Einleitung
Seit 1918 ist das Frauenwahlrecht in Deutschland gesetzlich verankert. Heutzutage würde es als diskriminierend empfunden, wenn mehr als die Hälfte der erwachsenen Menschen aufgrund ihres Geschlechts nicht an Wahlen teilnehmen dürfte. Denn inzwischen herrscht (zumindest bei diesem Thema) die von der Frauenbewegung erkämpfte Gleichberechtigung. Der Gedanke, dass eine Differenzierung nach Geschlecht Ausschlusskriterium für die Wahlteilnahme ist, erscheint uns heutzutage absurd. Trotzdem gibt es noch viele Gruppen wie etwa nicht volljährige Personen oder in Deutschland lebende Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die das Recht auf Wahlbeteiligung nicht haben. Das heißt, Differenzierungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen (wie nach Alter oder Staatsangehörigkeit) werden als legitime Gründe für verschiedenartige Rechte (hier in Bezug auf Wahlen) herangezogen und sind mehr oder weniger gesellschaftlicher Konsens. Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit der theoretischen und empirischen Analyse von Beziehungen zwischen sozialen Gruppen. Sie versucht zu beschreiben und zu erklären, welchen Einfluss die Mitgliedschaft in sozialen Gruppen auf das individuelle Erleben und Verhalten haben kann. Das wirft die Frage auf, welchen Beitrag die auf die Untersuchung einzelner Personen fokussierte Sozialpsychologie zum Verständnis von Vorurteilen, Differenzierung und Diskriminierung beitragen kann.
Eine (soziale) Gruppe ist im sozialpsychologischen Verständnis eine Ansammlung von Individuen, die sich selbst als Mitglieder derselben sozialen Kategorie wahrnehmen, ein bestimmtes Maß an emotionaler Bindung an diese Kategorie aufweisen und einen gewissen sozialen Konsens über die Beurteilung und ihre Mitgliedschaft in dieser Gruppe aufweisen.
Der Prozess der Zuordnung einzelner Objekte zu Objektklassen wird als Kategorisieren bezeichnet. Unsere Umwelt ist komplex und vielfältig. Um trotzdem innerhalb kürzester Zeit handlungsfähig zu sein, müssen wir die uns umgebenden Dinge und Personen schnell einordnen. Es ist daher sowohl funktional als auch unvermeidlich, sich ähnelnde Objekte Gruppen zuzuordnen. Menschen kategorisieren sowohl bei Gegenständen (wie Tisch und Stuhl sind Möbel, Trabant und Mercedes sind Autos) als auch bei "sozialen Objekten" (wie Jenaer und Erfurter sind Thüringer, Joggerinnen und Tischtennisspieler sind Sportler). Unumgänglich ist dieses "Schubladendenken" aufgrund der beschränkten kognitiven Kapazitäten: Das Gehirn kann nicht jeden einzelnen Umweltreiz individuell wahrnehmen.
Stereotype, Vorurteile, Diskriminierung
Stereotype
sind positive und negative Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mit bestimmten sozialen Kategorien oder Gruppen assoziiert werden. Sie können fremde soziale Gruppen ("Die Franzosen sind besonders romantisch") oder die eigene Gruppe ("Die Deutschen sind besonders gehorsam") betreffen. Sie sind automatisch, auch wenn sie häufig unzutreffend sind. Meist herrscht ein gewisser sozialer Konsens darüber, welche Eigenschaften mit welchen Gruppen assoziiert werden. Doch das Wissen darüber bedeutet nicht, dass die Stereotype auch wahr sind, wie eine über 49 verschiedene Kulturen angelegte Studie zeigte.
Vorurteile
sind herabsetzende Einstellungen gegenüber sozialen Gruppen oder ihren Mitgliedern, die auf wirklichen oder zugeschriebenen Merkmalen von Mitgliedern dieser Gruppen beruhen. Sie treten zwischen (sozialen) Gruppen auf, umfassen eine (positive oder negative) Bewertung einer Gruppe, stellen eine verzerrte Wahrnehmung einer Gruppe dar und basieren auf wirklichen oder vorgestellten Gruppenmerkmalen.
Diese Aspekte können auch unabhängig voneinander auftreten. So ist es denkbar, dass Menschen zwar vorurteilsvoll über eine bestimmte Gruppe denken und fühlen, aber trotzdem nicht so handeln. Im Alltag lassen sich verschiedene Arten von Vorurteilen beobachten. Die häufigsten finden sich gegenüber sozialen Gruppen, die anhand von Hautfarbe, Herkunft, Alter, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung, politischer Orientierung oder sozialer Schicht definiert sind. Beispiele für verschiedene Arten weit verbreiteter Vorurteile (und die entsprechenden Zielgruppen) sind: Rassismus (andere Ethnien), Xenophobie (Fremde generell), Antisemitismus (Juden), Anti-Islamismus oder Islamophobie (Muslime), Sexismus (Frauen) oder Homophobie (Homosexuelle). Aber auch Blondinen, "Hartz-IV"-Empfänger, Psychologen, Politikerinnen oder auch Banker unterliegen häufig bestimmten Vorurteilen.
An sich sind Stereotype und Vorurteile kein Problem. Denn jeder darf denken und fühlen, was er oder sie möchte, auch wenn diese Bewertungen oder Empfindungen häufig nichts mit der spezifischen Person, die einem gegenübersteht, zu tun haben. Problematisch ist allerdings, dass negative Einstellungen auch die Grundlage für negatives Intergruppen-Verhalten bilden können: Sie können zu Abwertung und Diskriminierung von anderen Menschen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen führen. So weist eine Untersuchung der Einstellung von Lehrpersonal darauf hin,
Diskriminierung
ist, wenn Individuen oder Gruppen eine Gleichbehandlung, die sie sich wünschen, verwehrt wird. Die (unvermeidliche) soziale Kategorisierung ist Voraussetzung für Diskriminierung; sie liegt aber erst vor, wenn auch der Wunsch nach Gleichbehandlung verletzt wird: Ohne diesen Wunsch nach Gleichbehandlung wäre intergruppales Verhalten (Verhalten aufgrund von Gruppenmitgliedschaften) zwar differenzierend, aber nicht diskriminierend.
Ursachen von Vorurteilen und Diskriminierung
Unter welchen Bedingungen gestalten sich die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen harmonisch, wann konflikthaft? Nach der Realistischen Konflikttheorie
Daran anknüpfend bietet die Integrierte Bedrohungstheorie
Der Soziale Identitätsansatz
1. Soziale Kategorisierungen ordnen einen selbst und die Mitmenschen bestimmten sozialen Gruppen zu. Bei derartigen Kategorisierungsprozessen werden Unterschiede in der eigenen Gruppe als gering und Unterschiede zu fremden Gruppen als stark wahrgenommen. Selbstkategorisierung als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe kann zu "De-Personalisierung" führen, wodurch das Verhalten nicht mehr durch individuelle Normen und Werte, sondern vor allem durch Normen und Werte der Gruppe geleitet wird.
2. Aus der Gesamtheit der eigenen Gruppenmitgliedschaften ergibt sich die soziale Identität, die einen wichtigen Teil des Selbstkonzepts ausmacht. Aufbauend auf den vielen möglichen sozialen Kategorisierungen ist soziale Identität "der Teil unseres Selbstbilds, der sich aus unseren Mitgliedschaften in verschiedenen sozialen Gruppen speist, sowie die Bewertungen und Emotionen, die damit verknüpft sind",
3. Menschen streben nach Informationen über sich selbst und ihre soziale Identität und führen deshalb soziale Vergleiche zwischen ihrer eigenen und anderen Gruppen durch. Da die soziale Identität ein wichtiger Bestandteil des Selbstkonzepts ist, haben Menschen generell das Bedürfnis nach einer positiven sozialen Identität. Deshalb wird eine positive Distinktheit (ein besseres Abschneiden der eigenen Gruppe im Vergleich zu fremden Gruppen) angestrebt. Demnach ist die Qualität der Intergruppenbeziehungen, die sich in Vorurteilen und Diskriminierung äußern kann, vor allem durch die wahrgenommenen Statusbeziehungen zwischen den jeweils subjektiv wichtigen, sozialen Gruppen bestimmt. Dabei sind generell positive und negative Vergleichsergebnisse möglich, die den Gruppenmitgliedern entsprechende Informationen zur Bewertung der eigenen sozialen Identität und damit für deren Selbstkonzept liefern.
4. Falls diese sozialen Vergleiche zu negativen Ergebnissen führen, können verschiedene Strategien zur Verbesserung der eigenen sozialen Identität eingeschlagen werden. In Abhängigkeit von den Kontextbedingungen (Gruppenstatus, Stabilität und Legitimität der Gruppenunterschiede, Möglichkeiten des Gruppenwechsels) ist eine erste Strategie die der individuellen Mobilität durch Wechsel zur statushöheren Gruppe. So sind beispielsweise viele Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR seit 1989 in den Westen Deutschlands umgesiedelt. Ursache ist nicht nur, dass sie sich dort bessere Bedingungen für ihr persönliches Fortkommen erhofften, sondern vielleicht auch eine positivere soziale Identität als "Bundesbürger" statt als gefühlte "Deutsche zweiter Klasse". Eine zweite mögliche Strategie ist die des kollektiven sozialen Wandels, wobei durch sozialen Wettbewerb eine Angleichung oder Umkehrung der Statusbeziehung angestrebt wird. Beispiele sind die Frauen-, Schwulen- oder Lesbenbewegungen, die für Gleichberechtigung gekämpft haben und Erfolge im Kampf gegen Vorurteile und Diskriminierung verzeichnen konnten. Das Gegenstück sind Versuche der Zementierung des (ungleichen) Status quo durch statushöhere Gruppen, die sich in Vorurteilen und Diskriminierung von Mitgliedern statusniederer Gruppen äußern können.
Neben diesen Versuchen, den Gruppenstatus zu ändern, gibt es auch verschiedene Möglichkeiten der kognitiven Umdeutung der Situation durch Veränderung der Vergleichsparameter. So kann man eine neue Vergleichsdimension finden ("Wir Raucher mögen ja nicht so sportlich sein wie die Nichtraucher, aber dafür sind wir viel sozialer"), die Vergleichsdimension durch Umkehrung der Bewertungsrichtung neu interpretieren ("Sportlich ist wer raucht und trinkt, und trotzdem seine Leistung bringt") oder eine neue Vergleichsgruppe finden, die einen sozialen Vergleich "nach unten" ermöglicht ("Im Vergleich zu Alkoholsüchtigen sind wir Raucher doch eigentlich ziemlich sportlich").
Ausblick
Menschen ordnen sich je nach Situation bestimmten sozialen Kategorien zu. Diese Selbstkategorisierung bildet die Grundlage der sozialen Identität. Weil es dem Selbstwert dienlich ist, wird versucht, positive Distinktheit der eigenen Gruppe herzustellen. Je nach Kontext ergeben sich verschiedene Handlungsstrategien zur Erreichung einer zufriedenstellenden sozialen Identität. Unter wahrgenommener Bedrohung der eigenen sozialen Identität (wie durch Zielkonflikte, realistische und symbolische Bedrohungen, negativen Gruppenstatus) können verschiedene Mechanismen und Handlungsstrategien zu negativen Einstellungen gegenüber einzelnen Mitgliedern anderer Gruppen führen.
Bislang ist es verschiedenen sozialen Gruppen gelungen, gesellschaftliche Diskurse über ihre Ungleichbehandlung mit zu bestimmen und sich gleiche Rechte und gleichberechtigt(er)en Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen zu erkämpfen. Andererseits gibt es auch heute noch (für Frauen, aber auch andere soziale Gruppen wie Migranten, Menschen mit Behinderungen, Ältere) viele diskriminierende Ungleichbehandlungen. Deshalb gilt es für die Betroffenen (und alle an Gleichberechtigung Interessierten), die Unangemessenheit der Diskriminierung ihrer Gruppen zu thematisieren, um einen sozialen Wandel hin zu einer Welt ohne unfaire Ungleichbehandlungen aufgrund von Gruppenmitgliedschaften zu ermöglichen.