauschwert verkörpert, hat jedoch "mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen“.
Drittens wird von einer herrschaftlich organisierten Arbeitsteilung ausgegangen. Historisch hat sich eine Klasse von Eigentümern an Produktionsmitteln und anderen Vermögen herausgebildet, die daran interessiert ist, dass sich ihr Geld vermehrt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen besitzt kein oder wenig Vermögen, sondern reproduziert sich durch Lohnarbeit, mit der die kapitalistischen Werte beziehungsweise Waren produziert werden. Umso mehr Menschen ihr Leben über Lohnarbeit sichern, desto eher werden die Produktion von Waren und damit kapitalistisches Wachstum ermöglicht. Das sehen wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten in China, wo Hunderte Millionen Menschen in Lohnarbeit gezogen wurden, um Waren für die ganze Welt zu produzieren (und das in ihrer Mehrheit wohl auch wollen, wenngleich man die konkreten sozialen und ökologischen Bedingungen berücksichtigen muss). Die Klassenstruktur hat sich in vielen Ländern ausdifferenziert. Dennoch gilt: Wenn Menschen von Lohnarbeit leben, haben sie ein Interesse daran, dass sie diese Lohnarbeit nicht verlieren. Damit sichern sie auch die kapitalistischen Klassenverhältnisse. Die meisten Menschen anerkennen, weitgehend unfreiwillig und machtlos, als Lohnabhängige nicht nur die kapitalistische Wachstumsmaschinerie, sondern eben die darunter liegenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse.
Es werden in der Diskussion viele Treiber des Wachstums genannt: technischer Fortschritt, Produktivitätsentwicklung, Konsumismus und seine sozialpsychologischen Dimensionen, die Notwendigkeit Kredite aufzunehmen und zurückzubezahlen, Globalisierung und Urbanisierung. Das ist alles richtig. Und doch gilt es zu berücksichtigen, dass zum einen die sozialen Herrschaftsverhältnisse im Bewusstsein der solcher Herrschaft Unterworfenen nicht als solche wahrgenommen werden, sondern als stummer Zwang anonymer Verhältnisse, als kaum zu steuernde Prozesse von technischem Fortschritt und globalem Markt, von Produktivismus und Globalisierung. Mit anderen Worten: Die meisten Menschen erleben ihren Alltag als wenig handlungsfähige Individuen – allen neuen Managementmethoden und Verantwortungsübertragung sowie den Ansätzen zu politischer Partizipation zum Trotz. Das ist die Basis kapitalistischer Kultur. Zum anderen bestehen zentrale gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamiken unter Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz darin, immer weitere Aspekte der Gesellschaft in marktfähige Waren zu verwandeln. Das betrifft neben der Natur auch die Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Insofern ist der kapitalistische Markt beziehungsweise die Ökonomie nicht nur die Sphäre gesellschaftlicher Innovation, Produktion, Allokation oder Konsum, sondern es konstituieren sich darüber Herrschaftsverhältnisse entlang von Klassen-, Geschlechter- und ethnisierten Linien.
Grenzen des Planeten oder Inwertsetzung der Natur?
Meine zweite Überlegung besteht darin, Grundgedanken der feministischen und marxistischen Wachstumskritik auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur zu übertragen.
Die ökologischen Begründungen für ein neues Wohlstandsverständnis gehen meist von einer Übernutzung beziehungsweise Zerstörung der Natur aus. Prominent steht hier der Begriff der "planetarischen Grenzen“.
Ich schlage vor, der wachstumskritischen Debatte auch hier eine etwas erweiterte Perspektive zu geben, in der das krisenhafte Verhältnis von Gesellschaft zur Natur gefasst werden kann. Das berühmte Diktum der "Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor Adorno war: "Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird (d.h. sich aus den Abhängigkeiten von der Natur zu lösen, U.B.), gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein (erhöht also die Abhängigkeit, U.B.).“
Mit Horkheimer und Adorno lässt sich also argumentieren: Auch eine grün gepolte Ökonomie, deren wesentlicher Antrieb Gewinn, Konkurrenzfähigkeit und westlich-technologische Rationalität sind, deklariert sich zwar als Bearbeitung der ökologischen oder gar der multiplen Krise, wird aber die Naturbeherrschung und damit -zerstörung erhöhen.
Demokratische Transformationen?
Viele Debatten in Deutschland zeichnen sich bislang durch die weitgehende Ignoranz gegenüber Erfahrungen in Gesellschaften des globalen Südens aus. Insbesondere "China“ dient als Folie, wenn es um die fehlende Nachhaltigkeit nachholender Modernisierung und Industrialisierung sowie globale geopolitische und geoökonomische Konkurrenz geht.
Doch kehren wir abschließend zurück in unsere Gefilde. Petra Pinzler formulierte hinsichtlich wachstumsskeptischer Einstellungen der Bevölkerung einen wichtigen Punkt: "82 Prozent halten zumindest im Grundsatz weiteres Wirtschaftswachstum für nötig, um die politische Stabilität zu erhalten. Wie Demokratie funktionieren könnte, wenn die Wirtschaft wirklich dauerhaft schrumpfte – das also scheint für viele die wirklich unbeantwortete Frage zu sein.“
Eine "wachstumsbefreite Gesellschaft“ (Wolfgang Sachs) hätte die unterschiedlichen Formen sozialer Herrschaft – klassen- und geschlechterspezifischer, rassistischer und internationaler – sowie die Herrschaft über die Natur anzugehen. Denn bislang ist die dominante Erfahrung der meisten Menschen, die Gesellschaft nicht gestalten zu können. An den Schalthebeln der politischen und ökonomischen Macht sitzen andere, welche die wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen treffen. Und die achten darauf – dieser Aspekt ist in der aktuellen Krise zu berücksichtigen –, dass das auch so bleibt. Demokratische Prozesse hin zu Post-Wachstum beziehungsweise die demokratische Transformation der Gesellschaft umfassen attraktive und demokratisch gestaltete Formen der Produktion und Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Kleidung, von Wohnen und Zusammenleben: Wie sehen nachhaltige Städte aus, was bedeutet solidarische Mobilität? Wie werden Nahrungsmittel nachhaltig, fair und weltweit in ausreichender Menge produziert und verteilt, die gut schmecken und gesund sind? Wie werden Konflikte ausgetragen mit den global players der transnationalen Nahrungsmittelindustrie, wenn Lebensmittel wieder lokal und regional produziert werden?
Eine wichtige Rolle spielen sozialökologische Experimente sowie "Pioniere des Wandels“ wie Erfinder, Unternehmen, Teile der Politik, Verbraucherinnen und Verbraucher, Nichtregierungsorganisationen in unterschiedlichen Bereichen wie Stadtentwicklung, Energieversorgung oder Landwirtschaft, "welche die Optionen für die Überwindung einer auf der Nutzung fossiler Ressourcen beruhenden Ökonomie testen und vorantreiben und so neue Leitbilder bzw. Visionen entwickeln helfen, an denen sich der gesellschaftliche Wandel orientieren kann. Die Pioniere agieren zunächst als Nischenakteure, können dann aber zunehmend Wirkungskraft entfalten und die Transformation entscheidend befördern.“