Einleitung
Rechtsextremismus geht von der Ungleichwertigkeit der Menschen aus.
In den öffentlichen Diskussionen über Ursachen, Beweggründe und Motive der Rechtsterroristen und -terroristinnen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) wird oftmals auf ihre ostdeutsche Herkunft verwiesen, wie beispielsweise in einem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" (SZ), der die Ursachen der Neonazi-Morde auf die SED-Diktatur zurückführt: "Es ist kein Zufall, dass die braune Mörderbande aus dem Osten kommt: In den neuen Ländern ließ man rechtsextremistische Milieus blühen. (...) Die Spurensuche führt zu Tugenden, die schon die erste deutsche Diktatur zusammenhielten: Überhöhung der Gemeinschaft, Einordnung in autoritäre Denkmuster (...)."
Die Bevölkerung der ostdeutschen Bundesländer wird pauschal als demokratieunfähig, rechtsextrem und gewalttätig abgestempelt. Die dadurch erfahrene Demütigung und Entwertung der eigenen (Transformations-)Leistung kann reaktiv zur tatsächlichen Abwertung von Fremdgruppen führen: Die Wahrnehmung, aufgrund der Identität als Ost- oder Westdeutsche benachteiligt zu werden, wirkt sich begünstigend auf die Ausprägung rechtsextremer Einstellungen aus.
Es könnte der Trugschluss entstehen, Rechtsextremismus und andere Ungleichheitsideologien seien in Westdeutschland bedeutungslos. Dabei ist beispielsweise Antisemitismus in westdeutschen Bundesländern stärker ausgeprägt als im Osten. Auch existieren hier seit den 1970er Jahren gewalttätige Neonazigruppen. Deren prominentestes Beispiel, die "Wehrsportgruppe Hoffmann", wies Verbindungen zum rechtsextremen Attentäter auf, der 1980 zwölf Gäste des Münchner Oktoberfests und sich selbst mit einer Rohrbombe tötete und 200 weitere Menschen verletzte.
Begünstigende sozialstrukturelle Faktoren für den Rechtsextremismus werden in die Vergangenheit projiziert. Dies blendet aus, dass der demografische und ökonomische Wandel, der in der Abwanderung von Menschen und Arbeitsplätzen erfahrbar wird, neue Desintegrationspotenziale aktiviert. Auch Prekaritätserfahrungen im Zuge unsicherer Arbeitssituationen können in ausgrenzenden Integrationsvorstellungen und Stigmatisierung resultieren. Individuen können auf Kosten von Outsider-Gruppen (wie Ausländerinnen und Ausländer) die eigene soziale Desintegration verarbeiten und den Ausschluss etwa aus dem Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt durch eine "imaginäre Integration"
in die Gesellschaft durch Gruppenidentifikation anhand äußerer Merkmale (wie "Nation", "Rasse") kompensieren. Die politische Dimension der Morde als Bestandteil des von Rechtsextremen proklamierten "Racewar" wird verharmlost. Nach dem Vorbild des weltweiten "Blood & Honour"-Netzwerks und dessen militanten Arm "Combat 18" organisierte sich der NSU gemäß des Prinzips des "führerlosen Widerstands" und wirkte im Verborgenen. Trotz des Verbots stehen Musik, Symbole und Ideologie von "Blood & Honour" bei Rechtsextremen hierzulande hoch im Kurs.
Die Suche nach gesellschaftlichen Ursachen für die Taten des NSU wird stets beim politischen Bewusstsein der handelnden Neonazis enden. Weder sozialisationstheoretische noch situationsbezogene Erklärungsansätze liefern eine Begründung, warum aus der Mehrzahl von Jugendlichen mit ähnlichen Rahmenbedingungen keine Neonazis wurden. Wo politische Entscheidungs- und Handlungsspielräume darüber, wie eigene Erfahrungen, die eigene Sozialisation und spezifische Situationen verarbeitet werden, ignoriert werden, löst sich die reale politische Autonomie des Einzelnen zugunsten ungerechtfertigter Pauschalisierungen gegen Teile der Bevölkerung auf.
Rechtsextremismus im Osten
Tatsächlich ist rechtsextreme Gewalt in Ostdeutschland stärker virulent als in Westdeutschland: Übergriffe auf Ausländer und Ausländerinnen kommen etwa dreimal häufiger vor als im Westen. Bezogen auf die Bevölkerungszahl ist die Zahl gewalttätiger rechtsextremer Jugendlicher, Skinheads und Neonazis ebenfalls dreimal so hoch. Auch haben rechtsextreme Parteien seit Mitte der 1990er Jahre in einigen ostdeutschen Bundesländern Wahlerfolge vorweisen können. Doch bis Mitte der 1990er Jahre erzielten rechtsextreme Parteien in den westlichen Bundesländern bessere Wahlergebnisse als in den östlichen. Erst mit der Bundestagswahl 1998 verschob sich der Schwerpunkt gen Osten.
Die Konzentration des manifesten Rechtsextremismus spiegelt sich zum Teil in den politischen Orientierungen der Bevölkerung wider, insbesondere hinsichtlich fremdenfeindlicher Einstellungen. Die Aussage "Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet" erfährt in den östlichen Ländern 43,3 Prozent, in den westlichen 33,6 Prozent Zustimmung.
Die Bedeutung spezifischer, in der DDR vermittelter politischer Mentalitäten prägte die Sozialisation der Jugendgeneration, zu der auch die NSU-Mitglieder gehörten. Für die Generation der heute unter 25-Jährigen hat sie dagegen allenfalls durch die Vermittlung und Weitergabe von Erfahrungen und Werten der Elterngeneration Bedeutung. Dies bedeutet nicht, dass jene gesellschaftlichen Momente, die Rechtsextremismus als individuelle Bewältigungsstrategie begünstigen, ebenfalls verschwunden sind. "Wahrgenommene Desintegration, Deprivation und Anerkennungsprobleme bilden den Nährboden für eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, in deren Folge Angehörige schwacher Gruppen abgewertet und/oder in diskriminierender Weise behandelt werden."
Trotz der gleichgerichteten Trends ist die sozioökonomische Lage in Ostdeutschland weiterhin schlechter als im Westen und wird entsprechend bewertet: Die messbaren Differenzen im Nettogeldvermögen drücken sich in der Wahrnehmung misslungener Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit und der seit dem Beginn der 1990er Jahre steigenden Skepsis in eine absehbare Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland aus. Auch das Vertrauen in die Demokratie fällt in Ostdeutschland geringer aus als in Westdeutschland. Damit nimmt die Anfälligkeit gegenüber rechtspopulistischen Einstellungen zu. Ursachen könnten in den Umbuchserfahrungen der "friedlichen Revolution", aktuellen Benachteiligungs- und Ungerechtigkeitsgefühlen sowie der Wahrnehmung, Ostdeutsche seien "Bürger zweiter Klasse",
Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Rechtsextremismus in Ostdeutschland derzeit in seiner Qualität (Gewaltbereitschaft) und Quantität (Wählerpotenzial) bedrohlicher ist als im Westen der Bundesrepublik. Diese Analyse impliziert weder eine Entwarnung für die westlichen Bundesländer noch eine Ursachenbeschreibung. Um diese zu liefern, wird in der Regel die Genese der als spezifisch ostdeutsch identifizierten Mentalitäten betrachtet. Dabei handelt es sich um einen unzureichenden Zugang, schließlich gab und gibt es Rechtsextremismus ebenso wie Rechtspopulismus und -terrorismus auch in den westlichen Bundesländern.
Nach einer Mehrebenenanalyse rechtsextremer Einstellungen in unterschiedlichen sozioökonomischen Regionen Hessens und Thüringens
Distinktion und Raumpolitik
Der manifeste Rechtsextremismus stellt in Ostdeutschland in einem noch höheren Maße auch ein Jugendphänomen dar, als dies in westdeutschen Ländern der Fall ist. Zu beobachten ist ein "fundamentaler Wandel des Rechtsextremismus im Westen, nämlich eine Anpassung an die Verhältnisse in Ostdeutschland".
Jugendkulturen bieten adoleszenten Heranwachsenden einen Halt in ihrer Suche nach Anerkennung, Sinn, Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit.
Rechtsextreme Jugendcliquen und deren Drang zur jugendkulturellen Hegemonie sind in Großstädten beziehungsweise Stadtteilen präsent, finden sich aber vor allem in ländlichen Regionen, Dörfern und Kleinstädten. Manche sehen diese Schwerpunktbildung rechtsextremer Gesellungsformen auch in der sozialräumlichen Segmentierung mit ihren Auf- und Abwertungen von Kommunen und Stadtteilen begründet.
In Westdeutschland agieren rechtsextreme Jugendliche überwiegend in Nischen. Sie sind stärker mit konkurrierenden Sozialisationsinstanzen konfrontiert und werden in ihren Nischen entweder toleriert oder mit Gegenöffentlichkeit und Sanktionsdrohungen "eingehegt". In Ostdeutschland agieren sie dagegen vielfach "normal" in öffentlichen Handlungsräumen und erfahren Toleranz, Förderung und Unterstützung aus der Erwachsenengesellschaft. In solchen Regionen kann sich das rechtsextreme Potenzial bis hin zu gewalttätigem Verhalten entfalten.
Fazit
Der ostdeutsche Rechtsextremismus ist ebenso auch ein Erbe der DDR-Vergangenheit, wie der Rechtsextremismus in Westdeutschland ein Erbe der BRD-Geschichte ist. Dabei stehen die östlichen Bundesländer vor der Herausforderung, die neuen sozioökonomischen Verwerfungen bewältigen zu müssen, ohne die defizitäre wirtschaftliche Entwicklung gegenüber den westdeutschen Ländern je ausgeglichen zu haben. Die damit assoziierte Desintegration und Unsicherheit relevanter Teile der Bevölkerung befördert in den betroffenen Regionen eine höhere Organisations- und Aktionsdichte von Rechtsextremen, vor allem unter Jugendlichen.
Doch dass "Osten" nicht gleich "Osten" ist, zeigt ein Beispiel aus Thüringen: Bei den Landtagswahlen 2009 erhielt die NPD in den Wahlkreisen Saalfeld-Rudolstadt I und II jeweils über sechs Prozent der abgegebenen Stimmen - obwohl sie dort faktisch über keine eigenen Strukturen verfügt und öffentlich kaum präsent war. In der nur wenige Kilometer entfernten kreisfreien Stadt Jena, in der die NPD seit vielen Jahren aktiv ist, mit Großveranstaltungen auf sich aufmerksam machte und zeitweise Abgeordnete in den Ortschaftsrat entsenden konnte, erhielt sie nur knapp über ein Prozent der Stimmen. Beide Regionen unterscheiden sich hinsichtlich Sozialstruktur, Wirtschaftsstärke, politischer Kultur, kulturellem Angebot und demografischen Trends erheblich. Die Intensität des Angebots durch Rechtsextreme scheint weitaus geringere Bedeutung zu haben als derartige "weiche" Faktoren. Interregionale Vergleiche hinsichtlich der sozioökonomischen Struktur und der Stärke der extremen Rechten sind jenseits der Ost-West-Dichotomie kaum vorhanden, vor allem aufgrund fehlender Standards, die eine Gegenüberstellung ermöglichen.
Rechtsextreme Einstellungen existieren bundesweit in beunruhigend hohem Maße. Dabei sind mikroregionale Effekte und Unterschiede zu beobachten, die allgemeine Pauschalisierungen über "den Osten" und "den Westen" disqualifizieren. Der Ost-West-Vergleich täuscht vor allem über die Ursachen der beobachtbaren Differenzen hinweg. Zeitgemäß wäre es, die Diskussion über sozioökonomisch abdriftende und aufstrebende Regionen, räumlich-spezifizierte Gegenmaßnahmen und die demokratische Rückeroberung sozialer Interaktionsräume zu führen.