Weltweit haben im Jahre 2011 überwiegend junge Menschen gegen autoritäre Regime, soziale Missstände und die Macht der Banken und Ratingagenturen protestiert. 2011 wurde – in Analogie zu 1968 – deshalb vielfach als Jahr der Jugendproteste tituliert.
Hindernislauf in die Welt der Erwachsenen
Weltweit gibt es derzeit 1,2 Milliarden Jugendliche, davon leben 90 Prozent in Ländern des globalen Südens, hiervon mehr als die Hälfte in Indien und China.
Heirat und Familiengründung.
Dies war und ist in den meisten Gesellschaften, insbesondere in den Ländern des globalen Südens, nach wie vor der wichtigste Markstein für das Erwachsensein. In Entwicklungsländern heiratet mehr als ein Drittel der Mädchen, bevor sie das 18. Lebensjahr erreicht haben.
Eintritt in den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Eltern oder anderen Familiennetzwerken.
Obwohl die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen stets höher ist als bei Erwachsenen, hat die Finanzkrise der vergangenen Jahre vor allem, aber nicht nur, in den entwickelten Industrieländern verheerende Folgen für Jugendliche gehabt. Weltweit waren 2011 fast 75 Millionen Jugendliche (15- bis 24-Jährige) arbeitslos, vier Millionen mehr als 2007. Weit größer als die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen ist die Zahl derjenigen, die zwar arbeiten, davon aber kaum überleben können. Dies betrifft vor allem Jugendliche in Subsahara Afrika und Südasien.
Erwerb und Ausüben von Bürgerrechten.
Die hiermit verbundenen Marker sind vom politischen System und den spezifischen Möglichkeiten der Partizipation abhängig. Dies umfasst unter anderem das aktive und passive Wahlrecht, aber auch andere Formen der Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, die vielfach stark geschlechtsspezifisch sind.
Diese drei Statuspassagen hängen eng miteinander zusammen. Längere und bessere Ausbildung verlängert nicht nur die Lebensphase Jugend in fast allen Weltregionen, sondern verbessert die Chancen auf dem formalen Arbeitsmarkt, führt zu späterer Familiengründung und weniger Schwangerschaften. (Zwar hat sich die Lücke zwischen Jungen und Mädchen beim Besuch der Primarschule weltweit verringert, es bleiben aber gravierende Differenzen im Sekundarschulbereich und darüber hinaus bestehen. Dies spiegelt Unterschiede in Bezug auf Reichtum, den Wohnort (Stadt oder Land) und Geschlecht wider: Mädchen aus den ärmsten Haushalten haben weltweit die geringste Chance in die Schule zu gehen, während Jungen aus den reichsten Haushalten am seltensten Schulabbrecher sind.
Die hiermit verbundenen Problemlagen zeigen sich vor allem dort, wo der Übergang ins Erwachsenenleben durch wirtschaftliche, soziale oder politische Entwicklungen blockiert wird. In einigen Gesellschaften Afrikas, des Nahen Ostens, aber auch in Europa gelten nicht selten über 30-Jährige noch als Jugendliche, weil sie ohne eigenes Einkommen bleiben, wirtschaftlich von den Eltern oder Familien abhängig sind und deshalb keine eigene Familie gründen können. Im Nahen Osten spricht man daher von einer „Generation im Wartestand“,
Prekäre Lebenswelten
Drei Prozesse beeinflussen jugendliche Lebenswelten weltweit: demografische Entwicklungen, Urbanisierung und Migration sowie nicht zuletzt die Globalisierung.
Demografische Veränderungen sind ein zentraler Bestandteil von Prozessen des sozialen Wandels. Anfang November 2011 haben die Vereinten Nationen den siebenmilliardsten Weltbürger willkommen geheißen. Sowohl die Region, in welcher dieses Kind geboren wurde, als auch die demografischen Gegebenheiten im unmittelbaren Umfeld wirken sich entscheidend auf dessen konkrete Lebensperspektiven aus. Weltweit nimmt der Anteil der Jugendlichen an der Bevölkerung in den nächsten Jahren ab, allerdings sind die Unterschiede zwischen Industriegesellschaften und Entwicklungsländern sowie zwischen den einzelnen Weltregionen sehr groß.
Auch Migration und Urbanisierung beeinflussen die Lebenswelten und damit die Statuspassagen von Jugendlichen weltweit. In Agrargesellschaften wachsen Jugendliche nach wie vor allmählich in die Erwachsenenwelt hinein und übernehmen sukzessive gesellschaftliche Aufgaben. Allerdings haben sie dort vielfach über den Primarschulbereich hinaus keinen Zugang zu Bildung. Migration und Urbanisierung bieten hier einen Ausweg. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass Jugendliche weltweit ein Drittel der grenzüberschreitenden Migranten stellen. Die Zahl derjenigen, die innerhalb der Landesgrenzen migrieren, ist sicher noch wesentlich höher, auch wenn es hierfür keine international vergleichbaren Daten gibt. 2010 war vermutlich das erste Jahr in der Menschheitsgeschichte, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Städten wohnte. Die am schnellsten wachsenden Städte der Welt liegen in den Ländern des globalen Südens – angeführt von Mumbai und Mexico-City mit etwa 20 Millionen Einwohnern und zahlreichen Metropolen um die zehn Millionen Einwohner (wie etwa Kairo, Manila, Lagos, Jakarta).
Migration und Urbanisierung sind für Jugendliche aber nicht nur mit Chancen, sondern auch mit Gefahren verbunden: Sie bleiben in den Städten vielfach sich selbst überlassen, sorgen als Familienoberhaupt für jüngere Geschwister oder müssen arbeiten und zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Die damit verbundenen Konflikte hat bereits Charles Dickens in seinem Roman „Oliver Twist“ für das London des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll beschrieben. Das Überleben in den Slums von Kalkutta oder den Favelas von Rio de Janeiro heute ist anders, aber nicht einfacher. Auch hier fehlt die gerade für Kinder und Jugendliche wichtige soziale Infrastruktur vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen; informelle Netzwerke ersetzen zumindest teilweise staatliche Institutionen.
Die wachsende Vernetzung der Welt im Kontext der Globalisierung führt schließlich dazu, dass sich die Anforderungen an und die Möglichkeiten für die Jugendlichen grundlegend ändern. Dies gilt zum einen für die Nutzung der neuen digitalen Medien. Hier sind Jugendliche der Generation ihrer Eltern weit voraus. Auch wenn vor allem Jugendliche aus der Mittel- und Oberschicht Zugang zu diesen Technologien haben, wächst die Zahl der Internetnutzer weltweit gerade auch in Ländern des globalen Südens: Die Dichte der Internetzugänge in der Bevölkerung ist in Nordamerika am höchsten, gefolgt von Australien/Ozeanien und Europa; in Subsahara Afrika und dem Nahen Osten sind allerdings die Zuwachsraten der Internetnutzung am größten.
Gleichzeitig verändert die Globalisierung die Voraussetzungen für den Eintritt in den Arbeitsmarkt. Dabei ist nicht nur Bildung an sich, sondern die jeweils für die globalisierte Wirtschaft passende Bildung der Schlüssel für den Übergang in die ökonomische Unabhängigkeit. In vielen Gesellschaften sind nicht etwa diejenigen Jugendlichen arbeitslos, die über keinerlei Bildung verfügen, sondern vielfach jene, die einen Sekundär- oder Universitätsabschluss haben. In Ägypten liegt die Arbeitslosigkeit junger Universitätsabsolventen zehnmal höher als die von jungen Menschen, die lediglich einen Grundschulabschluss haben.
Neben dem Mangel an Jobs gibt es außerdem vielfach eine starke Diskrepanz zwischen Ausbildung und persönlichen Vorstellungen einerseits und den Erfordernissen des jeweiligen Arbeitsmarktes andererseits. Für Universitätsabsolventen in Lateinamerika und dem Nahen Osten ist beispielsweise die öffentliche Verwaltung nach wie vor der bevorzugte Arbeitgeber. Angesichts leerer Kassen und einer vielfachen Steuerung des Zugangs über persönliche Klientelbeziehungen bleibt diese Arbeitsplatzperspektive aber vielen Absolventen verschlossen.
Angesichts solch prekärer Lebenswelten werden junge Menschen vielfach als Risikofaktor für die gesellschaftliche Stabilität oder sogar für die internationale Sicherheit wahrgenommen. Vor allem mit Bezug auf die arabische Welt hat die sogenannte youth-bulge-These an Popularität gewonnen. Von einer Jugendblase (youth bulge) wird gesprochen, wenn der Anteil der 15- bis 24-jährigen Menschen an der Gesamtbevölkerung überproportional (über 20 Prozent) groß ist. Weltweit beträgt der Anteil der Jugendlichen zurzeit 17,6 Prozent. Als konfliktträchtig gilt dabei vor allem eine Kombination aus einem hohen Anteil junger Männer ohne Perspektiven auf eine Integration in den Arbeitsmarkt und das politische System. Diese Debatte fokussiert überwiegend auf die strukturellen Bedingungen, die junge Menschen dazu bewegen, sich an politischer Gewalt zu beteiligen. Die Radikalisierung und die Überschreitung gesellschaftlicher Grenzen wird Jugendlichen meist aufgrund einer höheren Risikobereitschaft und geringeren Einbindung in den Status quo zugeschrieben.
Damit prekäre Lebenswelten zu Protestverhalten führen, sind drei weitere Schritte notwendig: Erstens muss ein Interpretationsrahmen zur Verfügung stehen, der diese prekären Lebenswelten nicht als „normal“ oder „gottgegeben“ erscheinen lässt. Zweitens muss eine Zuweisung der Verantwortlichkeit an konkrete Personen erfolgen. Schließlich benötigt die kollektive Aktion einen Auslöser.
Mobilisierung und soziale Kohäsion
Mobilisierung für gemeinsames Handeln ist eng verbunden mit bestehenden Formen der sozialen Kohäsion und kollektiven Identität, die sich allerdings im Prozess des sozialen Wandels nicht nur verändern, sondern auch vervielfachen. Unter dem Fokus auf Jugendliche ist die Frage entscheidend, ob und wie junge Menschen in diese bestehenden Muster integriert werden. Dabei unterscheidet sich vor allem die Art und Weise, wie Jugendliche und Erwachsene an den Sozialisationsprozessen beteiligt sind. In vielen Fällen werden Jugendliche von Erwachsenen begleitet, angeleitet oder kontrolliert, beispielsweise in den Jugendorganisationen von politischen Parteien, Gewerkschaften oder Religionsgemeinschaften. Sozialisationsprozesse unter Kontrolle der Erwachsenen haben einen konservativen Bias und zielen insbesondere darauf ab, die bestehende soziale Ordnung entweder zu bewahren oder im Sinne der Erwachsenen zu verändern. Der Spielraum für Wandel und Veränderung ist hier begrenzt beziehungsweise abhängig von der Flexibilität und Offenheit der gesellschaftlichen Institutionen.
Allerdings gibt es auch Formen der Sozialisation, die von Jugendlichen mehr oder minder autonom organisiert werden. Zwar existieren bisweilen auch hier hierarchische Strukturen; aber zumindest die Altersunterschiede sind wesentlich geringer, was nicht zwingend mit egalitären Machtstrukturen einhergeht.
Die Frage des politischen Regimes spielt hier eine wichtige Rolle. Demokratische Systeme bieten Jugendlichen – zumindest theoretisch – ab Erreichen des Wahlalters gleichberechtigte Teilhabe, während diese in autoritären Regimen auf der Mitgliedschaft in politischen, sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen oder Klientelnetzwerken basiert. Langzeitstudien zur politischen Partizipation von Jugendlichen zeigen, dass deren frühzeitiges Engagement langfristige Auswirkungen auf die von ihnen vertretenen Normen und Werte hat und ein guter Indikator für ihre politischen Einstellungen als Erwachsene ist.
Proteste 2011 – same but different
Jugendliche haben sich 2011 alleine oder gemeinsam mit anderen Gruppen und Organisationen weltweit an Protestbewegungen beteiligt. Vorher gab es überall spezifische Ereignisse oder Entwicklungen, die kollektives Handeln ermöglichten. In Chile wurden durch die Ablehnung der Veränderung des Statuts der Zentraluniversität Proteste belebt, die sich schon in den Jahren davor gegen die Privatisierung von Schulen und Universitäten gerichtet hatten. In Tunesien war es die Selbstverbrennung eines jungen Gemüsehändlers, der von der Polizei schikaniert worden war. In London war es der Tod eines 29-Jährigen bei einem Polizeieinsatz. Die ersten Proteste und Gewaltakte finden vielfach Unterstützer und Nachahmer mit unter Umständen gleichen, teilweise aber auch gänzlich anderen Zielsetzungen. So sieht sich die Occupy-Wallstreet-Bewegung explizit in der Nachfolge der Proteste des „Arabischen Frühlings“, auch wenn ihr Thema der übergroße Einfluss der Banken und Ratingagenturen ist. Gleichzeitig kann sie an die Proteste gegen die internationalen Gipfeltreffen beispielsweise der Welthandelsorganisation anknüpfen.
Für den Fortgang und die Eskalation spielte die Reaktion der jeweiligen Regierung und der Sicherheitskräfte eine zentrale Rolle. Der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Formen des Protests und dem politischen Regime ist bisher nur unzureichend empirisch untersucht, spielte 2011 aber offensichtlich eine wichtige Rolle. Im „Arabischen Frühling“ waren Jugendliche stark politisiert und forderten die Öffnung der autoritären Systeme. In den demokratischen Regierungssystemen Lateinamerikas wird der Protest gegen gesellschaftliche Probleme wie Ungleichheit und fehlende Zukunftsperspektiven dagegen überwiegend als punktuelle Gewalteskalation, Überlebenskriminalität und politische Apathie wahrgenommen. Die politischen Forderungen der chilenischen Studentenbewegung haben dagegen gezeigt, dass es auch anders geht.
Letztlich spiegeln die Jugendproteste des Jahres 2011 weltweit zwei eng miteinander verknüpfte Konfliktlagen wider: den blockierten Weg in die ökonomische Unabhängigkeit und die fehlende Beteiligung an der Entscheidung politischer Fragen, welche für die Realisierbarkeit von Zukunftschancen entscheidend sind. In vielen Regionen ermöglichen das Bildungssystem und der Arbeitsmarkt es jungen Menschen nicht, eine zukunftsfähige Ausbildung zu erhalten oder Arbeit zu finden. In Chile richtet sich der Protest gegen ein Bildungssystem, das in höchstem Maße kommerzialisiert und privatisiert ist, weshalb es soziale Mobilität verhindert. In Spanien und auch in vielen Ländern des Nahen Ostens ist die Arbeitslosigkeit gerade bei gut ausgebildeten jungen Menschen besonders hoch. Aber selbst dort, wo Jugendliche Arbeit haben, ist der Anteil derer, die von dieser Arbeit nicht überleben können, beträchtlich. Hier versagen die politischen Systeme offensichtlich und zwar unabhängig davon, ob sie demokratisch oder autoritär sind.
Die Probleme der Jugendlichen, die 2011 auf die Straßen gingen, waren lange bekannt. Dennoch wurden keinerlei Maßnahmen zu deren Überwindung eingeleitet. Ob die Proteste gewalttätig werden – wie bislang in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Griechenland und Großbritannien –, wird auch davon abhängen, ob Jugendliche nicht nur in Sonntagsreden als zentrale Akteure für die Zukunft ernst genommen werden.
Wo dies nicht geschieht, können zunächst punktuelle Proteste durchaus in die Systemfrage münden. Dies gilt für die Gesellschaften des „Arabischen Frühlings“ ebenso wie für Lateinamerika, Afrika und Asien. Überall werden junge Menschen gern für politische Zwecke mobilisiert (und kontrolliert), aber nur selten erhalten sie Spielraum für autonome Organisation oder die Formulierung (geschweige denn die Umsetzung) alternativer Lebenswelten.
Die 1,2 Milliarden Jugendlichen in den Ländern des globalen Südens sind schon quantitativ eine zu große Gruppe, als dass sie sich ignorieren ließen. Ihre Probleme sollten dagegen als Seismograf und Frühwarnsystem für grundlegende gesellschaftliche Probleme dienen. Dies würde es ermöglichen, Jugendliche in Gesellschaften zu integrieren, die flexibel und offen auf Reformbedarf reagieren.