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Die braune Seite der Zivilgesellschaft: rechtsextreme Sozialraumstrategien

Stephan Bundschuh

/ 13 Minuten zu lesen

In strukturschwachen Regionen, in denen sich Kommunen aus sozialen Feldern zurückziehen, ist es Rechtsextremisten zum Teil möglich, sich als "nützliche“ zivilgesellschaftliche Akteure in Szene zu setzen.

Einleitung

Im Jahr 2011 gab es aus mehreren Kommunen beunruhigende Nachrichten. Ibrahimo Alberto, 1981 aus Mosambik zum Studium in die DDR gekommen und ehrenamtlicher Ausländerbeauftragter von Schwedt, kehrte der uckermärkischen Stadt den Rücken. Noch wenige Jahre zuvor erzählte er, "er habe keine Angst. Er sei das Kämpfen schließlich gewohnt, und zwar in mehrfacher Hinsicht: als Sportler, als Sozialarbeiter, der vielen gewaltbereiten Jugendlichen neue Wege aufgezeigt hat, als ehrenamtlicher Ausländerbeauftragter und als einer der wenigen Schwarzen in der brandenburgischen Grenzstadt Schwedt. Rassismus war ein steter Begleiter in seinem ostdeutschen Leben (...). Zu achtzig Prozent sei sein Weggang den zunehmenden rechtsextremen Anfeindungen geschuldet, denen er und seine Familie ausgesetzt seien. Die Stadt teilt seine Position nicht." Auch Michel Garand, Ausländerbeauftragter der Stadt Frankfurt an der Oder, gab 2011 auf. Ein Jahr zuvor hatte er seiner Stadt in einem offenen Brief "institutionellen Rassismus" vorgeworfen. Dies begründete er damit, dass die Stadt noch nicht einmal prüfen wolle, ob eine dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern die unzumutbaren Lebensbedingungen in den Asylbewerberheimen verbessern würde. Auch hier reagierte die Stadt nicht solidarisch, sondern abwehrend.

Beide Fälle werfen ein Licht auf die Stimmung in Deutschland. Kommunen können oder wollen ihre eigenen Vertreter nicht schützen oder unterstützen. Sie kapitulieren vor dem "braunen Mob", stimmen seinen Ansichten in Teilen gar zu oder ignorieren systematisch stattfindende Ausgrenzungen oder eine Stabilisierung rechtsextremer Strukturen. Diese Affinität der Einstellungsmuster zwischen Mitte und rechtem Rand - nachdrücklich in mehreren aktuellen Studien belegt - erleichtert es rechtsextremen Akteuren in besonderem Maße, sich gesellschaftlich "nützlich" zu machen. Im Folgenden werden zivilgesellschaftliche Verankerungen Rechtsextremer beschrieben, die besonders in strukturschwachen städtischen und ländlichen Regionen zu beobachten sind.

"Heile Welten" in der Krise

Astrid Geisler und Christoph Schultheis haben jüngst in unaufgeregter Weise rechtsextreme "Heile Welten" quer durch die Republik beschrieben. Sie porträtieren zum Beispiel eine rechtsextreme Mutter in der Kleinstadt Strehla, die als Schöffin am Amtsgericht und als Elternvertreterin im Schulelternbeirat fungiert, während ihr Mann als parlamentarischer Berater für die sächsische NPD-Landtagsfraktion tätig ist. Sie schildern die kommunalpolitische Verankerung von Neonazis in einem Dorf in Ostvorpommern und die Einbindung eines Jugendlichen in eine rechtsextreme Kameradschaft in einer süddeutschen Kleinstadt. Ihr Fazit lautet, sie "hätten auch überall sonst in Deutschland hinfahren können und wären doch wieder in jener Zone der Gesellschaft angekommen, die gerne als 'rechter Rand' bezeichnet wird".

Rechtsextreme Aktivisten können überall angetroffen werden. Ihre engen Zirkel überschreiten sie aber nur dort, wo sie nicht als Bedrohung, sondern als Hilfe und Unterstützung betrachtet werden. Im Umkehrschluss bedeutet das: Solange der Rechtsextremismus nicht in der Lage ist, sich lokal zu verankern und für die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner "nützlich" zu sein, stellt er zwar für einzelne Menschen eine Gefahr dar, ist aber nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Diskurse zu steuern und strukturell Macht auszuüben. Deshalb kommt der Verankerung rechtsextremer Aktivitäten in der Zivilgesellschaft bedeutende Funktion zu. Sie wird begünstigt durch Krisensituationen, die aus einem systematischen Rückgang ökonomischer Infrastruktur und ziviler Sozialstrukturen resultieren. Ein Ergebnis in solchen strukturschwachen Regionen ist der finanzielle Kollaps der Kommunen und damit der kommunale Rückzug aus sozialen Feldern wie der Jugendsozialarbeit. Diese Lücken können strategisch von anderen besetzt werden. Diese Besetzung geschieht von rechts her zwar nicht flächendeckend, aber exemplarisch zur Bestätigung der eigenen Leistungsfähigkeit und Demonstration der Verbindung mit der Bevölkerung. Das Engagement rechtsextremer Aktivisten und Aktivistinnen, solche brachliegenden "sozialen Äcker" zu "bestellen", kann schon seit geraumer Zeit beobachtet werden. Hierbei steht gewöhnlich der ländliche und kleinstädtische Raum im Fokus.

Doch nicht nur auf dem Lande wenden sich frustrierte Bürgerinnen und Bürger rechtsextremen Gruppierungen - und hier insbesondere der NPD - zu. Auch in krisengeschüttelten und finanzschwachen Ballungsräumen (nicht von ungefähr beginnen die Kommunen im Ruhrgebiet erneut den Solidarpakt Ost infrage zu stellen) entwickeln sich rechtsextreme Szenen und erhalten rechtspopulistische Parolen Aufmerksamkeit, insbesondere dann, wenn sie islamfeindlich untermauert sind. Während in den städtischen Zentren Nordrhein-Westfalens die Konfrontation mit "dem" Islam ein zentraler Anker des Rechtsextremismus und -populismus ist und die Imagination, dass es ohne "Ausländer", "Fremde" oder "Muslime" genügend Arbeitsplätze gäbe, gleichsam am lebenden Beispiel sichtbar gemacht wird, spielt dies realiter in strukturschwachen Gebieten im ländlichen Raum überhaupt keine Rolle. Dort sind zwar die gleichen islamfeindlichen Ressentiments anzutreffen, die entscheidende Wirkung erzielen Rechtsextreme aber unter anderem durch Aktivitäten, die tatsächlich Unterstützungsstrukturen schaffen. Es ist zu beobachten, dass an unterschiedlichen Orten sowohl alteingesessene als auch zugezogene Rechtsextremisten allgemein anerkannt sind, weil sie sich engagieren. Dabei rückt der dahinterliegende Zweck des Engagements in den Hintergrund, sofern er nicht sowieso befürwortet wird. Entscheidend aber ist die zivilgesellschaftliche Einbettung in das Gemeinwesen.

Zum Begriff der Zivilgesellschaft

Es gibt ein "bereichslogisches und ein handlungslogisches Verständnis" von Zivilgesellschaft: "Während ersteres Zivilgesellschaft als Sphäre jenseits von Staat, Familie und zum Teil Wirtschaft fasst, wird Zivilgesellschaft in letzterem als ein Ensemble von Interaktionen verstanden, die auf das Gemeinwohl zielen, gewaltfrei sind und auf der Anerkennung des Anderen beruhen." Während ersteres deskriptiv verfährt, ist letzteres normativ aufgeladen. Der normative Gebrauch, der unter Zivilgesellschaft nichtstaatliche Aktivitäten versteht, die auf einem bürgerschaftlichen Engagement gründen, das sich für Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung, Demokratie, Liberalität, und Einhaltung der Grundrechte einsetzt, ist in der Literatur über Rechtsextremismus weit verbreitet. Die normative Aufladung aber läuft Gefahr, das lebensweltliche Feld, in dem der Rechtsextremismus derzeit maßgeblich wirkt, zu übersehen. Die rechtsextremen nichtstaatlichen und lebensweltorientierten Initiativen und Aktivitäten fallen in der normativen Deutung nicht unter den Begriff der Zivilgesellschaft, eine so verstandene Zivilgesellschaft ist genuin gegen Rechts gerichtet. Damit ist die nachgewiesene Verbindung zwischen Einstellungen der Mitte und Positionen am Rand der Gesellschaft gekappt, ist die Mitte für den Rechtsextremismus nicht zuständig, weil nicht verantwortlich.

Der deskriptive, nicht normativ aufgeladene Begriff der Zivilgesellschaft wendet sich gegen diese "idealistische Reinigung" der Mitte. Er stützt sich insbesondere auf Antonio Gramsci, demzufolge zur Zivilgesellschaft alle sozialen Aktivitäten gehören, die nicht über staatliche Institutionen gesteuert werden. Die Zivilgesellschaft ist bei Gramsci nicht per se als demokratisch und toleranzfördernd beschrieben, sondern gilt neutral als ein gesellschaftliches Feld, in dem wie im ökonomischen und staatlichen Sektor die politischen Kämpfe um die Durchsetzung bestimmter Gesellschaftsauffassungen stattfinden. Nur mit dieser Deutung des Begriffs kann überhaupt sinnvoll von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten des Rechtsextremismus gesprochen werden, die rechtsextremen nichtstaatlichen Aktivitäten gehören dann nämlich dem Bereich der Zivilgesellschaft an.

Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft hat für die Diskussion über den Rechtsextremismus entscheidende Bedeutung. Er unterstützt die Kritik am problematischen Begriff des Rechtsextremismus im Sinne einer Verlagerung der gesellschaftlichen Erscheinungsform des Rechtsextremismus an den Rand dieser Gesellschaft. Diese Verlagerung ist bereits im Begriff "Rechtsextremismus" angelegt, weshalb er im vorliegenden Aufsatz zwar als terminus technicus - aber mit dem Wissen, eigentlich unzutreffend zu sein - verwendet wird. Der normative Begriff der Zivilgesellschaft unterstützt die soziologische Exklusion des Rechtsextremismus aus der Gegenwartsgesellschaft und ignoriert, dass der Rechtsextremismus selbst ein gesellschaftliches Erzeugnis, dass er selbst Teil der Gesellschaft ist. Statt sich der Herausforderung zu stellen, ernsthaft zu analysieren, in welcher Verbindung die vielbeschworene "Mitte der Gesellschaft" mit rechtsextremen Tendenzen steht, wird mit dem normativen Begriff der Zivilgesellschaft und dem Rechtsextremismusbegriff die gesellschaftliche Dimension und Verknüpfung der rechten Weltanschauung ignoriert. Rechtsextremismus gilt als das Andere von Gesellschaft. Die aktuellen Statistiken aus dem Bereich der alltäglichen Einstellungen aber sprechen leider eine andere Sprache.

Rechte Strategien in Anknüpfung an Einstellungsmuster

Mit der 2011 abgeschlossenen Langzeitstudie "Deutsche Zustände" liegt eine umfassende Erhebung über zehn Jahre zu diskriminierenden Einstellungsmustern der Menschen ohne Migrations- und Minderheitserfahrung in Deutschland vor. In einer exemplarischen Untersuchung zu als abgehängt bezeichneten Sozialräumen wird der Einfluss der Jugendarbeitslosigkeit auf die gesellschaftliche Desorientierung von Jugendlichen und ihre Vorurteilsstrukturen herausgearbeitet. Die Untersuchung geht von der Annahme aus, dass sich "kollektive relative Deprivation (...) in einem sozialen Klima der Orientierungslosigkeit (...) niederschlägt". Diese individuelle Orientierungslosigkeit äußere sich wiederum in stärkerer Diskriminierung anderer. Dies wirke sich auch auf die Sozialräume aus, sofern die Annahme stimme, "dass ein soziales Klima der Orientierungslosigkeit auf sozialräumlicher Ebene zu einem fremdenfeindlicheren Klima im Sozialraum führt". Nach Abgleich dieser Annahmen mit dem statistischen Material kommt die Studie zu folgendem Ergebnis: "Insgesamt zeigt sich ein stabiler Effekt des sozialstrukturellen Einflussfaktors der Jugendarbeitslosigkeit auf Fremdenfeindlichkeit im Sozialraum. Unabhängig von Individualmerkmalen und davon, ob die Kreise im Osten oder im Westen liegen, fördert Jugendarbeitslosigkeit ein fremdenfeindliches Klima auf sozialräumlicher Ebene."

Rassistische Einstellungen resultieren jedoch nicht direkt aus der Jugendarbeitslosigkeit. Eine Zwischeninstanz ist das aus der Jugendarbeitslosigkeit erwachsende soziale Klima der Orientierungslosigkeit. Damit ist analytisch eine Erklärung gewonnen, warum gezieltes Engagement rechtsextremer Organisationen in marginalisierten Regionen auf fruchtbaren Boden fällt. Allerdings genügt es nicht, im ideologischen Feld Hass zu schüren - zugleich müssen Hilfeleistungen erfolgen. Die sozialräumlichen Strategien des Rechtsextremismus zielen also darauf ab, sich vor Ort "nützlich" zu machen. Dazu zählen Bürgerbüros mit Hartz-IV-Sprechstunden oder Kampagnen für Jugendzentren. Hierbei fällt insbesondere die Betonung demokratischer Spielregeln auf. "Die Berufung auf demokratische Spielregeln und die ständige Betonung von Gesprächsbereitschaft von Seiten der (...) rechtsextremen Szene verfolgen dasselbe Ziel. Indem Dialogbereitschaft und Gewaltverzicht signalisiert und praktiziert werden, sollen die Vertreter der etablierten Parteien und der Stadtöffentlichkeit gedrängt werden, mit den Rechtsextremen in Diskussionen einzutreten und sie damit zu anerkannten Gesprächspartnern aufzuwerten." Zudem geht es um sozialräumlichen Geländegewinn, der sich am nachdrücklichsten, aber auch in Kontrast zur Dialogbereitschaft in der Bildung sogenannter Angstzonen ausdrückt.

Ob "Angstzonen", auch "No-go-Areas" oder im Duktus der Rechtsextremen "national befreite Zonen" genannt, als kulturell und sozial hegemonial dominierte, geschlossene und auf Dauer gestellte Sozialräume in Deutschland existieren, wird zu Recht bezweifelt. Eine große Gefahr der Realisierung aber besteht in den Gegenden, die zu "rechtsextremen Modellregionen" auserkoren wurden wie Ostvorpommern oder Westmecklenburg. Bei dieser Strategie geht es zum einen um symbolischen Raumgewinnungsanspruch (auch als Signal an die potenziellen Opfer und Gegner), zum anderen um sozialräumliche Präsenz. Dazu gehören Demonstrationen, der regelmäßige Aufenthalt an öffentlichen Plätzen, die "Übernahme" von Jugendclubs, Gaststätten oder Kleingartenanlagen.

Hier muss unterschieden werden zwischen Raumaneignungen in Konfrontation oder in Einklang mit der Umgebung. Während erstere den im Sozialraum vorgefundenen Interessen zunächst konträr gegenübersteht, stützt sich letztere von Anfang an auf die Zustimmung der lokalen Bevölkerung. "An weniger attraktiven Orten, wie manchen Lokalen oder Jugendeinrichtungen, verlief die Aneignung sukzessive. Es zeigte sich zudem, dass Gelegenheitsstrukturen, wie der Umgang von Kneipenwirten mit rechten/rechtsextremen Gästen oder mangelnde konzeptionelle Richtlinien für eine Sozialarbeit mit rechten/rechtsextremen Jugendlichen oder JugendclubbesucherInnen, die Möglichkeit einer 'schleichenden' Besetzung halböffentlicher Orte boten. Gewaltsame Ortsaneignungen durch rechte/rechtsextreme Gesellungen, oftmals verbunden mit Nutzungskonflikten, waren hauptsächlich bei begehrten Orten zu finden." Grundsätzlich dient diese Raumaneignung aber weniger der Einbindung in die regionalen zivilgesellschaftlichen Strukturen, sondern der "Binnenintegration einer rechten/rechtsextremen Szene". Hier stellen sich rechtsextreme zivilgesellschaftliche Organisationsformen politisch anders orientierten zivilgesellschaftlichen Formationen entgegen.

Kulturelle Hegemonie und Gegenstrategie

Die im Nordosten der Republik aus rechtsextremen Kameradschaften heraus gegründete Bürgerinitiative "Schöner und sicherer Wohnen in Ueckermünde" initiierte 2003 eine Kampagne gegen die Verlegung einer Flüchtlingsunterkunft ins Zentrum des Ortes. Bei einer Unterschriftensammlung für ein entsprechendes Bürgerbegehren im Jahr 2004 unterschrieben knapp 2000 Personen die Liste der Bürgerinitiative, die damit ein Element direkter Demokratie nutzte. Die Flüchtlingsunterkunft wurde nie verlegt. "Die Bürgerinitiative feierte diese Absage an ein Flüchtlingsheim als ihren politischen Erfolg und deutete die Anzahl der Unterschriften als tiefe Verankerung im städtischen Gemeinwesen. Örtliche Repräsentanten widersprachen dieser Analyse und meinten, viele hätten ihre Unterschrift nicht gegeben, wenn der rechtsextreme Hintergrund der Bürgerinitiative bekannter gewesen wäre." Nun ist es allerdings fraglich, wie in einer Gemeinde von ungefähr 11000 Einwohnerinnen und Einwohnern unbekannt bleiben kann, wer hinter solch einer Initiative steht. Das Beispiel zeigt, wie sich rechtsextreme Strukturen über informelle soziale und kulturelle Angebote zunehmend in einer Kommune stabilisieren können. Weniger die politische Initiative als das sozialräumliche Engagement sind es, die es Rechtsextremisten ermöglichen, Teil lokaler zivilgesellschaftlicher Strukturen zu werden.

Von Rechtsextremen initiierte Bürgerinitiativen sind keine Einzelfälle. Die von ihnen ausgelösten oder mitgestalteten lokalen Auseinandersetzungen zeigen gerade am Beispiel von kleineren Gemeinden oder Stadtteilen paradigmatisch die unterschiedlichen Positionen in den sozialen Auseinandersetzungen. Vielfältige Aktivitäten wenden sich bereits seit Jahren gegen die Ausbreitung des rechtsextremen zivilgesellschaftlichen Engagements. Aus der Vielzahl gut dokumentierter Beispiele soll hier ein Planspiel aus dem Bereich der politischen Bildung vorgestellt werden, da es die rechtsextreme Strategie der lokalen Gründung von Bürgerinitiativen aufnimmt und dabei die Auseinandersetzung mit Theorie und Strategie des Rechtsextremismus im Rahmen der Erwachsenenbildung miteinander verbindet. Es handelt sich um das Planspiel "Braucht Cityville eine Bürgerwehr?", das die in unterschiedlichen Regionen Europas anzutreffende Diskussion über die Gründung von Bürgerwehren zum Schutz von "Recht und Ordnung" aufgreift. Dieses zum Beispiel in Ungarn und Italien diskutierte und teilweise bereits umgesetzte Vorhaben impliziert, dass die staatlichen Ordnungsorgane ihre Aufgaben zum Schutz der einheimischen Bevölkerung nicht mehr adäquat erfüllen würden bzw. könnten.

Ausgangspunkt des Planspiels sind Desintegrationserfahrungen in der fiktiven Kleinstadt Cityville, die eine mutmaßlich rechtsextreme Bürgerinitiative veranlasst, eine Bürgerversammlung einberufen zu lassen, die sich der Frage einer Bürgerwehr widmet. Die Teilnehmenden werden in vier Gruppen aufgeteilt, die unterschiedlichen politischen Fraktionen angehören (Bürgeroffensive "Sicheres Cityville", Bündnis "Cityville Nazifrei", Konservative Bürgerinnen und Bürger, Liberale Bürgerinnen und Bürger), und erschließen sich im Vorfeld der fiktiven Bürgerversammlung rechtsextreme Argumente und kritische Analysen dieser Argumentationen. Auf der Versammlung, die von Teilnehmenden in der Rolle des Bürgermeisters oder der Bürgermeisterin (in der Regel unterstützt von der Seminarleitung) formal korrekt moderiert wird, hat jede Gruppe die gleiche Redezeit, um ihre Position zur Errichtung einer Bürgerwehr zu begründen. Nach einer Diskussion gibt es eine Abstimmung. Nachdem die Teilnehmenden aus ihren Rollen herausgetreten sind, schließt eine Reflexionseinheit an, um gemeinsam die Strategien der Argumentationen und das Abstimmungsergebnis in der Gruppe zu diskutieren.

Das erstaunlich realitätsnahe Fazit der bisherigen Praxiserfahrungen mit dem Planspiel lautet: "Auf beiden Veranstaltungen präsentierte sich das Bürgerbündnis 'Sicheres Cityville' bei der Antragstellung sehr selbstbewusst, aber moderat als 'Anwalt der kleinen Leute' und richtete sich direkt an Betroffene von Kriminalität und an besorgte Bürgerinnen und Bürger oder Eltern, die Angst um ihre Kinder haben. Im Verlauf der Diskussion brachten sie erst dann rechtsextreme Vorstellungen ein, wenn sie den Eindruck hatten, andere Teilnehmende könnten ihnen Recht geben. Während sie teils tatsächlich Zustimmung erhielten, waren sie aber auch schnell mit klaren Abgrenzungen zu ihrer Position konfrontiert und begaben sich in die Gefahr, als rechtsextrem betitelt zu werden. Parallel verfolgten sie die Argumentation, Jugendlichen über die Bürgerwehr eine sinnvolle Tätigkeit anzubieten, dadurch zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern und so der Verwahrlosung und Gewalt vorzubeugen." Diese im Spiel entwickelten Argumentationslinien geben die realen Argumentationsstrategien des auf Schulterschlüsse mit den Bürgerinnen und Bürgern zielenden Rechtsextremismus genau wieder. Das Planspiel ermöglicht in diesem Falle durch eine gleichsam mimetische Bewegung, diese Strategien nachzuvollziehen und sie damit durchschauen und ihnen in der Realität angemessen begegnen zu können.

Fazit

Zur erfolgreichen Bekämpfung des Rechtsextremismus bedarf es eines nüchternen Blicks auf seine Strukturen. Weder Über- noch Untertreibung helfen weiter, auch begriffliche Schärfe ist bei der Betrachtung notwendig. Ohne zu dramatisieren lässt sich konstatieren, dass der organisierte Rechtsextremismus nicht nur in Anbetracht seiner massiven Gewalttaten politisch und sozial eine nicht zu ignorierende Rolle spielt. Zugleich aber ist er auch regional von einer hegemonialen Dominanz weit entfernt. Dennoch lässt sich durch den Blick auf das Extrem etwas über die Normalität unserer Gesellschaft erfahren. Und diese Normalität zeigt teils bedenkliche Affinitäten zu rassistischem Denken und diskriminierendem Handeln. Das aber drückt sich am deutlichsten und unmittelbarsten vor Ort im Zusammenleben der Menschen aus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dierk Borstel, Rechtsextremismus und Demokratieentwicklung in Ostdeutschland, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin 2012, S. 246-260, hier: S. 246.

  2. "Es ist unzumutbar, eine weitere Befestigung von institutionellem Rassismus zu dulden." Offener Brief des Ausländerbeauftragten Michel Garand zur Unterbringungspraxis der Stadt Frankfurt/Oder, in: Landesflüchtlingsräte/Pro Asyl (Hrsg.), AusgeLAGERt - Zur Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland. Sonderheft, o.O. 2011, S. 36f., online: www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2011/03/webversion21.pdf (27.3.2012).

  3. Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folgen 1-10, Frankfurt/M.-Berlin 2002-2012; Oliver Decker/Marliese Weißmann/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010.

  4. Astrid Geisler/Christoph Schultheis, Heile Welten. Rechter Alltag in Deutschland, München 2011, S. 13.

  5. Vgl. u.a. Bund der Deutschen Landjugend (Hrsg.), Es wächst nicht einfach Gras darüber. Rechtsextremismus in den ländlichen Räumen, Berlin 2009; Friedrich Burschel (Hrsg.), Stadt - Land - Rechts. Brauner Alltag in der deutschen Provinz, Berlin 2010; Dierk Borstel, "Braun gehört zu bunt dazu!", Münster 2011.

  6. Vgl. Alexander Häusler (Hrsg.), Rechtspopulismus als "Bürgerbewegung". Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien, Wiesbaden 2008.

  7. Simon Teune, Rechtsradikale Zivilgesellschaft - contradictio in adjecto?, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, (2008) 4, S. 17-22, hier: S. 18.

  8. Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 7, Hamburg 1996, Heft 12, Paragraf 1, S. 1502.

  9. Vgl. W. Heitmeyer (Anm. 3). Siehe auch den Beitrag von Heitmeyer in dieser Ausgabe.

  10. Andreas Grau/Eva Groß/Jost Reinecke, Abgehängte Sozialräume. Die Bedeutung von Jugendarbeitslosigkeit für Orientierungslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit, in: W. Heitmeyer (Anm. 1), S. 129-145, hier: S. 131.

  11. Ebd., S. 133.

  12. Ebd., S. 140.

  13. In Anlehnung an Stuart Hall bevorzuge ich zur Beschreibung der gleichen Vorurteilsstrukturen den Begriff des Rassismus anstelle des von den Autoren verwendeten Begriffs der Fremdenfeindlichkeit.

  14. Vgl. Almuth Knigge, Systemkampf in der ostdeutschen Provinz, in: Patrick Gensing, Angriff von Rechts, München 2009, S. 91-100, hier: S. 96.

  15. Vgl. Andreas Klärner, Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit, Hamburg 2008, S. 125-138.

  16. Ebd., S. 137.

  17. Für eine Analyse der Raumstrategien sowie des medialen Diskurses darüber vgl. Uta Döring, Angstzonen, Wiesbaden 2008.

  18. Ebd., S. 265.

  19. Ebd., S. 266.

  20. Dierk Borstel, Heimat und Zukunft in Ueckermünde, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt/M. 2007, S. 197-206, hier: S. 202. Vgl. auch Tatjana Volkmann, Region Ueckermünde, in: Hubertus Buchstein/Gudrun Heinrich (Hrsg.), Rechtsextremismus in Ostdeutschland, Schwalbach/Ts. 2010, S. 145-246.

  21. Vgl. stellvertretend Roland Roth, Demokratie braucht Qualität! Beispiele guter Praxis und Handlungsempfehlungen für erfolgreiches Engagement gegen Rechtsextremismus, Berlin 2010, S. 53-65.

  22. Vgl. Milena Detzner/Hanna Mai, Das Planspiel "Braucht Cityville eine Bürgerwehr?", in: Stephan Bundschuh/Ansgar Drücker/Thilo Scholle (Hrsg.), Wegweiser: Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus, Schwalbach/Ts. 2012, S. 163-184.

  23. Ebd., S. 180.

Dr. phil., geb. 1962; Professor an der Fachhochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwesen, Konrad-Zuse-Straße 1, 56075 Koblenz. E-Mail Link: bundschuh@fh-koblenz.de