Occupy geht um die Welt. Was verbindet die Protestierenden in den Zeltlagern im New Yorker Zuchotti-Park mit jenen auf der Grünfläche vor der europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main? Haben wir es mit einer transnationalen Bewegung zu tun? Wenn ja, was hält sie zusammen? Dieser Beitrag befasst sich mit der kollektiven Identität transnationaler Bewegungen. Betrachtet wird die wohl heterogenste und langlebigste transnationale Bewegung: die globalisierungskritische Bewegung. In Forderungen, Organisations- und Protestformen stellt sie einen wichtigen Vorläufer der Occupy-Proteste dar.
Soziale Bewegungen sind dichte Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die auf Grundlage einer gemeinsamen Identität sozialen Wandel herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen – meist mithilfe von Protest, der sich an klar definierte Gegner richtet.
Transnationale Bewegungen zeichnen sich nicht nur durch ihre geografische, sondern auch ihre soziokulturelle Diversität aus.
Kollektive Identität ist keine feststehende Eigenschaft, sondern bedarf der kontinuierlichen Neuausrichtung und Stabilisierung.
Dieser Frage wird im Folgenden mit Blick auf die globalisierungskritische Bewegung nachgegangen. Sie ist in vielerlei Hinsicht eine besonders heterogene transnationale Bewegung und damit ein interessanter Fall für die Frage des Zusammenhalts. Drei zentrale Aspekte der Identitätskonstruktion in sozialen Bewegungen werden unterschieden: gemeinsame Deutungsmuster, kollektives Handeln und aktive Netzwerke.
Die globalisierungskritische Bewegung
Die globalisierungskritische Bewegung, aufgrund ihrer Diversität auch oft im Plural genannt, bezeichnet ein Netzwerk meist linksorientierter Gruppen und Bewegungen, das sich gegen neoliberale Globalisierungsstrategien (wie etwa Freihandel, Deregulierung und Privatisierung) wendet und soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Gerechtigkeit fordert.
Die Zusammensetzung der Bewegung ist sehr heterogen. Dies betrifft zum einen die soziale Basis – im Gegensatz beispielsweise zur Arbeiterbewegung. Befragungen bei europäischen Protestaktionen haben gezeigt, dass die Teilnehmenden aus den unterschiedlichsten Berufsgruppen stammen (allerdings mit einem hohen Studierendenanteil).
Gemeinsame Deutungsmuster
Identität basiert auf einem gemeinsamen Verständnis von Problemen, Zielen und Mitteln.
In sozialen Bewegungen bezieht sich dieser gemeinsame Interpretationsrahmen speziell auf die anzugehenden Probleme sowie ihre Verursacher, mögliche Gegenmaßnahmen und die Handlungsmotivation.
Studien zur globalisierungskritischen Bewegung haben gezeigt, dass die Aktivistinnen und Aktivisten trotz unterschiedlicher Problemanalysen und Lösungsansätze einen übergreifenden Deutungsrahmen teilen.
Obwohl sehr breit, ermöglicht dieser Deutungsrahmen, gemeinsame Gegner zu identifizieren. Die Kritik richtet sich sowohl gegen neoliberale Politik auf nationaler Ebene als auch gegen transnationale Konzerne und internationale Regierungsorganisationen wie die Weltbank, den Internationalen Währungsfond (IWF) oder die WTO. Die Abgrenzung zu den politischen und wirtschaftlichen Eliten („Ihr G8, wir 6 Milliarden“
Die kürzlich mit globalisierungskritischen Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland geführten Interviews bestätigen dies: Gefragt danach, was sie vereint, betont der Großteil übereinstimmend die Opposition gegen die neoliberale Globalisierung. Diese sei die Ursache des Problems der ungleichen Verteilung von Ressourcen – mit „vielen Verlierern und wenig Gewinnern“.
Kollektives Handeln
Für den Zusammenhalt ist eine rein kognitive Übereinkunft über Problemursachen und Ziele nicht ausreichend.
Für den Zusammenhalt sozialer Bewegungen spielt kollektives Handeln eine wichtige Rolle, sowohl im Alltag als auch in außeralltäglichen Aktivitäten. Der persönliche Austausch und die geteilten negativen wie positiven Erfahrungen schaffen Vertrauen zueinander und Abgrenzung zu „den Anderen“.
Die globalisierungskritische Bewegung ist stark durch ihre außeralltäglichen, transnationalen Proteste und Treffen geprägt. Neben den europäischen und weltweiten Sozialforen sind vor allem die Gipfelproteste für den Zusammenhalt und die Kontinuität der Bewegung von großer Bedeutung. So zeigen Studien der Gipfelproteste, dass die gemeinsamen Protestaktionen Gefühle wie Wut, Angst, Panik, aber auch Freude und Euphorie hervorrufen, die aufgrund ihres gemeinsamen Erfahrens die Gruppenidentität bedeutend stärken.
Gefragt nach der Bedeutung transnationaler Treffen und Protestaktionen für die Bewegung nennen globalisierungskritische Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland an erster Stelle emotionale Faktoren. Hierbei wir vor allem das Gefühl hervorgehoben, „nicht alleine“ zu sein mit seinem Anliegen. Mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus der ganzen Welt zusammenzutreffen und zu „kämpfen“, verleiht ein „Gefühl der Solidarität und Stärke“. Das gibt „Mut“, von dem man in Zeiten von Rückschlägen oder der „alltäglichen Sisyphusarbeit“ zehren kann. Auch erlaubt es, eigene Probleme in den Zusammenhang anderer Probleme zu stellen und sich so als Teil einer globalen Bewegung zu begreifen. „Der Horizont erweitert sich.“ Der „lebendige“, persönliche Austausch – „dass man sich sieht, miteinander spricht und einander kennt“ – ist Voraussetzung für die kontinuierliche Zusammenarbeit über Entfernung, „sonst wird’s trocken, abstrakt und langweilig“.
Aktive Netzwerke
Wie der letzte Absatz andeutet, ist kollektives Handeln auch aus einem weiteren Grund von großer Bedeutung für den Zusammenhalt von Bewegungen. Die Identität sozialer Bewegungen nährt sich auch aus aktiven Netzwerken, in denen sich Akteure austauschen, gegenseitig beeinflussen, miteinander verhandeln und Entscheidungen treffen.
In sozialen Bewegungen, so haben mehrere Studien gezeigt, hängt sowohl der Beginn als auch die Kontinuität des aktivistischen Engagements stark von den persönlichen Beziehungen zu anderen Aktivistinnen und Aktivisten ab.
In der globalisierungskritischen Bewegung sind speziell enge und informelle Netzwerke zwischen Aktivistinnen und Aktivisten unterschiedlicher und/oder geografisch verstreuter Gruppen von großer Bedeutung.
In diesem Sinne betonen globalisierungskritische Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland neben der emotionalen Wirkung transnationaler Treffen und Proteste auch ihre Rolle im Entstehen und in der Intensivierung von Bündnissen: Das Kennenlernen von Personen anderer Gruppen ermöglicht und stabilisiert die Zusammenarbeit – „je besser man persönlich miteinander kann, desto besser“. Die Vernetzung stellt eine personelle und materielle „Ressourcenbündelung“ dar: Nicht nur Texte und Analysen können einfacher ausgetauscht werden, auch das Wissen, welche Personen man „in irgendeiner Weltregion“ mit einem bestimmten Anliegen ansprechen oder besuchen kann, ist zentral. Damit generieren die transnationalen Treffen und Proteste eine wichtige Bewegungsinfrastruktur.
Fazit
Der Zusammenhalt transnationaler Bewegungen hängt von drei Faktoren ab: erstens von gemeinsamen Deutungsmustern, die nicht nur ein geteiltes Verständnis von Problemen, Zielen und Mitteln ermöglichen, sondern auch die Abgrenzung zu anderen Akteuren; zweitens von kollektivem Handeln, das gemeinsame Gefühle hervorruft und damit das Gemeinschaftsgefühl sowie den Gründungsmythos stärkt; sowie drittens von aktiven Netzwerken, die den kontinuierlichen Austausch unter den Aktivistinnen und Aktivisten ermöglichen und stark durch in persönlichen Begegnungen aufgebautes Vertrauen geprägt sind.
Des Weiteren konnte am Beispiel der globalisierungskritischen Bewegung gezeigt werden, dass sich die kollektive Identität transnationaler Bewegungen von der in nationalen oder lokalen Bewegungen unterscheidet. So wurde deutlich, dass zwar alle drei Faktoren eine Rolle spielen,
Für das gemeinsame Handeln spielen besonders die großen internationalen Treffen und Protestaktionen eine zentrale Rolle, bei denen Aktivistinnen und Aktivisten aus der ganzen Welt zusammenkommen. Aufgrund der ideologischen, sozialen und strukturellen Vielfalt ist der gemeinsame Deutungsrahmen so breit gefasst, dass abweichende Detailanalysen und Lösungsansätze darin Platz finden. Enge und informelle Netzwerke sind besonders dann wichtig, wenn sie inhaltliche Vielfalt und geografische Distanz überbrücken. Kollektive Identität in transnationalen Bewegungen ist eine offene Form der Identität, die große Vielfalt zulässt – und wünscht.