Einleitung
Ich bin keine Migrantin. Aber ich werde trotzdem so behandelt."
In der Verweigerung einer solchen Anerkennung liegt eine wesentliche Ursache für die Suche nach alternativen Gemeinschaftskonstruktionen, die einen Rückzug auf vermeintlich authentische Identitäten in Abgrenzung zu "den Deutschen" beinhalten. Ein solcher Rückzug beschränkt sich häufig nicht auf eine Unterscheidung in "wir" und "sie". Nicht selten verbindet er sich mit einer expliziten Distanzierung und Abwertung anderer. Die Wir-Gruppe stiftet dabei nicht nur Gemeinschaft, sondern bietet durch die Negation der Werte der Mehrheitsgesellschaft Halt und Orientierung: "Die Transformation der eigenen Ungleichheit in die Abwertung anderer (...) ist ein Instrument der Ohnmächtigen."
Die wachsende Bedeutung kollektiver Identitäten, die sich in Abgrenzung von der Gesellschaft formieren, lässt sich bis in die frühen 1990er Jahre zurückverfolgen. Nicht zufällig fällt die verstärkte Identifikation von Jugendlichen als "Türke" oder "Araber" mit dem Selbstverständnis der Mehrheitsgesellschaft zusammen, das sich im Kontext der Deutschen Einheit entwickelte. Das Bild vom "Zusammenwachsen was zusammengehört", das in der öffentlichen Debatte nach der Vereinigung oft bemüht wurde, stand aus Sicht vieler Migranten nicht für eine Öffnung der Gesellschaft, sondern für ein fortwährendes Schweigen über jene Bevölkerungsteile, welche die westdeutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit mit ihren wirtschaftlichen Leistungen als "Gastarbeiter" wesentlich mitgestaltet haben.
Trotz einer deutlichen Öffnung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, wie es auf formaler Ebene in der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zum Ausdruck kam, prägt das Gefühl einer verweigerten Anerkennung bis heute den Alltag vieler Jugendlicher. In den Liedern des deutsch-türkischen Rappers Alpa Gun nimmt die Auseinandersetzung mit Ausgrenzungserfahrungen breiten Raum ein. In seinem Lied "Ausländer" aus dem Jahre 2007 beschreibt er das Gefühl, trotz der Aufbauleistungen seiner Eltern und des eigenen Beitrags als Bürger der Gesellschaft - beispielsweise in Form des Wehrdienstes - als Fremder am Rande der Gesellschaft zu stehen. Auch der Berliner Rapper Scarabeuz thematisiert diese Erfahrung. In seinem Lied "Wie lange noch?" aus dem Jahre 2007 zieht er eine Parallele zwischen den Ausgrenzungserfahrungen von Migranten und den Gewalterfahrungen von Muslimen im Nahen Osten. Auch hier verbindet sich der Bezug auf die Herkunftsländer der Eltern mit der Forderung, als Deutsche in Deutschland akzeptiert zu werden. Ähnliche Erfahrungen werden von jungen Muslimen beschrieben, die ihr ausdrückliches Bekenntnis zum Islam und zur Gemeinschaft der Muslime auch als Reaktion auf antimuslimische Ressentiments in der Gesellschaft erklären. Auf die Bedeutung von Diskriminierungserfahrungen im Alltag und Berufsleben wurde in verschiedenen Studien hingewiesen.
Ethnischer Chauvinismus
Ein Beispiel für den Rückzug auf eine vermeintlich eindeutige Identität spiegelt sich in der national-religiösen Ideologie der Grauen Wölfe (Bozkurtlar) wider. Die Bewegung, die sich auch als Idealisten-Bewegung (Ülkücülük) bezeichnet, stößt bundesweit auf Zuspruch: Mit über 200 Vereinen und 10000 Mitgliedern bilden die Grauen Wölfe die größte Organisation unter Migranten, die eine rechtsextrem-nationalistische Orientierung vertritt. Sie verbindet eine ethnisch-nationalistische, zugleich stark islamisch geprägte Ideologie mit autoritären Ordnungsvorstellungen. Die Ursprünge der Bewegung gehen auf die türkische Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) zurück, eine rechtsextreme Partei, die 1969 in der Türkei unter Alparslan Türke gegründet wurde. Seit Ende der 1970er Jahre sind die Grauen Wölfe auch in Deutschland aktiv. Im Mittelpunkt ihrer ideologischen Ausrichtung stehen die Glorifizierung einer großtürkischen Nation und die Einheit der turksprachigen Völker. In der Vergangenheit kam es zu einer Ausdifferenzierung dieser Bewegung, in der sich eine unterschiedliche Akzentuierung religiös und ethnisch begründeter Identitäten abzeichnete. So betont der Verband der Türkischen Kulturvereine in Europa (Avrupa Türk Kültür Dernekleri Birlii, ATB) in Abgrenzung zur ursprünglichen nationalistischen Ausrichtung die religiöse Dimension der nationalen Weltsicht.
Gemeinsam ist den Anhängern dieser Strömung die Verklärung der türkischen Nation als mythische Gemeinschaft, der eine Führungsrolle in der Region und unter Muslimen zukomme. Der Islam gilt dabei als ein ursprünglich türkisch geprägter Glaube, für dessen Bewahrung den Türken eine besondere Verantwortung zufalle. Das Symbol des Wolfes spielt dabei auf den turanischen Mythos an, der die überhistorische Geschichte der Türken herausstellt. Die Verklärung der idealen Gemeinschaft und die Warnung vor ihren vermeintlichen Feinden gehen dabei oft mit einer Abgrenzung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten einher, die als Bedrohung für das national-religiöse Kollektiv beschrieben werden.
Die Verbindung von kämpferischem Appell und Einschwören auf die nationale Gemeinschaft findet allerdings nicht nur unter deutsch-türkischen Jugendlichen Zuspruch. Ressentiments und Aufforderungen zum Kampf gegen Angehörige "fremder" Nationen finden sich auch in Beiträgen, die von Jugendlichen mit libanesischem, kroatischem oder serbischem Familienhintergrund im Internet veröffentlicht werden. Die Aussagen gehen dabei oft über eine Selbstethnifizierung hinaus. Ein Beispiel dafür ist der deutsch-albanische Rapper Bözemann, der sich in seinen Musikvideos unter Titeln wie "Der totale Krieg" als albanischer Nationalist im Kampf gegen seine Umwelt inszeniert. In Internetforen wie dem "balkanforum.info" werden diese Auseinandersetzungen ausgetragen. In den Debatten kommen auch Anhänger eines kroatischen und serbischen Nationalismus zu Wort.
Die Musik des rechtsextremen kroatischen Sängers Marko Perkovi (alias Thompson), der sich offen auf die faschistische Bewegung der Ustasha bezieht, dient dabei unter Jugendlichen mit kroatischem Familienhintergrund der identitären Selbstfindung. Bei Konzerten des Sängers in Frankfurt am Main, München und im Ruhrgebiet folgten in den vergangenen Jahren mehrere Tausend Besucher den nationalistischen Hymnen. In einer vergleichbaren Art und Weise mobilisieren auch die Lieder serbischer Nationalisten, welche die nationalistischen Konflikte in den Balkanstaaten in den hiesigen gesellschaftlichen Kontext übertragen.
Wie in anderen nationalistischen Argumentationen geht die Verklärung der Nation oft mit traditionellen Geschlechterbildern einher: In die martialische Symbolik mischen sich männliche Dominanzvorstellungen, während Frauen als Hüterinnen nationaler Werte und Traditionen präsentiert werden.
Umma als "beste Gemeinschaft"
Der Rückzug in die "eigene" Gemeinschaft ist auch für islamistische Strömungen charakteristisch. Hier geht die Identifikation mit der Umma bisweilen mit einer expliziten Abgrenzung und Abwertung von vermeintlich Anderen einher.
In Deutschland ist es vor allem die Islamische Gemeinschaft Milli Görü (IGMG), unter deren, insbesondere älteren Anhängern sich islamistische Einstellungen und Zielrichtungen ausmachen lassen - wobei sich in der Literatur unterschiedliche Einschätzungen zur IGMG finden.
Charakteristisch für die Milli-Görü-Bewegung unter Erbakan war die Ablehnung "des Westens", des "Imperialismus" und des "Zionismus". Bis heute zeigt sich bei älteren Mitgliedern eine Abwertung der deutschen Gesellschaft, die als unmoralisch, materialistisch und sexuell freizügig beschrieben wird. Trotz des verbandsinternen Aufstiegs jüngerer Funktionäre, die sich ausdrücklich positiv auf ein Leben in Deutschland beziehen und eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft anstreben, spielt die Vorstellung einer moralischen Überlegenheit der islamischen Gemeinschaft in der religiös-kulturellen Arbeit des Verbandes auch weiterhin eine Rolle.
Deutlicher noch als in traditionellen islamischen Vereinen äußert sich in der Ideologie der salafistischen Strömung ein chauvinistisches Gemeinschaftsdenken. Seit 2005 entstanden in Deutschland zahlreiche Initiativen, die sich in Anlehnung an salafistische Vordenker aus arabischen Ländern zu einem wortgetreuen Islamverständnis bekennen. Etwa 5000 Personen werden diesem Spektrum mittlerweile in Deutschland zugeordnet.
Die Erfahrung von Fremdheit wird hier zum Ausgangspunkt für eine teils aggressive Abgrenzung von der "unmoralischen" und "gottesfeindlichen" Umwelt. Die Umma erscheint dabei ausdrücklich als Gemeinschaft, die jedem Muslim unabhängig von ethnischer und sozialer Herkunft einen Platz als "Bruder" oder "Schwester" bereithalte. Auch hier gründet sich die Konstruktion der Gemeinschaft auf deutlich hierarchisierten Geschlechterrollen: "Heirate eine Frau, die sich um dich sorgt wie deine Mutter und auf dich hört, als wäre sie deine kleine Schwester", heißt es beispielsweise auf der Facebook-Seite der salafistischen Gruppe Ahlu-Sunna. Die Gemeinschaft bietet allerdings nicht nur Schutz vor Anfeindungen, sondern erscheint gleichsam als Erfüllung einer religiösen Weltsicht, nach welcher der Umma eine religiös-moralische Höherwertigkeit zugesprochen wird. Als "beste Gemeinschaft" komme der Umma die Aufgabe der Rechtleitung der Menschheit zu, weshalb das Bekenntnis zum Islam mit einer individuellen Pflicht zur Da'wa (Einladung zum Islam) einhergehe.
Dabei nimmt das Werben für den Islam, wie er von Vertretern dieser Strömung verstanden wird, vielfach gerade im Internet aggressive Formen an.
Präventive Ansätze
Der Wunsch nach Anerkennung von Religiosität und Migrationserfahrungen spiegelt sich in jugendkulturellen Ausdruckformen junger Migranten und Muslime. In den Islam- und Integrationsdebatten der vergangenen Jahre wurden die Vorbehalte deutlich, mit denen große Teile der Mehrheitsgesellschaft einer solchen Anerkennung gegenüberstehen. Am Beispiel dieser Debatte lässt sich die Wechselbeziehung von Selbst- und Fremdwahrnehmungen dokumentieren, wie in einer jüngst vom Bundesministerium des Innern veröffentlichten Studie deutlich wird.
Entsprechende Gesten sind auch für Jugendliche und deren Selbstverortungen von Bedeutung. Im Schulunterricht, aber auch in der Jugendarbeit im weiteren Sinne, bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, unterschiedliche Aspekte von Migrationsbiografien aufzugreifen und mit deutscher Geschichte und Gesellschaft in Bezug zu setzen. So ließen sich am Beispiel der Deutschen Einheit die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen herausarbeiten, mit denen die Schülerinnen und Schüler ein wichtiges Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte in Verbindung bringen. Dabei geht es keineswegs darum, eine vermeintliche Fremdheit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund herauszustellen. In der Diskussion um die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Vereinigungsprozesses lassen sich allgemein unterschiedliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen Veränderungen aufzeigen, wie sie durchaus auch von herkunftsdeutschen Jugendlichen gemacht werden.
Der selbstverständliche Umgang mit Pluralität und Diversität ist in dieser Hinsicht eine Möglichkeit, um auch Jugendliche mit Migrationshintergrund als "normalen" Teil der deutschen Gesellschaft anzusprechen. Schließlich ist das Versprechen von "Normalität" und "Selbstverständlichkeit" ein Faktor, der ethnozentrische Gemeinschaftsvorstellungen attraktiv macht.