Einleitung
Bei meiner ersten bewussten Begegnung mit einem intersexuellen Menschen war ich etwas befangen und auch neugierig. Mein Gegenüber machte es mir aber leicht und so gelang es mir schnell, meine Befangenheit zu überwinden, verstand aber, dass Begegnungen dieser Art oft davon gekennzeichnet sind. Es geht - das ist meine persönliche Erfahrung und auch der Leitgedanke, den ich bei der Befassung des Themas durch den Deutschen Ethikrat hatte, - um Begegnung und um Dialog auf gleicher Augenhöhe. Es geht darum, das Thema aus der Tabuzone heraus zu holen, es dann aber nicht gleich in die Ecke der Sensation, sondern in den Bereich der Normalität zu bringen.
Einige Intersexuelle haben sich frühzeitig und schon vor der offiziellen Beauftragung durch die Bundesregierung an den Deutschen Ethikrat gewandt. Sie forderten, dass sich der Ethikrat mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Intersexuellen, insbesondere mit dem Umgang der Medizin mit den Betroffenen, beschäftigen solle. Erschreckende Schicksale wurden uns geschildert, die sich, als der Ethikrat sich dann nach der Beauftragung durch die Bundesregierung intensiv mit der Thematik befasst hat, immer wieder bestätigten. Viele der Betroffenen wurden frühzeitig, schon als Kind, geschlechtszuordnenden medizinischen Eingriffen unterzogen, deren Tragweite sie erst sehr viel später begreifen konnten. Des Weiteren schilderten sie immer wieder mangelnde Aufklärung, Fehldiagnosen, Missverständnisse, belastende Nachoperationen, Behandlungen mit vielen unerwünschten Nebenwirkungen und das Gefühl, allein damit fertig werden zu müssen. Diese Erfahrungen wurden und werden von vielen Betroffenen als eine Botschaft im Sinne von "Du bist verkehrt, du musst korrigiert werden" verstanden. Die Auseinandersetzung damit steht oft so stark im Vordergrund, dass für das Erkennen des eigenen Andersseins und die Annahme dieses Andersseins wenig Raum bleibt. Kurz: Intersexuelle leben bisher überwiegend in einem invalidierenden Umfeld aus einer zu schnell handelnden und bedrohlich erlebten Medizin, aus gesellschaftlicher Ignoranz und fehlender Unterstützung.
Impuls der Betroffenen und Auftrag der Bundesregierung
Auf internationaler Ebene haben sich Betroffene erstmals 1990 in der Intersex Society of North America zusammengeschlossen und das Thema Intersexualität in einer zweigeschlechtlich geprägten Gesellschaft zu einem öffentlichen Thema gemacht. Im deutschsprachigen Raum erfolgte die Gründung von Selbsthilfeorganisationen erst später: 2004 der Verein Intersexuelle Menschen und 2010 der Verein Zwischengeschlecht. Heute gibt es eine Vielfalt von Organisationen und Selbsthilfegruppen, die für die Anerkennung Intersexueller eintreten und trotz ihrer Unterschiedlichkeit in ihrer Kritik am medizinischen und rechtlichen Umgang mit Intersexuellen und an der Einordnung der Intersexualität als Krankheit übereinstimmen.
Der Deutsche Ethikrat hatte schon im Juni 2010 eines seiner in Berlin regelmäßig stattfindenden Bioethik-Foren dem Thema "Intersexualität - Leben zwischen den Geschlechtern" gewidmet, in dem die Betroffenen und ihre Selbsthilfeorganisationen sowie im Feld tätige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kamen. Im Dezember 2010 erfolgte der Auftrag der Bundesministerien für Bildung und Forschung und für Gesundheit, den Dialog mit den Betroffenen fortzuführen und, wie es wörtlich im Schreiben der Minister hieß, "ihre Situation und die damit verbundenen Herausforderungen umfassend und unter der Einbeziehung der ärztlichen, therapeutischen, sozialwissenschaftlichen und juristischen Sichtweisen aufzuarbeiten und dabei klar von Fragen der Transsexualität abzugrenzen".
Hintergrund war die Aufforderung des Ausschusses der Vereinten Nationen zur Überwachung des internationalen Abkommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau an die deutsche Bundesregierung, in einen Dialog mit intersexuellen Menschen zu treten und wirksame Maßnahmen zum Schutz ihrer Menschenrechte zu ergreifen. Motor war auch hier wieder die Selbsthilfebewegung der Betroffenen. Der Verein Intersexuelle Menschen hatte 2008 an den UN-Ausschuss einen Bericht geschickt, in dem insbesondere von intersexuellen Frauen Verstöße gegen grundlegende Verpflichtungen der Konvention und Empfehlungen zur Vermeidung und Behebung von Konventionsverstößen dargelegt worden waren.
Der Doppelauftrag der Regierung, einen Dialog zu führen und eine Stellungnahme zu erarbeiten, hat sich als überaus produktiv und angemessen erwiesen. Der Dialog wurde mit einer umfangreichen Befragung der Betroffenen, an der sich rund 200 Personen beteiligt haben, eingeleitet und mit einer großen öffentlichen Anhörung im Juni 2011 sowie einem moderierten Online-Diskurs weitergeführt.
Zum Begriff Intersexualität
Eine Schwierigkeit, der wir und wahrscheinlich jeder auf der politischen Ebene, der sich mit diesem Thema beschäftigt, begegneten, ist alleine schon in dem Begriff der Intersexualität angelegt. Intersexualität, zu Deutsch am besten mit "Zwischengeschlechtlichkeit" übersetzt, bezeichnet Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen Merkmale weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können. Der Begriff lässt dabei offen, ob es sich um ein "sowohl als auch" oder ein "weder noch" handelt. Intersexualität soll ältere Begriffe wie "Zwitter" oder "Hermaphroditismus", die diskriminierenden Charakter haben können, ersetzen. Der Begriff "Intersexualität" ist aber weder eindeutig noch unstrittig.
So wird er zum Teil auch für Personen mit Adrenogenitalem Syndrom (AGS) verwendet, die genetisch eindeutig dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können, denen aber aufgrund hormoneller Störungen eine Vermännlichung der äußeren Geschlechtsorgane droht. Diese Gruppe lehnt den Begriff Intersexualität für sich überwiegend ab. Vor allem Eltern Betroffener haben uns berichtet, dass sie den Begriff für ihre Kinder als diskriminierend empfinden. Um dies zu würdigen, greift der Bericht des Deutschen Ethikrates auf den medizinischen Begriff DSD zurück, der ursprünglich zwar für disorders of sexual development stand, aber nach dem Vorschlag auch deutscher Ethiker und Mediziner als differences of sexual development übersetzt und verstanden werden sollte. Mit dieser rein phänomenologischen, die Unterschiedlichkeit beschreibenden Verwendung verliert der Begriff seine negative Zuschreibung im Sinne von Krankheit und Störung. Unter ihn können Menschen mit uneindeutigem Geschlecht, also intersexuelle Menschen im engeren Sinne,
Im Gegensatz zu DSD-Betroffenen sind Transsexuelle Menschen mit einem eindeutigen biologischen Geschlecht, die aber feststellen, dass sie psychologisch dem anderen Geschlecht zugehören oder sich zuordnen und die deshalb teilweise geschlechtsändernde medizinische Eingriffe wählen.
Jüngere Geschichte
Wie schwer es ist, die pathologische Sichtweise auf Intersexualität zu überwinden, zeigt ein Blick auf die jüngere Geschichte des Umgangs mit Intersexuellen, mit deren Folgen die meisten heute erwachsenen Betroffenen zu tun haben. Ab den 1950er Jahren hatte sich eine Vorgehensweise eingebürgert, die sich auf die Forschungen des amerikanischen Psychologen John Money berief. Money ging davon aus, dass die Geschlechtsidentität eines Menschen hauptsächlich sozial geprägt wird und man daher die Geschlechtlichkeit eines Kindes zumindest bis zum dritten Lebensjahr formen kann, ohne ihm Schaden zuzufügen. Die Geschlechtsidentität würde sich erst danach entwickeln. Diese Position verstand sich durchaus medizin- und biologiekritisch in dem Sinne, dass den Sozialisationseinflüssen ein höheres Gewicht als den biologischen Gegebenheiten zugemessen wurde. Moneys Theorie beeinflusste den Umgang mit intersexuell geborenen Kindern über mehrere Jahrzehnte. Er empfahl, ein intersexuell geborenes Kind durch Operation einem eindeutigen Geschlecht zuzuordnen und begründete damit die Praxis der "optimalen Geschlechtszuschreibung". Dabei wurden eher feminisierende Operationen vorgenommen, da diese chirurgisch einfacher sind als maskulinisierende. Über den Eingriff sollte das Kind auch später nicht aufgeklärt werden, um die sich dann festigende Identitätsbildung nicht zu stören. Konsequenterweise sollte dies auch noch im Erwachsenenalter beibehalten werden, was dann zu Praktiken wie die Verweigerung der Akteneinsicht oder Behauptungen, es gebe keine Akten, wovon Betroffene uns immer wieder berichtet haben, führte. In vielen Fällen kann auch die ausreichende Aufklärung der Eltern, die ihre Zustimmung zu solchen Eingriffen gaben, angezweifelt werden.
Erst 2005 wurde dieser Standpunkt innerhalb der Medizin revidiert. Auf der Chicago Consensus Conference von 2005 wurden chirurgische und hormonelle Eingriffe an Kindern mit uneindeutigem Geschlecht zwar nur noch unter bestimmten Bedingungen, wie vollständiger Aufklärung und bei bestimmten Diagnosen empfohlen, aber durchaus auch im Kindesalter, wie beispielsweise Klitoris-Resektionen ab einer bestimmten Größenabweichung und Keimdrüsenentfernungen vor der Pubertät bei atypischer Ausprägung.
Die Frage, was in diesem Zusammenhang aber eine "zwingende medizinische Indikation" genau ist, wird unterschiedlich beantwortet. Strittig ist, ob sich eine solche nur auf Eingriffe beziehen kann, die zur Abwendung einer schwerwiegenden Gefahr für die physische Gesundheit oder das Leben des Kindes erforderlich sind, wie dies bei einem eindeutigen Tumorrisiko der Keimdrüsen gegeben wäre, oder ob eine medizinische Indikation auch auf psychischen Belastungen wie der prognostizierten sozialen Schwierigkeiten des Kindes und der Eltern gegründet werden kann. Damit ist sicherlich die früher vorherrschende allgemeine Pathologisierung der Intersexualität überwunden, zumal das Tumorrisiko der Keimdrüsen mittlerweile weniger groß und sehr viel differenzierter als früher eingeschätzt wird. Ob damit aber ein wirkliches Umdenken erreicht ist und operative Eingriffe nur noch in Notfällen stattfinden, ist zu bezweifeln.
Wissenschaftliche Langzeitstudien zu den Folgen medizinischer Eingriffe bei Intersexualität fehlen weitgehend. Insofern kommt der Erhebung der Lebensqualität, insbesondere der psychischen Gesundheit, der Behandlungszufriedenheit und der Zufriedenheit mit der Sexualität besonderes Gewicht zu, um den Erfolg der Eingriffe abzuschätzen.
Medizinische Behandlung und Lebensqualität
Dem Deutschen Ethikrat lagen zunächst nur zwei empirische Studien zur Lebensqualität vor: die Netzwerkstudie,
Keine der drei Studien kann für sich den Anspruch der Repräsentativität erheben. Die Befunde sind zudem unter dem Vorbehalt zu sehen, dass für Kinder unter vier Jahren die Eltern stellvertretend geantwortet haben und in der Altersgruppe vier bis 16 Jahren die Antworten von den Betroffenen und den Eltern gemeinsam gegeben wurden. Dennoch können, auch mangels anderer Quellen, die Angaben dieser drei Studien wichtige Anhaltspunkte geben.
Die überwiegende Mehrheit der in diesen drei Studien erfassten DSD-Betroffenen wurde unabhängig von der jeweiligen Zugehörigkeit zu einer DSD-Untergruppe chirurgischen Eingriffen unterzogen (68 bis 81 Prozent), davon der größte Teil bereits im Alter bis zur Schulreife, also in einem nicht zustimmungsfähigen Alter (70 bis 86 Prozent). Wie die Ergebnisse der Netzwerk-Studie zeigen, in die auch die Daten von Kindern ab der Geburt aufgenommen wurden, sind diese Zahlen offensichtlich auch für die jüngste Zeit von Bedeutung, wenngleich die meisten vom Ethikrat befragten Mediziner und Medizinerinnen einen Wandel in der Grundeinstellung und eine größere Zurückhaltung bei frühen Eingriffen berichtet haben. Lediglich bei Betroffenen mit kompletter Androgeninsensitivität (cAIS) hat die Zahl der frühen Operationen etwas abgenommen. Hier findet offenbar das Wissen um das nur geringe Tumorrisiko der Keimdrüsen langsam Eingang in die Praxis.
Die Einwilligung der Betroffenen - in vielen Fällen der Eltern - wird nach den vorliegenden Auswertungen zwar überwiegend als formal gegeben angesehen, die Art und die Qualität der Aufklärung aber als unzureichend. Insbesondere wird der Umfang der Aufklärung bemängelt, der Zeitdruck der Entscheidung, die Nichterläuterung von Alternativen und die mangelnden Einbeziehung des Kindes beziehungsweise Heranwachsenden.
Zur allgemeinen, subjektiv geäußerten Lebensqualität sagen die drei Studien Folgendes: Unterscheidet man danach, in welcher Geschlechtsrolle die betreffende Person lebt, so stufen die in der weiblichen Geschlechtsrolle lebenden Menschen mit DSD ihre Lebensqualität durchschnittlich so hoch ein wie in den vergleichbaren Altersgruppen ohne DSD, die Personen mit DSD, die in der männlichen Rolle leben, aber niedriger als die Vergleichsgruppen. Unterscheidet man nach der DSD-Diagnose, so ergeben sich deutlichere Unterschiede: AGS-Betroffene schätzen ihre allgemeine Lebensqualität überwiegend positiv ein (86 bis 99 Prozent), die anderen DSD-Betroffenen nur leicht über dem Mittelmaß (55 bis 65 Prozent). Die Zufriedenheit mit der psychischen Gesundheit wird dabei allerdings sehr niedrig eingeschätzt. Nur 40 Prozent dieser anderen DSD-Betroffenen sind mit ihrer psychischen Gesundheit zufrieden. Behandlungsrelevante psychische Symptome wie Depression, Angst und reaktive Störungen wurden in der Hamburger Intersex-Studie bei 61 Prozent, in der Netzwerk-Studie bei 45 Prozent der Befragten festgestellt.
Abweichend von der allgemeinen Lebensqualität wird in allen drei Studien die sexuelle Lebensqualität in stärkerem Maße negativ eingeschätzt. Frauen mit AGS äußern zwar überwiegend noch eine mittlere Zufriedenheit mit ihrem Sexualleben im Allgemeinen, sind aber oft unzufrieden mit ihrem Aussehen oder der Funktion ihrer Genitalien. Sie empfinden sich als wenig sexuell aktiv und sind häufiger alleinstehend. Auch die anderen DSD-Betroffenen leben signifikant häufiger als die Normstichprobe als Single. Bei ihnen besteht darüber hinaus eine hohe Unzufriedenheit mit der sexuellen Lebensqualität. Sie erleben Angst und Unsicherheit in sozialen und sexuellen Situationen und leiden in erheblichem Ausmaß unter gravierenden sexuellen Problemen.
Während die ursprüngliche Geschlechtsrollenzuweisung nach der Geburt überwiegend als zufriedenstellend erlebt wird (70 Prozent laut Hamburger Intersex-Studie), zeigt fast die Hälfte der Betroffenen (48 Prozent) eine Verunsicherung der Geschlechtsidentität. Mehr als ein Viertel (28 Prozent) zeigt eine ausgeprägte Transgender-Identität. 35 Prozent der in der weiblichen Rolle lebenden Personen zeigen auffällig niedrige Weiblichkeitswerte (Identifikation mit der weiblichen Rolle), 19 Prozent sogar hohe Männlichkeitswerte.
Während sich AGS-Betroffene eher zufrieden mit der erfolgten Behandlung und den Operationsergebnissen äußern, überwiegt bei den anderen DSD-Betroffenen die Unzufriedenheit. Insbesondere Betroffene mit partieller und in noch stärkerem Maße Betroffene mit kompletter Androgeninsensitivität äußern sich unzufrieden mit den chirurgischen Ergebnissen und den sexuellen Folgeproblemen. Zusammenhänge zwischen bestimmten Operationen an den äußeren Geschlechtsmerkmalen und psychosexuellen Störungen werden in allen Untersuchungen und Publikationen als gesichert angesehen.
Bei aller gebotenen Vorsicht lassen die bisherigen Befunde folgende Schlüsse zu: Die erfolgten medizinischen Maßnahmen können für die Gruppe der AGS-Betroffenen überwiegend als offensichtlich angemessen bezeichnet werden, wenngleich die Befunde zur sexuellen Zufriedenheit und zu den sexuellen Identitätsstörungen Zurückhaltung und sorgfältige Abwägung aller Vor- und Nachteile bei operativen Eingriffen sowie besondere Achtsamkeit bei der Aufklärung, Beratung und psychologischen Begleitung der Betroffenen und ihrer Eltern gebieten. Für die Gruppe der anderen DSD-Betroffenen können die angestrebten Ziele der Lebensqualität, der psychischen Gesundheit und der Sicherheit der Geschlechtsidentität aber offensichtlich mit den eingesetzten medizinischen Methoden nicht erreicht werden. Die Angehörigen dieser Gruppen leiden in hohem Maße unter einer psychischen Symptomlast, unter Einschränkungen ihrer sexuellen Lebensqualität und Unsicherheiten ihrer Geschlechtsidentität.
Zur sozialen Realität der Betroffenen
Die Verschiedenheit von AGS-Betroffenen und anderen DSD-Betroffenen zeigt sich auch in den Ergebnissen der Befragung des Ethikrates zu den Bereichen der gesellschaftlichen Erfahrungen und der persönlichen Einstellungen, weniger bei den Forderungen an die Gesellschaft.
DSD-Betroffene, die nicht unter die AGS-Diagnose fallen, geben an, häufig Diskriminierungen und Ausgrenzung zu erleben, unter der Tabuisierung des Themas zu leiden, Probleme mit der binären Geschlechtseinordnung zu haben und häufig körperliche Gewalt, Spott und Beleidigung sowie vielfältige Hürden im Alltag zu erfahren. AGS-Betroffene geben überwiegend an, solche Erfahrungen nicht zu machen und keine Hürden im Alltag zu haben. 87 Prozent der AGS-Betroffenen fühlt sich integriert in die Gesellschaft, aber nur 46 Prozent der anderen DSD-Betroffenen. AGS-Betroffene haben überwiegend keine Kontakte zu anderen gleich Betroffenen, wohingegen rund 80 Prozent der anderen DSD-Betroffenen solche Kontakte angeben.
85 Prozent der AGS-Betroffenen bewerten frühe geschlechtszuordnende Operationen durch die Zustimmung der Eltern als gerechtfertigt gegenüber nur sechs Prozent der anderen DSD-Betroffenen. Umgekehrt stimmen nur elf Prozent der AGS-Betroffenen der Aussage zu, dass mit Genitaloperationen außer in medizinischen Notfällen bis zum entscheidungsfähigen Alter gewartet werden soll, aber 97 Prozent der anderen DSD-Betroffenen. Nur 31 Prozent der AGS-Betroffenen stimmen für ein Offenlassen der geschlechtlichen Zuweisung eines Kindes gegenüber 92 Prozent der anderen DSD-Betroffenen. 70 Prozent der AGS-Betroffenen sprechen sich für eine Beibehaltung der Zweiteilung der Geschlechtskategorien aus, aber nur fünf Prozent der anderen DSD-Betroffenen.
Bei der Frage nach der Art einer anzustrebenden Neuordnung des Personenstandsrechts sprechen sich diejenigen AGS-Betroffenen, die nicht für eine Beibehaltung des binären Systems eintreten, eher für eine Öffnung um eine dritte Kategorie oder die Möglichkeit, den Eintrag im Kindesalter offen zu lassen, aus, die anderen DSD-Betroffenen eher für eine generelle Abschaffung des Geschlechtseintrags und nur ersatzweise für die Einführung weiterer Kategorien.
Keine Unterschiede zwischen den beiden DSD-Gruppen zeigen sich bei den Forderungen zur Verbesserung der Situation. 36 Prozent wünschen sich mehr Aufklärung in der Gesellschaft, 86 Prozent befürworten außerklinische Kontakt- und Beratungszentren. Im Online-Diskurs des Ethikrats haben Betroffene darüber hinaus finanzielle und strukturelle Hilfen für Selbsthilfegruppen zur Errichtung eines bundesweiten Hilfenetzwerks gefordert. Die befragten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen fordern interdisziplinäre Kompetenzzentren zur fachlich bestmöglichen Behandlung der Betroffenen mit mehr Zeit, weniger Entscheidungsdruck und größerer Beachtung der jeweils individuellen Umstände.
Die Ergebnisse zeigen eine große Übereinstimmung aller Betroffenen, aber auch der befragten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, in den Forderungen zur Verbesserung der Situation. In den Bereichen der gesellschaftlichen Erfahrungen und der persönlichen Einstellungen zeigen sich jedoch erhebliche Unterschiede zwischen AGS-Betroffenen und anderen DSD-Betroffenen, die auf die Unterschiedlichkeit der jeweiligen körperlichen Besonderheiten und Lebenswelten hindeuten. Für die Gruppe der DSD-Betroffenen, die nicht unter die Diagnose AGS fallen, weisen die Befragungsergebnisse ebenso wie die Zeugnisse im Online-Diskurs auf eine mangelhafte Integration und Teilhabe an der Gesellschaft hin.
Empfehlungen
Der Deutsche Ethikrat hat vor dem Hintergrund dieser Befunde eine differenzierte Betrachtung der verschiedenen Untergruppen von DSD vorgenommen und unterscheidet zwischen geschlechtsvereindeutigenden und geschlechtszuordnenden Eingriffen. Unter geschlechtszuordnend werden medizinische, meist chirurgische Eingriffe, verstanden, die bei uneindeutiger Geschlechtlichkeit, beispielsweise bei Menschen, bei denen sowohl männliche als auch weibliche körperliche Merkmale innerlich und äußerlich vorhanden sind, eine Zuordnung zu dem einen oder dem anderen Geschlecht herstellen. Solche Operationen bewertet der Ethikrat als einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität, über die grundsätzlich nur die Betroffenen selbst entschieden können. Der Ethikrat gibt die Empfehlung, mit solchen operativen Eingriffen bis in das entscheidungsfähige Alter des Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen abzuwarten, es sei denn, unabweisliche Gründe des Kindeswohls wie eine schwerwiegende Gefahr für die physische Gesundheit des Kindes durch ein nachgewiesenes erhöhtes Tumorrisikos stehen dagegen. Alle Erfahrung zeigt, dass eine bis in Kindheit und Jugend reichende Erziehung, die die Geschlechtseinordnung offen lässt, möglich, wenn auch nicht einfach ist, aber weniger Leid bedeutet als frühzeitig festlegende Operationen, welche die Betroffenen später als traumatisch erleben und von denen ihr Leben gekennzeichnet ist.
Anders schätzt der Ethikrat die Situation ein, wenn wie im Falle des Adrenogenitalen Syndroms das Geschlecht feststeht. Mit vereindeutigenden Eingriffen ist dann die Korrektur einer biochemisch-hormonelle Fehlfunktion gemeint, die potenziell einen gesundheitsschädigenden Charakter hat. Gegebenenfalls fällt hierunter auch ein operativer Eingriff (Klitorisresektion) zur Angleichung des äußeren Erscheinungsbildes an das genetische und durch die inneren Geschlechtsorgane feststehende Geschlecht. Diese Empfehlung hat von Seiten des AGS-Eltern- und Patienteninitiative e.V. große Zustimmung erhalten, ist aber auf harte Kritik des Vereins Intersexuelle Menschen gestoßen, weil er auch darin einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit sieht, der schwerwiegende psychische Folgen für die Betroffenen habe. Der Ethikrat hat solche Eingriffe zwar als weniger gravierend als geschlechtszuordnende Eingriffe (wie Gonodenentfernungen) angesehen, seinen Vorschlag aber dahingehend abgeschwächt, dass auch in diesen Fällen stets eine individuelle und umfassende Abwägung der medizinischen, psychologischen und psychosozialen Vor- und Nachteile im Sinne des Kindeswohls erfolgen muss und im Zweifel immer die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen abgewartet werden sollte.
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Befunde und Erfahrungsberichte bezüglich nicht ausreichender Information sollte in Zukunft die medizinische, psychologische und psychosoziale Kompetenz, die heute vorhanden ist, allen Betroffenen sowie betroffenen Eltern frühzeitig zur Verfügung stehen. Der Ethikrat empfiehlt deshalb, die medizinische Diagnostik und Behandlung von DSD-Betroffenen nur in einem speziell dafür qualifizierten, interdisziplinär zusammengesetzten Kompetenzzentrum von Ärzten, Psychologen, Sozialberatern und anderen Experten vorzunehmen. Die fortlaufende medizinische Betreuung sollte dann in unabhängigen qualifizierten Betreuungsstellen fortgeführt werden, in denen auch nach dem peer-Beratungsprinzip Betroffene andere Betroffene beraten.
Die Frage, ob es zulässig ist, dass Menschen mit uneindeutigem Geschlecht gezwungen werden dürfen, sich entweder der Kategorie "weiblich" oder "männlich" zuzuordnen, bewertet der Ethikrat als nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und schlägt die Regelung vor, neben den Alternativen "weiblich" und "männlich" nach australischem Vorbild auch die Kategorie "anderes" einzuführen. Diese Kategorie soll von Menschen mit uneindeutigem Geschlecht gewählt werden können. Dies heißt, dass die Betroffenen sich keinesfalls in diese Kategorie einordnen müssen, sondern ihnen nur der Weg eröffnet werden muss, ihre andere Geschlechtlichkeit so zu dokumentieren. Die Entscheidung der Eintragung ins Personenstandsregister soll darüber hinaus für Menschen mit uneindeutigem Geschlecht offen bleiben können, damit diese ohne Druck und erst, wenn die Entscheidung herangereift ist, erfolgen kann. Der Gesetzgeber sollte ein Höchstalter festlegen, bis zu dem die betroffene Person sich entschieden haben soll. Denkbar ist das 21. oder das 25. Lebensjahr. Wichtig ist, dass für die Gruppe der Menschen mit uneindeutigem Geschlecht der Druck möglichst gering gehalten wird.
Auch zur Frage der Partnerschaft beziehungsweise Eheschließung von Menschen, die dann in der Kategorie "anderes" eingetragen sind, hat sich der Ethikrat Gedanken gemacht. Die Mehrheit der Mitglieder ist dafür, auf jeden Fall die Lebenspartnerschaft dafür zu öffnen. Ein Teil des Ethikrates schlägt auch vor, die Möglichkeit der Eheschließung in diesem Falle zu öffnen, ein anderer Teil ist dagegen. Völlig ungeklärt ist dann aber, was passiert, wenn ein zurzeit verheirateter intersexueller Mensch, der nach bisherigem Recht binär zugeordnet war, sich entscheidet, zur Kategorie "anderes" zu wechseln. Müsste diese Person sich dann scheiden lassen? Wenn man die Kategorie "anderes" einführt, muss man nach meiner Überzeugung Lebenspartnerschaft und Ehe dafür öffnen. Es wäre aber bedauerlich, wenn an dieser Frage die so wichtige Einführung der Kategorie "anderes" scheitern sollte.
Ausblick
Bei der Frage des Umgangs mit intersexuellen Menschen ist die gesamte Gesellschaft und jeder Einzelne sozial und kulturell gefordert, dieses Anderssein zu begreifen und nicht nur zu tolerieren, sondern mitten in unserer Gesellschaft willkommen zu heißen. Das ist mein Fazit aus der außerordentlich bereichernden Begegnung mit den Betroffenen und der Befassung mit dem Thema. Ich schließe deshalb mit einem für mich sehr wichtigen Satz aus unserer Stellungnahme: "Menschen mit DSD müssen mit ihrer Besonderheit und als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren."