Einleitung
Die Natur in ihre gewachsenen Teile zerlegen!", fordert Sokrates mit seiner berühmten Metzger-Metapher in Platons Phaidros. Gemeint ist damit die begriffliche Zerlegung der Natur in verschiedene Komponenten, um auf diese Weise systemische Bestandteile herauszuarbeiten, welche dabei helfen, letztlich "das große Ganze" besser zu verstehen. Aus soziobiologischer Sicht sind die "gewachsenen Teile der Natur" evolutionäre Angepasstheiten, also physische und psychische Merkmale, die durch die Wirkweise der Darwinschen Prinzipien in langen Zeiträumen geformt wurden und den unbestechlichen Test der natürlichen Selektion bestanden haben.
Evolution von Frauen und Männern
Seit Darwin erstmals den Mechanismus der natürlichen Selektion zur Erklärung der biologischen Vielfalt vorschlug, lässt sich auch die menschliche Natur nicht mehr aus der gemeinsamen Geschichte aller Lebewesen ausklammern: Wir alle sind heute nur deshalb am Leben, weil unsere Vorfahren ausnahmslos, von den ersten Anfängen des Lebens bis heute, dazu in der Lage waren, lebensfähige Nachkommen zu hinterlassen oder - in darwinscher Terminologie ausgedrückt - weil sie reproduktiv erfolgreich waren. Wer diesbezüglich an den Unsicherheiten des Lebens gescheitert ist, konnte sein Erbmaterial nicht weitergeben und gehört deshalb auch nicht zu unseren Vorfahren. So erklärt es sich, dass alle Organismen, von einfachen Bakterien bis zu den sozial hochkomplexen Primaten (Menschen eingeschlossen), auf bestmögliche Reproduktion eingestellt sind. Freilich ist das, was im technischen Laborjargon der Biologen "Fitnessmaximierung" heißt, nicht Ergebnis eines irgendwie im Verborgenen wirkenden Triebs, sondern Fitnessmaximierung wird in der Regel erreicht, indem Menschen ihren psychischen Präferenzen nachgehen, Glück und Zufriedenheit zu mehren suchen und Unglück und Stress vermeiden. Die verhaltenssteuernde Maschinerie unseres Gehirns produziert biologisch nützliche Repräsentationen der Welt und Emotionen, die uns - Risiken meidend, Chancen nutzend - gleichsam einem Navigationssystem vergleichbar durchs Leben führen. Der Vollzug dessen führt im Mittel letztlich zu erfolgreicher Reproduktion. Wäre dem nicht so, hätten die einschlägigen Hirnfunktionen keinen Bestand.
Die Rolle der Sexualität in diesem struggle for life hat allerdings bereits Darwin vor ein großes Rätsel gestellt.
Auf diese alles andere als triviale Frage gibt es eine Reihe von Antworten, die zu referieren hier der Platz fehlt. Alles deutet darauf hin, dass Organismen einen evolutionären Vorteil davontragen, wenn sie genetisch heterogenen Nachwuchs zeugen. Die evolutionäre Nützlichkeit des zweiten Geschlechts liegt demnach in seinem Beitrag zu genetischer Rekombination, die vor allem bei hoher pathogener Belastung und ökologischer Heterogenität von Vorteil ist.
Die Antwort hierauf liefert die Funktionslogik der disruptiven Selektion. Favorisiert werden zum einen Elternindividuen, die möglichst viele Keimzellen in die Befruchtungslotterie geben können. Allerdings hat Quantität ihren Preis: Die Qualität, also die Größe, Vitalität und energetische Aufladung der Keimzellen, bleibt eher bescheiden. Auf der anderen Seite sind Elternindividuen im Vorteil, die auf Qualität setzen, also ihre Keimzellen mit viel Baustoffen und Energie anreichern, sodass diese relativ lange überleben und im Fall der Befruchtung auch die Entwicklung des Keimes gut anstoßen können. Der Preis dieser Strategie wird in Form reduzierter Mengen bezahlt. Eine theoretisch dritte Möglichkeit, nämlich Keimzellen herzustellen, die ein bisschen besser ausgestattet sind, aber dafür nicht in der Menge wie Spermien produziert werden können, hat auf Dauer keine Chance. Sie verliert sowohl gegen die quantitative Strategie, die man konventionell "männlich nennt, und die qualitative, die man konventionell "weiblich" nennt. Ein drittes Geschlecht kann es deshalb nicht geben und 37 schon gar nicht.
Damit haben wir den Kern der Geschlechterdifferenz beschrieben. Den Anfang des "kleinen Unterschieds" macht also aus soziobiologischer Sicht nicht das aus, was man populär darunter zu verstehen glaubt, sondern der strategische Unterschied von Elternindividuen in ihrem reproduktiven Investment liegt in der evolutionären Initialzündung für eine Kaskade von ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklungen, denen die Geschlechter ausgesetzt waren und immer noch sind und an deren Ende Geschlechterdifferenz auch anders in Erscheinung tritt als in bloß harmlosen Keimzellenunterschieden. Denn das Aufeinandertreffen der beiden Strategien "männlich" und "weiblich" generiert automatisch einen Markt mit einer Angebots- und Nachfragedynamik. Im Zuge der sexuellen Selektion werden jene Marktteilnehmer/Marktteilnehmerinnen belohnt, die sich unter Konkurrenzbedingungen auf diesem Markt - als Anbieter und/oder Nachfrager - gut behaupten können, und folglich werden jene Elternindividuen reproduktiv, und das heißt letztlich genetisch belohnt, die ihre Nachkommen gut für diesen Markt ausstatten. Reproduktives Investment beinhaltet deshalb mehr als die bloße Herstellung von Keimzellen.
Der Soziobiologe Robert Trivers argumentiert plausibel, dass das differenzielle reproduktive Investment der Geschlechter die Schlüsselvariable darstellt, um den evolutionären Mechanismus der sexuellen Selektion, das heißt der geschlechtsspezifischen Ausprägung bestimmter funktionaler Merkmale und Strategien, zu verstehen.
Aber für Geschlechterunterschiede bei Menschen ist auch noch eine andere Besonderheit der Geschlechtschromosomen relevant: Das Y-Chromosom befindet sich die ganze Zeit über in männlichen Individuen, während das X-Chromosom rein statistisch die meiste Zeit in einem weiblichen Körper verbringt. Gäbe es für die Gene auf den Geschlechtschromosomen eine Möglichkeit, das Geschlechterverhältnis unter den Nachkommen zu manipulieren, sodass ausschließlich eines der Geschlechter produziert würde, könnten sie ihre eigene Reproduktion zulasten des jeweils anderen Geschlechtschromosoms enorm steigern. Dieser Umstand führt zu der paradox erscheinenden Situation, dass Gene auf den Geschlechtschromosomen davon profitieren, wenn sie die Reproduktion des jeweils anderen Geschlechtschromosoms unterdrücken. Laut einiger Fachleute ist das Y-Chromosom sogar nur deshalb das mit Abstand kleinste aller Chromosomen, weil es im übertragenen Sinne vor diesem evolutionären Konflikt mit dem sehr viel größeren X-Chromosom "weggelaufen" ist und sich seitdem in anderen Teilen des Genoms "versteckt".
Die bis hier beschriebenen Zusammenhänge sollen erklären, weshalb zwei verschiedene Geschlechter existieren und zugleich andeuten, mit welchen weitreichenden sozialen Konsequenzen dies verbunden ist. Geschlechtsdifferenz ist so gesehen ein fester Bestandteil der menschlichen Natur. Kulturelle Kontexte spielen mit dieser Differenz und legen sie unterschiedlich aus, aber entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses konstruieren Kulturen nicht diese Differenz. Bevor wir auf die Bedeutung und Funktion von Kultur und Gesellschaft für die Ausgestaltung der Geschlechterdifferenz zurückkommen, wollen wir zunächst den Blick auf das einzelne Individuum richten. Wie werden Geschlecht und Geschlechtsidentität im Zuge der Individualentwicklung festgelegt, und wie kann es zu Abweichungen kommen?
Individualentwicklung von Geschlecht und Geschlechtsidentität
Wie allgemein bekannt, zeichnen sich Männer dadurch aus, dass sie zwei unterschiedliche Geschlechtschromosomen tragen und zwar sowohl ein X- als auch ein Y-Chromosom. Im Zuge der Keimzellenproduktion müssen diese Geschlechtschromosomen allerdings auf heranreifende Spermien aufgeteilt werden: Männer produzieren daher im Gegensatz zu Frauen Keimzellen, welche unterschiedliche Chromosomen enthalten, nämlich einerseits Spermien, die neben den sogenannten Autosomen lediglich das X-Chromosom enthalten und andererseits Spermien, welche lediglich das Y-Chromosom tragen. Welches Spermium die Chance erhält, sein jeweiliges Geschlechtschromosom an den Nachwuchs weiterzugeben, entscheidet sich bei der Befruchtung: Wird eine Eizelle durch ein X-Spermium befruchtet, trägt die Zygote anschließend den XX-Chromosomensatz, wohingegen ein Y-Spermium zu einem XY-Chromosomensatz führt.
Die chromosomale Ausstattung infolge der Befruchtung hat - in der Regel - weitreichende Folgen für die individuelle Geschlechtsentwicklung. Ein Y-chromosomales Gen namens "SRY" (sex-determining region Y) bildet nämlich den Beginn einer Kaskade von Entwicklungsprozessen, welche ab der siebten Schwangerschaftswoche zur Ausprägung von männlichen Merkmalen führt. Diese Kaskade führt über die Entwicklung von Hoden im Embryo zur Ausschüttung von Testosteron und der induzierten Ausbildung der sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmalen in der Pubertät bis hin zu geschlechtsspezifischen Verhaltenstendenzen, beispielsweise bezüglich Sexualität und Aggression. Dass das SRY-Gen eine derartige Schlüsselrolle spielt, haben beispielsweise Experimente an Mäusen gezeigt, bei denen XX-Weibchen durch Einbringen dieses Gens zu einem männlichen Erscheinungsbild umgewandelt werden konnten.
Allerdings gilt genauso der umgekehrte Fall: Fehlt aufgrund einer Mutation oder Beschädigung ein funktionales SRY-Gen auf dem Y-Chromosom, kommt es trotz eines vorhandenen Y-Chromosoms nicht zur Entwicklung von Hoden und der nachgeschalteten Ausdifferenzierung von Geschlechtsmerkmalen. So entwickeln sich die Betroffenen des sogenannten Swyer-Syndroms zunächst trotz eines "männlichen" Chromosomensatzes weiblich, so dass sie nach der Geburt äußerlich nicht von Mädchen zu unterscheiden sind.
Solche und andere Fälle einer abweichenden Geschlechtsentwicklung finden sich innerhalb der menschlichen Bevölkerung mit zwei Prozent aller Geburten nur relativ selten.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein äußerst komplexer Entwicklungspfad vom Geschlechtschromosom zur Geschlechtsidentität verläuft. Geschlecht ist deshalb gar nicht so eine eindeutige Kategorie, wie man landläufig annimmt. Man kann und muss deshalb unterscheiden, ob mit dem "biologischen Geschlecht" eigentlich das "chromosomale Geschlecht", das "hormonelle Geschlecht" oder das "Hebammen-Geschlecht", welches sich an den sichtbaren Geschlechtsmerkmalen orientiert, gemeint ist.
Biologische Varianz und Rolle der Umwelt
Die Vielfalt der Verhaltensstrategien der beiden Geschlechter hat zwei, in ihrer Bedeutung allerdings sehr unterschiedliche Quellen. Einerseits können individuelle Unterschiede auf genetische Polymorphismen, das heißt auf Unterschiede in den genetischen Anlagen von Männern und Frauen zurückgehen, die beispielsweise hormonelle Mechanismen beeinflussen und relativ unsensibel auf Umgebungsvariation reagieren. Andererseits hat die Umwelt einen bedeutenden Einfluss auf die individuelle Entwicklung dieser Anlagen. Bei kaum einem anderen Thema wird die Anlage-Umwelt-Debatte in der breiteren Öffentlichkeit so leidenschaftlich wie ergebnislos geführt wie im Bereich von sex und gender, und dies, obwohl die Debatte im Kern theoretisch weitgehend gelöst ist.
Soziobiologie ist eine Milieutheorie menschlichen Verhaltens, allerdings eine auf genetischer Basis, denn die für die Entwicklung eines Organismus wichtige Umwelt ist notwendigerweise Bestandteil des evolutionären Erbes.
Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Beide Geschlechter reagieren eifersüchtig, wenn sie den Verlust reproduktiver Ressourcen befürchten müssen. Beließe man es bei dieser Feststellung, bliebe Geschlecht als erklärende Variable in diesem Zusammenhang überflüssig. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass - soziobiologisch gut nachvollziehbar - die psychische Tiefenstruktur von Eifersucht sich zwischen Männern und Frauen im Mittel unterscheidet. Männer reagieren besonders eifersüchtig, wenn ihre Partnerinnen leidenschaftlichen Sex außerhalb der Beziehung pflegen. Für Frauen hingegen ist die Angst vor der emotionalen Abwendung des Partners im Mittel der bedeutendere Anlass, eifersüchtig zu reagieren.
Fazit
Wenn man entgegen der sokratischen Empfehlung versäumt, die "Natur in ihre gewachsenen Teile" zu zerlegen, kann nicht überraschen, dass auch groß angelegte Metastudien insgesamt nur wenige Belege für Geschlechtsunterschiede im Verhalten liefern. Dann scheint auch die Interpretation gerechtfertigt, dass Biologie und Evolution nicht oder nur kaum in die soziale Praxis einer aufgeklärten Moderne hineinstrahlen. Wenn man jedoch die durch sexuelle Selektion geformten Angepasstheiten in Psyche und Verhalten studiert, also die "gewachsenen Teile" identifiziert, kommt man zu einem anderen Ergebnis.