Ziviler Ungehorsam erlebt in den vergangenen Jahren, insbesondere im deutschsprachigen Raum, eine Renaissance. Damit ist nicht der Akt des Ungehorsams gemeint – den hat es immer gegeben –, sondern die Verwendung des Begriffs ziviler Ungehorsam für gegenwärtige Formen des Protests. Ziviler Ungehorsam bezeichnet nicht nur eine schier unübersichtliche Vielzahl politischer Kämpfe, sondern ist selbst schon immer ein politisch umkämpfter Begriff gewesen: Er gilt sowohl als moralische Erpressung der Mehrheit durch eine Minderheit, als „bürgerliche Pflicht“ und „reformistisches Streben nach kosmetischen Korrekturen innerhalb des bestehenden Systems“, wie auch als radikales Transformationspotenzial.
Im Folgenden wird die Geschichte des Begriffs skizziert. Dabei wird deutlich, dass sie aufs Engste mit den jeweiligen politisch-aktivistischen Formen zivilen Ungehorsams verbunden ist. Anschließend werden verschiedene Aspekte des zivilen Ungehorsams dargestellt und auf gegenwärtige Diskussionen im deutschsprachigen Raum verwiesen.
In philosophischen Diskussionen über die Frage nach der Pflicht des Gehorsams gegenüber staatlicher Autorität gehen die historischen Bezüge bis auf Sokrates zurück. Dieser umfangreiche, vor allem rechts- und politisch-philosophische Diskurs wird im Folgenden nicht systematisch nachgezeichnet.
Die Geschichte des Begriffs ziviler Ungehorsam setzt zumeist bei Henry David Thoreaus (1817–1862) Essay von 1849 an, dem sein Verleger den Titel „Civil Disobedience“ gab (im Deutschen: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“).
Die wohl bekanntesten aktivistischen Theoretiker zivilen Ungehorsams sind Mohandas K. (Mahatma) Gandhi (1869–1948) und Martin Luther King, Jr. (1929–1968). Wie auch Thoreau haben sie nicht nur zivilen Ungehorsam in Reden und Schriften reflektiert und eingefordert, sondern auch selber – anders als Thoreau jedoch kollektiv – praktiziert. Gandhi machte zivilen Ungehorsam gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem massenkompatiblen Widerstandskonzept gegen die Apartheid in Südafrika und die britische Kolonialmacht in Indien. King wurde ab den 1950er Jahren zum Sprachrohr der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Beide wurden bereits zu Lebzeiten weltweit bekannt und ihre Schriften rezipiert.
Aspekte zivilen Ungehorsams
Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas hat zivilen Ungehorsam folgendermaßen definiert: „Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“
Im Folgenden wird diese Vielfältigkeit anhand von einander gegenübergestellten Aspekten des Begriffs dargestellt. Systematisiert werden diese Aspekte hinsichtlich der Begründungen, Voraussetzungen, Forderungen, Formen und Konsequenzen sowie der Art der Bezeichnung (s.Übersicht der PDF-Version). Die Kennzeichnung „↔“ in der Übersicht soll deutlich machen, dass es sich bei den jeweiligen Aspekten nicht notwendigerweise um ein „entweder-oder“ handelt, sondern um ein Kontinuum, von dem hier die jeweiligen zwei Pole benannt sind. Die Darstellung richtet sich nicht nach einem politischen Links-rechts-Schema; untereinanderstehende Aspekte sind nicht notwendigerweise Bestandteile derselben Definition von zivilem Ungehorsam. Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass die Aspekte völlig frei kombiniert werden.
Begründungen:
„Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir gerecht scheint“, so Thoreaus moralische Begründung für seinen zivilen Ungehorsam.
Ein solcher Gehorsam wird unter anderem aus philosophisch-anarchistischer Perspektive infrage gestellt.
Voraussetzungen:
Vorwiegend in akademischen Texten findet sich die Einschätzung, dass ziviler Ungehorsam nur in einem demokratischen Rechtsstaat stattfinden kann, da dies die Voraussetzung sei für die Infragestellung der Legitimität von Gesetzen (so etwa Rawls und Habermas). Von einem demokratischen Rechtsstaat auszugehen impliziert, dass der Staat gleichzeitig Adressat des Protests ist, der wiederum eine konkrete Veränderung (je nach Kontext auch Einhaltung) bestehenden Rechts anstrebt. Rawls zufolge müssen alle legalen Möglichkeiten des Protests bereits ausgeschöpft sein; gleichzeitig muss es sich um ein begrenztes Thema handeln – auch um nicht die Verfassungsordnung im Ganzen zu gefährden.
Auffällig ist hingegen, dass bei Ereignissen, die als Akte des zivilen Ungehorsams in die Geschichte eingegangenen sind, eben diese Voraussetzungen nicht oder nur teilweise erfüllt waren – zu denken wäre etwa an die Akte zivilen Ungehorsams vor und während des Umbruchs 1989/90 in Osteuropa.
Forderungen:
Ziviler Ungehorsam kann die Veränderung von Gesetzen einfordern (wie etwa die Abschaffung rassistischer Ungleichbehandlung) oder auch die Einhaltung von Gesetzen (wie etwa die Proteste gegen die Beteiligung an einem gemäß dem deutschen Grundgesetz verbotenen Angriffskrieg). Neben diesen substanziellen Forderungen kann aber auch statt eines konkreten Ziels der Prozess als solcher im Fokus stehen: Ziviler Ungehorsam kann die Forderung nach allgemeiner und fortwährender Demokratisierung bedeuten, die über ein vorwiegend repräsentatives Demokratieverständnis mit sehr begrenzten Mitbestimmungsmöglichkeiten hinausgeht.
Insofern kann ziviler Ungehorsam auch zu einer Transformation des bestehenden politischen Systems führen. Dagegen betonen liberale Theoretiker und Theoretikerinnen wie Habermas oder Rawls, dass Veränderungen innerhalb des bestehenden (rechtsstaatlichen) Systems stattfinden müssen.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich aufgrund zunehmender Globalisierungsprozesse – in denen neben Staaten auch nichtstaatliche Akteure und Akteurinnen wie Banken, Konzerne oder Nichtregierungsorganisationen an Einfluss gewonnen haben – auch die Annahme über potenzielle Adressatinnen und Adressaten zivilen Ungehorsams geändert. Richtete sich Thoreaus Protest noch ausschließlich gegen den Staat, beinhaltete schon Gandhis ziviler Ungehorsam einen Boykott britischer Produkte. Globalisierungskritikerinnen und -kritiker richten ihre Proteste unter anderem an (beziehungsweise gegen) die Welthandelsorganisation (WTO) oder den Internationalen Währungsfonds (IWF).
Formen:
Ziviler Ungehorsam „ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann“.
Die umstrittenste Frage hinsichtlich der Form des zivilen Ungehorsams ist zweifelsohne die der Gewaltfreiheit. Der Streitpunkt liegt vor allem in der Frage, ob Sachbeschädigung als Gewalt verstanden werden sollte oder nicht – Gewaltfreiheit damit also nur auf die Unversehrtheit von Menschen bezogen wird oder auch Sachbeschädigung ausschließt. Auch hier handelt es sich nicht um eine einfache Gegenüberstellung, sondern um ein Kontinuum, das nicht zuletzt bedingt ist durch die Frage, ob von physischer oder psychischer Gewalt gesprochen wird und ob die Definitionsmacht darüber, was als Gewalt gilt, bei den Verursachern beziehungsweise Verursacherinnen oder bei den potenziellen Opfern liegt. Unabhängig von der jeweiligen Definition von Gewaltfreiheit finden sich sowohl die moralisch begründete Ablehnung von Gewalt als auch strategische Begründungen für die Wahl gewaltfreier Mittel. Letztere zielen beispielsweise darauf ab, dass eine Auseinandersetzung mit gewaltvollen Mitteln angesichts einer (in der Regel) militärischen Übermacht staatlicher Autorität wenig aussichtsreich ist.
Ziviler Ungehorsam kann in Form von Boykott beziehungsweise Nichtkooperation stattfinden, zu dem auch Gandhi gegenüber der britischen Kolonialmacht aufgerufen hatte. Neben einer solchen Verweigerung einer Handlung – auch als „passiver“ ziviler Ungehorsam bezeichnet – bestehen beispielsweise Platzbesetzungen wie des Tahrir-Platzes in Kairo im Januar 2011 oder seitens der Occupy-Bewegung in stärker selbstgewählten Handlungsformen und werden hier deshalb als „aktiver“ ziviler Ungehorsam bezeichnet. Doch müssen diese Bezeichnungen auch gleichzeitig problematisiert werden: Bereits im Begriff des Ungehorsams liegt die Passivität der Verweigerung (im Sinne eines „nicht alles tun“).
Für liberale Theoretikerinnen und Theoretiker hat ziviler Ungehorsam „ausschließlich symbolischen Charakter“.
Während Thoreaus ziviler Ungehorsam ein individueller Protest war, kennen wir seit Gandhi vor allem den kollektiven zivilen Ungehorsam. Dieser kann massenhaft stattfinden (wie etwa in den vergangenen Jahren in Deutschland bei Blockaden von Atomtransporten oder Demonstrationen von Neonazis) oder auch in Kleingruppen (wie bei der Pflugscharbewegung, bei deren Aktionen oft nur eine Handvoll Menschen beteiligt sind).
Konsequenzen:
Ausgehend von der Annahme, dass dem Staat gegenüber generell Gehorsam geleistet werden muss, ziviler Ungehorsam also nur eine stark verregelte Ausnahme darstellt, ist auch die Akzeptanz der Strafe für den Rechtsbruch selbstverständlich – so etwa bei Habermas. Auch King sprach sich deutlich für die Anerkennung des Rechtssystems und damit für die Akzeptanz einer potenziellen Strafe aus.
Zwischen diesen zwei Positionen finden sich diejenigen, die strategisch die Verteidigung des eigenen Handelns vor Gericht als Weiterführung des Protests verstehen, mit der weitere öffentliche Aufmerksamkeit generiert werden kann. Eine solche strategische Entscheidung ist teilweise auch von der jeweiligen Gerichtssituation abhängig: Vor einem Geschworenengericht moralische oder politische Beweggründe zu plausibilisieren scheint oftmals erfolgversprechender hinsichtlich eines Freispruchs als vor einer Berufsrichterin. Es gibt aber auch diejenigen, die vor Gericht für schuldig plädieren – sowohl im Habermasschen Sinne oder auch, um durch das Antreten einer Gefängnisstrafe ihren Protest weiterzuführen. „Unter einer Regierung, die irgend jemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen“, meinte etwa Thoreau.
Bezeichnung:
Zu unterscheiden ist schließlich zwischen Selbst- und Fremdbezeichnung. Thoreau, auf den der Begriff des zivilen Ungehorsams zurückgeführt wird, hat ihn selbst nie benutzt. Wir verdanken ihn seinem Verleger, der Thoreaus Aufsatz von 1849 „Resistance to Civil Government“ in „Civil Disobedience“ umbenannte. Gerade angesichts der Breite des Begriffs und seiner unterschiedlichen politisch-strategischen Verwendung kommt es darauf an, jeweils zu fragen, warum eine Aktion als ziviler Ungehorsam bezeichnet wird oder nicht – und von wem.
Gegenwärtige Diskussion des Begriffs
Aktivistinnen und Aktivisten haben insbesondere die Idee des massenhaften zivilen Ungehorsams in Form von Blockaden aus dem langjährigen Widerstand gegen die Atomtransporte ins Wendland in andere Aktionsfelder übernommen: Dem Aufruf zu zivilem Ungehorsam gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 folgten bis zu 10.000 Menschen, im Januar 2012 konnte in Dresden der bis dahin europaweit größte Neonazi-Aufmarsch verhindert werden, und im Mai 2012 sorgte bereits die Ankündigung von Blockaden der Europäischen Zentralbank (EZB) aus Protest gegen die europäische Krisenpolitik für die weitgehende Lahmlegung des Frankfurter Bankenviertels.
Einige der strittigen Fragen sind bereits angeklungen: Hauptstoßrichtung der gegenwärtigen Diskussion, insbesondere unter Aktivistinnen und Aktivisten, ist, den Begriff des zivilen Ungehorsams in weniger normativ aufgeladenen Einengungen zu verstehen. Celikates plädiert für eine radikaldemokratische Lesart, mit der ziviler Ungehorsam als „Ausdruck der demokratischen Praxis kollektiver Selbstbestimmung“ verstanden werden kann. „Der Raum der politischen Möglichkeiten soll also nicht beschränkt, sondern erweitert werden.“
Diese Frage wird auch im Zusammenhang mit dem Zusatz „zivil“ diskutiert. „Zivil“ bedeutet zwar einerseits „nicht-militärisch“, ist andererseits aber auch auf das französische citoyen zurückzuführen, meint also zunächst den Staatsbürger. Dieser Bezug impliziert jedoch rein begrifflich – und dies ist auch ein Grund für die Skepsis von vielen Aktivistinnen und Aktivisten gegenüber dem Begriff – eine, wenn auch diffuse Anerkennung einer bestimmten Staatsordnung. Rein juristisch betrachtet ist Staatsbürgerlichkeit begrenzt und je nach Zeit und Ort waren und sind dadurch Menschen ausgeschlossen: Frauen, Schwarze, Illegalisierte, Indigene, Sklavinnen und Sklaven, Asylsuchende.
Über die Kritik an einer normativen Aufladung des Begriffs hinaus wird zudem insbesondere aus queer-feministischer Perspektive eine Deutung des Begriffs vorgeschlagen, mit der nicht nur ein Regelbruch, sondern ein Normbruch beschrieben werden kann: So verstoßen Aktivisten und Aktivistinnen, die für die Anerkennung gleichgeschlechtlichter und queerer Liebes- und Lebensweisen kämpfen, gegen heterosexuelle Normvorstellungen.
Unter anderem das Unbehagen bezüglich des Begriffs ziviler Ungehorsam und seiner normativen Aufladung insbesondere in liberaler Tradition hat zu verschiedenen abgrenzenden, akzentuierenden oder (vermeintlich) eindeutigeren Formulierungen geführt wie etwa sozialer, demokratischer, politischer oder radikaler Ungehorsam.
Fazit
Die neuerliche Renaissance des Begriffs ziviler Ungehorsam ist gekennzeichnet von einer gleichzeitigen kritischen Auseinandersetzung mit ihm und seiner strategischen Verwendung. Dabei kommt der Auseinandersetzung mit der Frage der Einhegung von Protest eine besondere Rolle zu: Es fällt auf, dass ziviler Ungehorsam nicht nur als Regelbruch verstanden wird, sondern die Regeln selbst infrage gestellt werden.
Nicht zuletzt geht es darum, Ungehorsam nicht zum Gehorsam zu machen. Dass sich darin nicht nur ein gegenwärtiger Diskurs widerspiegelt, zeigt sich in einem Auszug aus einer Rede von Howard Zinn anlässlich einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg 1971 in Boston: „Viele Leute sind von zivilem Ungehorsam beunruhigt. Sobald man davon spricht, zivilen Ungehorsam zu begehen, regen sie sich auf. Aber genau dies ist die Absicht von zivilem Ungehorsam: Leute aufzuregen, sie zu stören, sie zu beunruhigen. Wir, die wir zivilen Ungehorsam begehen, sind auch beunruhigt, und wir müssen diejenigen beunruhigen, die für den Krieg verantwortlich sind.“
Für kritische Kommentare und Diskussionen danke ich Matthias Möller.