Einleitung
Deutschlands Kindern geht es gut. Das taugt zwar nicht zur Schlagzeile in einer Tageszeitung, aber es stimmt trotzdem. Die meisten Kinder in der Bundesrepublik finden die Schule in Ordnung; sie kommen mit ihren Eltern nach eigener Aussage gut zurecht und haben Freunde, mit denen sie gerne zusammen sind. Die meisten Kinder leben in ökonomisch mindestens passablen Verhältnissen; sie müssen auch nicht auf einen der Elternteile verzichten, denn sehr häufig leben Mama und Papa - entgegen anderslautenden Thesen - eben doch noch zusammen. Also alles in Ordnung?
Diese Befunde stimmen schon; man kann sie in vielen seriösen und methodisch sauberen Befragungen, etwa der World Vision Kinderstudie, nachlesen. Und die Leserin oder der Leser von "Aus Politik und Zeitgeschichte" wird wahrscheinlich einigen dieser Kinder in ihrem oder seinem Bekanntenkreis begegnen: aufgeweckte Dreijährige, die im Wald hinter jedem Busch einen Schatz finden und liebevoll die Punkte des Marienkäfers zählen. Clevere Fünfjährige, die in sauberem Deutsch die klugen und komischen Kinderbücher von Kirsten Boie nacherzählen können. Coole Zehnjährige, die mit ihrem vorpubertären Gehabe vielleicht mal den Eltern auf den Wecker gehen, doch die erwachsenen Bekannten mit ihrer Selbstständigkeit verblüffen. Ironische 16-Jährige, für die Mama und Papa zwar längst keine Helden mehr sind - aber immer noch Menschen, mit denen man gerne in den Urlaub fährt, weil sie erstens alles zahlen, zweitens dennoch Freiräume gewähren und drittens so uncool gar nicht sind. Also keine Probleme?
Den meisten Kindern Deutschlands geht es gut - doch es ist höchste Zeit, wahrzunehmen, wie sehr die Lebensverhältnisse junger Menschen auseinanderdriften. Das Problem ist nicht, dass "die Familie" zerfällt, wie ein lange gebräuchlicher Topos des ängstlich-konservativen Denkens lautete. Das Problem ist, dass eine Minderheit von Kindern heute mit maximalen Schwierigkeiten aufwächst. Diese Kinder treffen Sie als Leserin oder Leser von "Aus Politik und Zeitgeschichte" in Ihrem privaten Alltag wahrscheinlich selten; falls Sie Lehrer in einem sozialen Brennpunkt sind, dann begegnen sie Ihnen vielleicht in großer Zahl im Klassenzimmer - andernfalls nehmen Sie sie vielleicht noch als Objekte von sensationslüsterner Medienberichterstattung wahr. Doch im Alltagsleben der deutschen Mittelschicht treten diese Kinder kaum oder gar nicht in Erscheinung. Wer ihnen begegnen will, muss nicht weit reisen. In den größeren Städten sind es immer bloß ein paar Kilometer, welche die wohlhabende Welt von der prekären trennen. Von München-Harlaching nach München-Hasenbergl sind es nur zwölf U-Bahn-Stationen, und von Berlin-Zehlendorf nach Berlin-Neukölln braucht man weniger als eine Stunde.
Dort sieht man dann Kinder aus sozial schwachen Familien, die erst im Alter von fünf Jahren in den Kindergarten geschickt werden. Manche Einwandererkinder kommen am ersten Schultag in ihre Klassenzimmer und sprechen zwei Sprachen, die sie beide nicht richtig beherrschen. Sie verlassen ihren Kiez fast nie, und an manchen der Schulen sind 90 Prozent der Eltern "von den Zuzahlungen zu den Lernmitteln befreit", wie das in der Behördensprache heißt. Das bedeutet, dass so gut wie kein Elternteil der Kinder dieser Schule einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Die Lehrerinnen und Lehrer dort erzählen von einem Alltag, in dem Kinder bestenfalls manchmal pünktlich zur Schule kommen, oft einfach die Jeans über die Schlafanzughose gezogen. "Zu essen haben sie oft gar nichts, maximal eine Tüte von Burger King; denn das Einzige, was die Mutter oder der Vater am Vorabend noch geschafft haben, war, einen Fünfeuroschein hinzulegen", sagt der Neuköllner Bezirksbrgermeister Heinz Buschkowsky in der ihm eigenen drastischen Art.
Neuköllns Probleme gibt es auch im Rest der Republik - weniger drastisch vielleicht, aber im Prinzip ähnlich. So hat jede alte Industriestadt ihre schwierigen Quartiere: Duisburg-Marxloh zum Beispiel, die Dortmunder Innenstadt-Nord, der Stadtteil Lichtenhagen in Rostock oder die Südstadt in Nürnberg. In den Jahrzehnten der Industrialisierung waren dies oft Arbeiterviertel, im 21. Jahrhundert sind daraus die Arbeitslosenviertel geworden. Kinder leben hier gefährdeter als Gleichaltrige in den bürgerlichen Straßen.
In einem Armutsquartier einer Stadt im nördlichen Ruhrgebiet, die der Soziologe Klaus Peter Strohmeier untersucht hat, war bei der Einschulung nur jedes achte Kind vollkommen gesund; etwa ein Drittel der türkischstämmigen Jungen hatte im Alter von sechs oder sieben Jahren starkes Übergewicht. Im wohlhabenden Süden der gleichen Stadt war das anders: Hier waren vier von fünf Kindern bei der ersten Untersuchung der Schulärzte gesund. Übergewicht gab es kaum, auch bei türkischstämmigen Kindern nicht. "Nicht die Nationalität der Kinder macht den Unterschied, sondern ihre Adresse", stellte Strohmeier fest.
Gefährdete Kindheit
Die Risiken, mit denen diese Kinder aufwachsen, haben Sozialwissenschaftler in den vergangenen Jahren sehr genau dokumentiert, zum Beispiel mit dem Gesundheitssurvey KiGGS. Diese Langzeitstudie des Robert Koch-Instituts fragte nach der körperlichen und psychischen Gesundheit von Tausenden von Kindern und erfasste gleichzeitig den sozioökonomischen Status der Familien. Dabei zeigte sich: In der "Unterschicht", der niedrigsten sozioökonomischen Gruppe, raucht jede dritte werdende Mutter - ein Phänomen, das es in der "Oberschicht" kaum gibt, dort raucht nur eine von 13 Schwangeren. Das Geburtsgewicht von Babys aus der "Unterschicht" ist signifikant niedriger als das Geburtsgewicht der übrigen Babys. In der "Unterschicht" greift jedes fünfte jugendliche Mädchen selbst täglich zur Zigarette, in der "Oberschicht" sind es dreimal weniger. Auch begegnet man dort fast keinen dicken Kindern, nur etwa jedes 25. Kind wohlhabender Eltern ist fettleibig. Ganz anders, wenn die Eltern wenig verdienen und schlechte Jobs haben: In der "Unterschicht" sind bereits jedes siebte jugendliche Mädchen und jeder neunte Junge fettleibig. Wobei Fettleibigkeit, auch Adipositas genannt, nicht nur ein paar Kilo zu viel meint, sondern sehr weit oben auf der Waage beginnt: Ein Mädchen, das 13 Jahre alt und 1,70 Meter groß ist, gilt erst als adipös, wenn es mehr als 70 Kilogramm wiegt. Jeder sechste Junge aus der "Unterschicht" gilt laut KiGGS als verhaltens- oder als psychisch auffällig, in der "Oberschicht" ist es nur jeder 20. Bei den Mädchen ist der Unterschied noch deutlicher.
Solche Befunde weisen auf eine Spaltung der deutschen Gesellschaft hin. Auch die PISA-Forscher stellen fest, dass die Kompetenzen der 15-Jährigen in Deutschland extrem differieren. So ist fast jeder fünfte Schüler im Alter von 15 Jahren in seinen mathematischen Fähigkeiten auf Grundschulniveau steckengeblieben; bei den Lesekompetenzen ist das Bild ähnlich - obwohl diese Jugendlichen wenige Jahre nach dem Test ins Arbeitsleben starten sollen. Dem Kompetenzmangel folgt häufig das Scheitern im Schulsystem. So stellte die Kultusministerkonferenz fest, dass im Jahr 2010 etwa 53.000 Jugendliche die deutschen Schulen ohne Hauptschulabschluss verlassen haben. Das ist eine Minderheit - aber eine, die beunruhigende Dimensionen hat: Es waren knapp sieben Prozent aller Schulabgänger, so die Kultusminister.
Schon diese Quote müsste Politiker, Pädagogen und Eltern aufrütteln. Doch die Zahl gibt nicht die ganze Wahrheit wieder. Dazu kommen diejenigen, welche die Hauptschule zwar schaffen, aber danach keine Lehrstelle finden und im sogenannten Übergangssystem mit seinen vielen Kursen geparkt werden. Ein halbes Jahr nach Schulende haben von den Jugendlichen, die maximal über einen Hauptschulabschluss verfügen, fast 40 Prozent eine solche "Übergangskarriere" begonnen; weitere 20 Prozent haben gar keinen Ausbildungsplatz. Noch zweieinhalb Jahre nach Verlassen der Schule sind ihre Probleme längst nicht gelöst: Dann hat weiterhin etwa die Hälfte aller Jugendlichen ohne oder nur mit Hauptschulabschluss noch keinen Arbeitsplatz gefunden - oder den Arbeitsvertrag bereits wieder aufgelöst, wie Heike Solga vom Wissenschaftszentrum Berlin festgestellt hat.
Fairerweise muss man zugestehen, dass sich die Situation in den vergangenen Jahren ein wenig verändert hat. Die PISA-Ergebnisse der schlechtesten Schülerinnen und Schüler sind bei der jüngsten Untersuchung etwas besser ausgefallen; auch die Zahlen der Schulabbrecher sinken leicht. Dennoch sind Schulabschlüsse und PISA-Resultate Puzzleteile des gleichen Bildes: Jeder Fünfte scheitert an der Schule, jeder Fünfte scheitert an einfachen Aufgaben, und knapp jedes fünfte Kind lebt in Armut. Die verschiedenen Gruppen - Schulversager, Testversager, arme Kinder und Kinder mit Gesundheitsrisiken - sind nicht vollständig deckungsgleich. Doch die Schnittmenge dürfte sehr groß sein, und mit Sicherheit sind es zu viele für ein Land, das vor demografischen und ökonomischen Herausforderungen steht.
Diese Probleme nimmt die deutsche politische Debatte seit einigen Jahren zumindest partiell wahr. Häufig geschieht dies allerdings mit dem falschen Fokus: "Wir brauchen bessere Schulen, um die benachteiligten Kinder zu unterstützen", heißt es dann. Doch das greift zu kurz - denn die wichtigsten Entscheidungen im Leben eines Kindes werden lange vor der Einschulung getroffen.
Entscheidende Lebensjahre
Eine Ahnung davon, wie wichtig die ersten Lebensmonate und -jahre sind, bekommt man, wenn man die Experimente von Elisabeth Spelke sieht. Die US-amerikanische Entwicklungspsychologin ersann Versuchsanordnungen, mit denen sie durch Messungen der Blickdauer beobachten konnte, wie lange sich Babys und Kleinkinder für einen Sachverhalt interessieren. Sie konnte damit zeigen, dass kleine Kinder bereits unterschiedliche Mengen von Gegenständen erfassen können, was darauf hindeutet, dass die Gehirne von Babys bereits irgendeine Art von Konzept für das haben, was wir "Zahl" nennen.
Spelke analysierte, ob vier Monate alte Babys schon einen Unterschied zwischen einer Menge von zwei und drei Punkten machen (ja) und ob sie auch zwischen vier und sechs Punkten unterscheiden können (nein). Sie überprüfte, ob neun Monate alte Babys beim Filmgucken zwischen Jäger und Gejagtem unterscheiden konnten (ja) und ob zehn Monate alte Babys zwischen belebten und unbelebten Objekten differenzieren (ebenfalls ja). Solche Kompetenzen deuten nicht auf ein "erwachsenes" Denken mit unseren "erwachsenen" Konzepten hin - aber sie geben einen Hinweis, dass das Erlernen dieser Fähigkeiten bereits sehr früh beginnt.
Und schon wenn Kinder zwei Jahre alt sind, können sie die Sichtweise eines anderen Menschen erfassen. Der experimentelle Beweis von Michael Tomasello hat es zu einiger Bekanntheit gebracht: Ein zweijähriges Kind spielt gemeinsam mit seiner Mutter und einem Versuchsleiter. Drei Spielsachen stehen zur Verfügung, alle sind dem Kind bislang unbekannt - etwa ein Jo-Jo, ein afrikanisches Daumenklavier und eine Eieruhr. Wichtig ist, dass beim Spielen kein Erwachsener diese Spielzeuge mit Namen benennt. Nach einer Weile verlässt die Mutter das Zimmer. Nun holt der Versuchsleiter ein viertes Spielzeug heraus, zum Beispiel ein Plastikkästchen, das bei Tastendruck Töne erzeugt. Auch damit darf das Kind so lange spielen, wie es Lust hat; danach wird das Kästchen in ein Regal zu den anderen drei Spielsachen gelegt. Die Mutter kehrt jetzt zurück und "entdeckt" das neue Plastikkästchen im Regal. Ohne auf das Kästchen zu deuten, ruft sie begeistert ein Fantasiewort aus: "Oh, ein Modi! Wow, ein echter Modi. Schau mal den Modi an." Später lässt sich bei einem Wissenstest feststellen, dass sehr viele Kinder genau jenes Spielzeug als "Modi" erkennen, das die Mutter vorher nicht gesehen hatte. Offenbar haben die Kinder verstanden, dass die ersten drei Spielsachen eben nicht der "Modi" sind. "Auf eine gewisse Weise wissen Kleinkinder, was andere Menschen wissen", interpretieren Henrike Moll und Michael Tomasello diesen Versuch - "zumindest, indem sie wissen, welches Objekt ein Erwachsener vor einigen Minuten verwendet hat und welches nicht."
Exkurs: Bukarester Interventionsstudie
Anfang der 1990er Jahre gingen schockierende Bilder aus rumänischen Waisenhäusern um die Welt. Babys und Kinder lebten dort unter schrecklichen Bedingungen: Sie waren verdreckt, verwahrlost, unterernährt, häufig krank und geistig zurückgeblieben. Irecuberabili nannte man sie in Rumänien, die "Unwiederbringlichen". Seit den 1960er Jahren hatte die sozialistische Regierung die Kindeserziehung in Heimen propagiert. Armut und Not brachten viele Eltern dazu, dieses "Angebot" anzunehmen. So wurden in knapp 30 Jahren insgesamt wohl mehr als 100.000 Babys in den staatlichen Waisenhäusern abgegeben. Und noch im Jahr 2006 lebten dort mindestens 30.000 Kinder. Als der amerikanische Kinderarzt Charles Nelson von der Harvard Medical School in Boston in den 1990er Jahren nach Bukarest kam, entsetzte ihn das Leid der Kinder. Doch zugleich ging er fortan der Frage nach, wie sich Kleinkinder entwickeln, welche die ersten Lebensjahre unter solch katastrophalen Umständen verbracht hatten. Gemeinsam mit dem Kinderpsychiater Charles Zeanah entwickelte er das Bucharest Early Intervention Projekt.
2001 wählten die Wissenschaftler 136 Waisenhauskinder aus, die im Mittel knapp zwei Jahre alt waren. Nach dem Zufallsprinzip kam die eine Hälfte zu Pflegeeltern, die zuvor mit speziellen Kursen auf diese Arbeit vorbereitet worden waren. Die andere Hälfte blieb im Waisenhaus, allerdings - um ihnen die Chance auf eine bessere Zukunft zu belassen - wurde festgelegt, dass jedes Kind sofort aus dem Waisenhaus und damit aus der Studie "entlassen" würde, falls sich eine Pflegefamilie fände oder falls die biologischen Eltern es wieder aufnehmen würden. Alle 136 Kinder wurden von den amerikanischen Forschern immer wieder untersucht, im Alter von 30, 42 und 54 Monaten und schließlich noch einmal im Alter von acht Jahren. Derzeit bereiten Nelson und seine Kollegen die nächste Testrunde vor.
Immer wieder zeigte sich, welch dramatische Folgen die Vernachlässigung in den rumänischen Waisenhäusern hatte. So wuchsen die Kinder im Waisenhaus weniger schnell als in einer Pflegefamilie. Nelson drückt das sogar in einem mathematischen Quotienten aus: Jedes Vierteljahr im Waisenhaus führt dazu, dass ein Kind einen Zentimeter weniger wächst - es "verliert" gewissermaßen Größe, die es unter besseren Bedingungen erreichen würde. Markant fielen auch die Intelligenztests aus. Jene Kinder, die 30 Monate zuvor aus dem Waisenhaus geholt und in Pflegefamilien gebracht wurden, hatten einen fast zehn Punkte höheren Intelligenzquotienten als diejenigen, die im Waisenhaus bleiben mussten. Dieser Unterschied wird, wie Nelson feststellte, umso größer, je jünger ein Kind beim Verlassen des Waisenhauses war. Wer aus dem Waisenhaus in eine Pflegefamilie kam, holte einen Teil der verpassten Intelligenzentwicklung nach. Doch auch ein früher Umzug in die Pflegefamilie kompensierte nicht alles.
Natürlich kann man Nelsons Ergebnisse als Warnung vor dem Waisenhaus rumänischen Stils lesen - und das sollte man auch. Gleichzeitig sind sie auch für die bildungspolitische Debatte bedeutsam. Denn wieder - wie schon bei den Experimenten mit den "denkenden Babys" - weist die Wissenschaft darauf hin, wie wichtig die frühen Jahre sind. Wenn ein Kind massiv vernachlässigt wird, hat das dramatische Konsequenzen für seine körperliche Entwicklung, seine Intelligenz und seine Gefühle. Und: Hilfe ist nicht ausgeschlossen. Zwar lassen sich die Erfahrungen in einem rumänischen Waisenhaus nicht ungeschehen machen. Doch Kinder entwickeln sich besser, wenn sie das Waisenhaus verlassen und in eine Pflegefamilie kommen. Jeder Monat, den ein Kind weniger unter schwierigen Bedingungen verbringt, hilft ihm.
Wundersamer Kindergarten
Wie hilfreich frühe Unterstützung sein kann, lässt sich in Ypsilanti im US-Bundesstaat Michigan studieren. Im Jahr 1962 begann dort ein Experiment mit erstaunlichen Erfolgen. 58 Jungen und Mädchen aus einem armen Stadtviertel durften einen kostenlosen Halbtagskindergarten besuchen. Das Projekt war pädagogisch ambitioniert, schien aber nicht unbedingt revolutionär: Gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer sollten Kindern aus armen Familien einen guten Start ins Schulleben ermöglichen. Nach zwei Jahren war diese "Perry Preschool" beendet, und die Kinder wechselten in die erste Klasse der benachbarten Grundschule - scheinbar nichts Spektakuläres. Doch im Jahr 2011 reiste ein Nobelpreisträger um die Welt und verkündete, dass das Experiment von Ypsilanti lohnender sei als jede andere Sozialpolitik: "Die Perry Preschool hatte ungeheure Vorteile - sie war hilfreich für die Kinder und extrem lohnend für Staat und Gesellschaft", so James Heckman, Nobelpreisträger für Ökonomie. Die Zeitschrift "Science" stellte das Experiment von Ypsilanti 2011 in den Mittelpunkt einer Ausgabe und befand: "Das Ergebnis der Preschool von Ypsilanti ist, dass die Gesellschaft für jeden Dollar, der dort investiert wurde, bis zu 16 Dollar gespart hat, weil die Kinder später besser in der Schule abschneiden, bessere Jobs finden und seltener im Gefängnis landen."
Nun lassen sich die Folgen jedes sozialen Projekts mit Rechentricks schönen. Die Erfolgsbilanz von Ypsilanti aber zählt zum Robustesten, was die Sozialwissenschaft in diesem Bereich liefert. Denn neben den 58 Kindern in der Preschool gab es eine gleich große Gruppe von Kindern, die aus dem gleichen Milieu stammten, aber nicht in der Kita gefördert wurden. Deshalb können die Wissenschaftler heute, Jahrzehnte später, vergleichen: Wie entwickelten sich die Kinder aus der Preschool? Und was wurde aus der Kontrollgruppe?
Die Unterschiede sind enorm. Zum Beispiel bei der Kriminalität: ein Drittel weniger Eigentumsdelikte in der Experimentalgruppe, ein Drittel weniger Gewaltverbrechen, halb so viele Morde und 60 Prozent weniger Drogenkriminalität. Entsprechend verteilten sich die Haftstrafen. Die Jungen aus der Perry Preschool waren bis zu ihrem 40. Geburtstag im Schnitt 27 Monate inhaftiert - nicht gerade wenig. Doch diejenigen, die ohne das Kita-Programm ins Leben starteten, brachten es auf durchschnittlich 45 Gefängnismonate. Und weil den modernen Staat kaum etwas so teuer kommt wie die Kriminalität seiner Bürgerinnen und Bürger, stellen Ökonomen wie Heckman ihre Erfolgsbilanzen auf: Jeder männliche Versuchsteilnehmer, der einst als Kind nicht in die Vorschule ging, verursachte bis zu seinem 40. Geburtstag etwa um 150.000 Dollar höhere "Kriminalitätskosten" als derjenige, der die Perry Preschool besucht hatte.
Aus diesen Ergebnissen kann man zwei Schlüsse ziehen, einen richtigen und einen falschen. Der richtige ist: Jede Bildungsdebatte, die sich allein auf die Verbesserung der Schulen konzentriert, greift zu kurz. Weil alle Bildungskarrieren lange vor dem ersten Schultag beginnen, geht es um die rechtzeitige Unterstützung des Lernens. Wer sich auf 10- oder 18-Jährige konzentriert, hat den richtigen Zeitpunkt längst verpasst. Die falsche Schlussfolgerung allerdings wäre, dass ein Staat nun viel mehr Geld in alle Kindergärten investieren sollte - gemäß dem Prinzip: Was den Kindern von Ypsilanti geholfen hat, wird allen anderen Kindern genauso nützen. Man kann sich schon vorstellen, wie ambitionierte Akademiker in Berlin-Prenzlauer Berg oder in München-Schwabing für ihre Kinder eine Förderung wie in der Perry Preschool verlangen: "Dieses Experiment zeigt doch, dass sich jeder Euro lohnt, den der Staat für unsere Kinder ausgibt", hört man sie argumentieren. Bloß: Genau das zeigen diese Experimente nicht.
Die Versuche in den USA - in Ypsilanti wie in einigen anderen Städten - waren Versuche mit Kindern aus miserablen Verhältnissen. Diese Kinder lebten meist bei alleinerziehenden Müttern, die wenig Geld und schlechte Ausbildungen hatten. Die Väter waren oft abgehauen oder im Gefängnis, die Kinder hatten sehr niedrige Intelligenzquotienten, und ihnen fehlte etwas, das viele Kinder in Deutschland von ihren Eltern bekommen: Unterstützung. Für diese Unterstützung sorgte das exzellent ausgebildete Lehrpersonal der Perry Preschool. Sie hörten den Dreijährigen zu, lasen ihnen Bücher vor, unterstützten ihr Spiel und ihre Ideen und nahmen sie ernst. All das glich Defizite der Eltern aus, die es in einzelnen deutschen Familien auch gibt - aber längst nicht in allen.
Die Kinder aus den schwierigsten Familien brauchen also die beste Unterstützung. Wer ihnen exzellente Kindergärten anbietet, macht sich verdient um die ganze Gesellschaft. Es dient dem sozialen Frieden, wenn ein Dreijähriger aus dem Berliner Wedding bessere Chancen auf ein Leben hat, das ihn nicht ins Gefängnis führt. Es dient dem Budget des Staates, wenn der Junge im Alter von 17 Jahren fähig ist, eine Stelle anzunehmen, statt in Jobtrainings auf sein Leben als Dauerarbeitsloser "vorbereitet" zu werden. Es dient der wirtschaftlichen Prosperität, wenn dieser junge Mann für anspruchsvolle Jobs zur Verfügung steht, sobald wegen der demografischen Lücke noch mehr Fachkräfte fehlen. Und es dient der politischen Stabilität, wenn sich Berlin-Neukölln (das natürlich auch anders heißen könnte: München-Hasenbergl etwa oder Nürnberg-Südstadt) nicht zu einem Quartier entwickelt, in dem frustrierte Jugendliche die Autos der vermeintlich Wohlhabenden abfackeln.
Wenn wir die Jüngsten in den schwächsten Stadtvierteln gezielt unterstützen, bekommen jene Kinder eine Chance, die heute kaum eine haben. Dann schaffen wir das, was dem Land so bitter fehlt: Bildungsgerechtigkeit. Wenn Deutschland daran scheitert, wird die neue Klassengesellschaft zementiert. Dann verschleudern wir unseren Wohlstand. Wir haben die Wahl.