Einleitung
Etwa eine Viertelmillion Abstimmungsberechtigte unterschrieben die "Antisemitenpetition" (1880/1881).
Die "Antisemitenpetition" zeigt in den Entstehungsjahren des (modernen) Antisemitismus das typische Zusammenspiel von weltanschaulichen Deutungen, Emotionen, Kommunikationsweisen und sozialer Praxis der Exklusion. Gestützt auf eine Rhetorik der Ungleichheit wird ein unversöhnlicher Widerspruch zwischen Christen und Juden beschworen, eine maximale Distanz zwischen dem "arischen deutschen Boden" und "den Juden" fabuliert, sodass sich Herkunft, Blut, deutsche Sitte und christliche Weltanschauung zu einem mythischen Ganzen verweben. Die rechtliche Gleichstellung von Juden stellt sich vor diesem Hintergrund als "höchste Gefahr" dar. Auf diese Weise bietet die "Antisemitenpetition" scheinbare Erklärungen für neue ökonomische und politische Phänomene an, schürt Neid und Hass gegen "die jüdischen Herren", in deren Händen "der größte Teil des Kapitals" liegen würden. Die Forderung nach der "Emanzipation des deutschen Volkes" stellt schließlich die Verhältnisse auf den Kopf und legt nahe, die imaginierte Fremdherrschaft der Juden tatkräftig zu bekämpfen. In einer schweren Krise der bürgerlich-liberalen Gesellschaft, an der Zäsur der antiliberalen Wende von 1878/1879 gelang dem Weltbild, das der Kampfbegriff transportierte, eine steile Karriere.
Auch das Ende der "Antisemitenpetition" nimmt das Problem der gesellschaftlichen und politischen Reaktion auf den Antisemitismus in gewisser Hinsicht vorweg. Zwar intervenierten prominente Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft im "Manifest der Berliner Notabeln gegen den Antisemitismus": Sie wiesen darauf hin, "daß im Volksbewußtsein der Deutschen das Gefühl der nothwendigen Zusammengehörigkeit den Sieg über die Stammes- und Glaubensgegensätze" schon davontragen habe und forderten "Achtung jedes Bekenntnisses, gleiches Recht, gleiche Sonne im Wettkampf, gleiche Anerkennung tüchtigen Strebens für Christen und Juden".
Theorien und Topoi
Eine systematische Erforschung des Antisemitismus, die jenes komplexe Bündel entschlüsselt, setzte zeitlich parallel mit der nationalsozialistischen Vertreibung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ein. Die entwickelten Erklärungsmodelle waren aufgrund der Komplexität, der religiösen, kulturellen, sozialen, psychischen, historischen und politischen Dimensionen des Phänomens notwendig interdisziplinär angelegt und integrierten eine Vielzahl theoretischer Konzepte und Methoden. Angesichts der Eskalation des Feindbildes zum "Zivilisationsbruch" markierenden Massenmord und der sich permanent fortschreibenden Aktualität des Untersuchungsgegenstands ist die Forschung inzwischen mit einem kaum zu überschauenden Fundus an Erfahrungen konfrontiert. Daher war die Wissenschaft "in den letzten Jahrzehnten zurückhaltend in der Ausarbeitung 'großer Theorien' und zielte stattdessen auf die Verbreiterung und Vertiefung unseres Kenntnisstandes im Einzelnen ab. (...) Dementsprechend stellt sich das gesamte Forschungsfeld in theoretischer Hinsicht disparat dar und kann nicht in einige gut unterscheidbare Theorieschulen geordnet werden."
Das für die gesamte Judenfeindschaft konstitutive Moment - eine "Wir"-Gruppe durch die Abgrenzung von dem Bild, das diese Gruppe von Jüdinnen und Juden zeichnet, zu konstruieren - ist fester Bestandteil antisemitischer Semantik. Das Bild von Juden hat mit der Realität jüdischen Lebens in den jeweiligen Gemeinschaften wenig gemein. Das Phänomen des "Antisemitismus ohne Juden" (das Vorhandensein von verfestigten negativen Einstellungen in Ländern, in denen quasi keine Juden leben) führt die These, ein Realkonflikt stünde hinter dem Feindbild, ad absurdum. Die Exklusion von Jüdinnen und Juden aus einem "deutschen Wir" ist in der immer noch verbreiteten sprachlichen Gegenüberstellung von "Deutschen und Juden" aktuell und auch bei Gruppen zu beobachten, die explizit Wert darauf legen, keine judenfeindlichen Einstellungen zu teilen.
Ein Medium, das die antisemitischen Topoi komprimiert visualisiert, sind Aufkleber, die seit der Entstehung des Antisemitismus als Briefschmuck, politische Propaganda und Werbematerial im Umlauf waren.
Explizierter findet sich das gleiche Prinzip auf zahlreichen Aufklebern, die Zitate mit judenfeindlichen Aussagen als Briefschmuck anboten. Unabhängig von den konkreten Anschuldigungen wurde durch die Gegenüberstellung von "Juden" und einem oft unbenannten, mythischen "Wir" der Ausschluss von Jüdinnen und Juden aus dieser "Wir"-Gruppe vollzogen. Eine Serie von Textmarken, die vermutlich am Ende der Weimarer Republik von der nationalsozialistischen Bewegung in Umlauf gebracht wurden, versinnbildlicht den Ausschluss aus der Nation. Wie diese Aufkleber illustrieren, ist die Exklusion aus der nationalen Gemeinschaft umfassend, da "den Juden" jegliche nationale Zugehörigkeit abgesprochen wird (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version).
Der Rassenantisemitismus, als ein zentrales ideologisches Moment in der Vernichtungspolitik des NS-Staates, verknüpfte tradierte Judenfeindschaft mit Rassentheorien, die seit dem 18. Jahrhundert in großem Umfang in pseudo-, populärwissenschaftlichen und literarischen Werken publiziert wurden. Die auf sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Motiven beruhende Judenfeindschaft trat nun mit wissenschaftlichem Anspruch auf. Im Kontext der Rassentheorien erschienen die als semantisches Gegensatzpaar konstruierten Begriffe "Semiten" und "Arier" als biologische Größen und damit als unabänderliche, naturgegebene Konstanten. Die Nichtzugehörigkeit von Juden und Jüdinnen erschien nicht mehr als eine umkämpfte gesellschaftspolitische Frage, sondern als wissenschaftlich begründete Tatsache. Da "Rassenmischung" notwenig zum Niedergang führe, galt es, Juden, aber auch andere zur "Rasse" erklärte Gruppen, möglichst umfassend aus den sozialen Beziehungen auszuschließen. Die Nürnberger Gesetze gossen den Gedanken der "Rasseschande" in eine juristische Form, während im Rahmen von "Prangerumzügen" jüdisch/nichtjüdische Paare öffentlich gedemütigt wurden.
Welche Rolle dem Antisemitismus beim Massenmord an den europäischen Juden genau zukommt, wird in der Holocaust-Forschung durchaus kontrovers diskutiert. "Unbestreitbar ist die Tatsache, dass im Holocaust der Antisemitismus als Ideologie in der Realität des Völkermords kulminierte."
Transformationen nach 1945
Der Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden und die Gründung des Staates Israel sind zwei historische Tatsachen, die den Antisemitismus der Gegenwart von seinen Anfängen bis zu seiner 1945 kulminierenden Form unterscheiden. Hoffnungen, dass sich im Angesicht des Massenmords die verfestigten Einstellungen gegenüber Juden und Jüdinnen fortan von selbst verbieten würden, wurden von der Realität widerlegt. In ganz Europa, in den ehemals deutsch besetzten Ländern durch die Okkupationserfahrung verstärkt, existierte der Antisemitismus fort und transformierte sich. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt waren die Überlebenden weiterhin mit offener und gewalttätiger Feindschaft konfrontiert. "Die Erfahrung, dass Juden gleichsam 'vogelfrei' und auf die niedrigste gesellschaftliche Stufe herabgedrückt worden waren, hatte das Verhältnis zu ihnen brutalisiert."
In der Forschung führten diese Entwicklungen zu den Begriffsbildungen "sekundärer Antisemitismus", "israelbezogener Antisemitismus" sowie "islamisierter Antisemitismus". Im Zentrum des sekundären Antisemitismus steht die auf die Schoah bezogene Schuldabwehr. Diese äußert sich in der Verharmlosung und Relativierung der deutschen Verbrechen, im Zurückweisen von Restitutionsansprüchen, in der Umkehrung von Täter- und Opferrollen sowie in Vorwürfen, Jüdinnen und Juden würden versuchen, aus dem Völkermord Vorteile zu erzielen. Auch die Verantwortungsumkehr, Juden und Jüdinnen wären aufgrund ihres Verhaltens selbst an der Judenfeindschaft schuld, gehört dazu. Die Forderung nach einem Schlussstrich unter die Erinnerungspolitik und -kultur bildet die logische Konsequenz dieser Abwehrargumentationen.
Beim israelbezogenen Antisemitismus ist die Kritik an israelischer Innen- oder Außenpolitik geprägt von Argumentationsweisen, welche die Kritik politischer, militärischer oder juristischer Handlungen des israelischen Staates auf alle seine Bürgerinnen und Bürger übertragen und mit antisemitischer Weltanschauung oder Semantik vermischen. Auch die im öffentlichen Diskurs zu beobachtende Parallelisierung israelischer Politik mit der des NS-Regimes wird in der Forschung als Charakteristikum des israelbezogenen Antisemitismus genannt.
Der Begriff "islamisierter Antisemitismus" charakterisiert den in islamisch geprägten Gesellschaften verbreiteten Antisemitismus als ein Phänomen, das auf den Denkmustern und Motiven des in Europa entwickelten Antisemitismus aufbaut. Denn "der heute in der islamischen Welt vorzufindende Antisemitismus bezieht seine Mythen - das Image des 'jüdischen Feindes' - nur zu einem unerheblichen Teil aus der islamischen Tradition".
Veränderte Rahmenbedingungen
Trotz des Fortbestehens des Antisemitismus und seiner Transformationen haben sich die Bedingungen, unter denen Antisemitismus heute artikuliert wird, wesentlich verändert. Eine "Antisemitenpetition" würde heute auf deutlich stärkeren Widerstand der politischen Eliten, der Presse und der Zivilgesellschaft stoßen. Sich öffentlich explizit judenfeindlich zu äußern ist gesellschaftlich tabuisiert. Antisemitismus zu bekämpfen, gehört zur Staatsräson. Trotzdem zeigt sich in Meinungsumfragen, im politischen Diskurs und in der Alltagskultur, wie verbreitet und aktuell antisemitische Denkmuster nach wie vor sind.
Ob "in Deutschland lebenden Juden" die gleichen Rechte zugebilligt werden sollten wie nichtjüdischen Deutschen, verneinten 2006 in einer repräsentativen Umfrage 25 Prozent der Befragten.
Es gibt kein "geeichtes Fieberthermometer" (Werner Bergmann), um Antisemitismus zu messen. Die Zustimmung zu einer einzelnen Aussage gilt in der empirischen Sozialforschung noch nicht als Beleg für ein antisemitisches Weltbild. Erst aus der Zustimmung zu mehreren solcher Aussagen errechnet die Einstellungsforschung ihre Angaben über die Verbreitung eines verfestigten antisemitischen Weltbildes. Dabei schwanken die Ergebnisse je nach Messverfahren: Besonders hohe Zustimmungsraten finden sich in den Umfragen zum sekundären und israelbezogenen Antisemitismus. Denkt man an die gegenwärtigen politischen und sozialen Konfliktfelder, in denen der Antisemitismus virulent ist, beunruhigt dieser Zustand.