Einleitung
Nach den Anfängen des modernen Rassismus befragt, verweist die Rassismusforschung auf zwei "Geburtsstunden": Auf der einen Seite stehen die Vertreterinnen und Vertreter der Theorie, dass sich Rassismus mit der Herausbildung von Nationalstaaten entwickelt habe.
Bereits während des Nationalsozialismus wurde von den Vertretern der "Frankfurter Schule" auch das kapitalistische Wirtschaftssystem ins Zentrum der rassismuskritischen Analyse gerückt. Allerdings sind Nationalstaatenbildung, Wissenschaft und Wirtschaftssystem nicht historisch abtrennbare oder aufeinander aufbauende Phänomene, die nacheinander rassistische Einstellungen, Strukturen und Gewaltverhältnisse legitimiert haben und weiterhin legitimieren. Vielmehr sind sie bis heute miteinander verwoben, und ihnen kommt zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Entfaltungs- und Wirkmächtigkeit zu.
Nationalstaatenbildung
Durch die Heirat von Isabella la Catolica von Kastilien und Fernando von Aragon bildete sich Ende des 15. Jahrhunderts aus verschiedenen Königreichen und Fürstentümern der spanische Nationalstaat. Dieser wurde nicht nur als eine territoriale Einheit gesehen, sondern beruhte auch auf der Vorstellung der sprachlichen und religiösen Einheit, die im Staatskirchentum und in der Herausgabe der ersten kastilischen Grammatik ihren Niederschlag fand. Die religiöse Einheit vertrug sich nach Auffassung der Krone nicht mit der Präsenz von Juden und Muslimen im Land, deswegen wurden die Juden zur Konversion getrieben oder des Landes verwiesen und die Muslime nach Jahrhunderten der friedlichen Koexistenz in den maurischen Gebieten (Al Andaluz) durch die "Reconquista", die Rückeroberung der maurischen Gebiete, erst besiegt, dann vertrieben.
Nach und nach entwickelte sich Ende des 15. Jahrhunderts aus einem christlichen Antijudaismus ein rassistischer Antisemitismus. Jüdinnen und Juden sowie (gezwungenermaßen) zum Christentum Konvertierte überflügelten den ländlichen und verarmenden Adel und die sich entwickelnde städtisch-bürgerliche Bevölkerung in Bezug auf Bildung und wirtschaftliche Prosperität. Die zunächst christlich begründete Intoleranz wurde durch den aufkommenden Sozialneid um biologistische Erklärungen erweitert, denn Bildung und wirtschaftliche Prosperität ließen sich nicht mit der religiös-kulturellen Andersartigkeit erklären, schon gar nicht bei zum Christentum Konvertierten. Das "Argument", das nun gefunden wurde, gibt den Blick frei auf die rassistische Konnotation des Antisemitismus: Es liege im "jüdischen Blut", dass sie so habgierig seien, und ihr Aufstreben richte sich gegen die, die "reinen Blutes" seien. Die Ideologie der "limpieza de sangre", der "Blutsreinheit", ist die erste rassistisch argumentierende Ideologie - wenn auch (noch) nicht wissenschaftlich "fundiert".
Die nationalstaatliche Einigung ging mit der Vertreibung von "Nicht-Dazugehörigen", "fremden" Menschen einher. Damit wurde zum ersten Mal in der europäischen Geschichte das zentrale Phänomen des modernen Rassismus sichtbar: die Konstruktion und Definition des Eigenen und des Fremden sowie die mit dieser Unterscheidung einhergehende Herabwürdigung des Anderen und die Definition einer angeblichen Überlegenheit des Eigenen. Diese Dichotomisierung der Gesellschaft in das Eigene und das Fremde, das "Wir" und das "Sie", und die damit einhergehende positive beziehungsweise negative Bewertung führten zu einer gesellschaftlichen und strukturellen Legitimation von Diskriminierung, Ausbeutung und Ausrottung der Anderen. Das ist Rassismus.
Die gewaltvolle Nationalstaatenbildung Spaniens ist ein besonders drastisches Beispiel der mit diesem Prozess einhergehenden Inklusion des Eigenen und der Exklusion des Fremden, die sich nicht zwangsläufig derartig brutal gestalten muss. Prozesse der Nationalstaatenbildung verlaufen sehr unterschiedlich, aber ein gemeinsames Moment liegt in der beschriebenen Dichotomisierung. Diese Dichotomisierung strukturiert die Gesellschaft und schafft Sicherheit: "Die Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind."
Bedeutung der Wissenschaften
Am Ende des Mittelalters, zur Zeit der Eroberung Lateinamerikas und der nationalstaatlichen Einigung Spaniens, gibt es noch keine "Rassentheorie". Erst ab dem 18. Jahrhundert werden systematisch und angeblich wissenschaftlich untermauerte Theorien über die vermeintlich verschiedenen "Menschenrassen" entwickelt und damit Ausgrenzung, Diskriminierung und Mord legitimiert.
Im 18. Jahrhundert gewannen Anthropologie, Biologie und Medizin an Einfluss - Wissenschaften, die unter anderem der Frage nach der unterschiedlichen Entwicklung der Menschen nachgehen. Ausgehend von aufklärerischem Gedankengut wurde die Herkunft aller Menschen als Geschöpfe Gottes (Monogenese) infrage gestellt. Kirchenkritische Denker rückten von der Monogenese ab und versuchten, die Lehre von der göttlichen Schöpfung des Menschen zu widerlegen. Diese kirchenkritischen Geister gingen aus der Gegnerschaft zur christlichen Lehre hervor und arbeiteten zugleich rassistischen Auffassungen zu, denn die Lehre der Polygenese, der verschiedenen Herkünfte der Menschen, diente beispielsweise in den angelsächsischen Ländern zur Rechtfertigung der Sklaverei in den Kolonien.
Neben diesen naturwissenschaftlichen Untersuchungen und Festlegungen bildeten sich im 18. und 19. Jahrhundert auch philosophisch untermauerte "Rassentheorien" heraus. Als wichtige Wegbereiter der rassistischen Theorienbildung seien exemplarisch Arthur de Gobineau (1816-1882) sowie Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) genannt. Arthur de Gobineau interpretierte innergesellschaftliche soziale Differenzen als "Rassenunterschiede". Er sah die Vermischung der verschiedenen Ethnien als Ursache für den Untergang der Zivilisation, da sie die einzelnen "Rassen" unfähig zur Bewältigung des Lebenskampfes mache. Gobineau ethnisierte auch die ständische Ordnung: Die "weiße Rasse" entspreche dem Adel, die "gelbe" dem des Handel treibenden bürgerlichen Standes, und das dienende Volk sei "schwarz".
Im Unterschied zu Gobineau ging Chamberlain über rassistische Einteilungen, Differenzen und Bewertungen hinaus und machte die Möglichkeit der Züchtung "reiner Rassen" zum Thema. Er differenzierte zwei sich antagonistisch gegenüberstehende "Rassen", nämlich die germanisch-teutonische und die jüdische "Gegenrasse". Damit wurde er zum Begründer einer radikalen "Rassenideologie", die vor allem deutlich antisemitisch ausgerichtet war, und er beeinflusste den nationalsozialistischen Antisemitismus nachhaltig.
Der Nationalsozialismus erhebt die "Rassenideologie" zur Staatsdoktrin und führt diese in all ihren Konsequenzen aus. Seine Einzigartigkeit besteht nicht nur in der Anzahl seiner Opfer, sondern auch in der technokratischen und technologischen Perfektion sowie in der Systematik, die kaum ein Entkommen ermöglichte.
Verflechtung von Rassismus und Neoliberalismus
Mit dem Ende des Nationalsozialismus beziehungsweise der Schoah erschien es in Deutschland über Jahre hinweg nicht mehr möglich, sich argumentativ auf den biologistischen Rassismus zu beziehen - wenn man denn ernst genommen werde wollte. Biologistische Argumentationsmuster gehörten der Geschichte an oder wurden den Rechtsextremen zugeordnet. Zugleich aber zeigt die symbolische und reale Gewalt beispielsweise gegenüber Schwarzen Deutschen, dass der biologistische Rassismus nicht an Wirkmächtigkeit verloren hat - er funktioniert, ohne artikuliert zu werden. Der biologistische Rassismus wurde in den vergangenen Jahrzehnten also kaum noch argumentativ gebraucht, wirkungsvoller - und subtiler - wirkte hingegen der aktualisierte kulturalistisch argumentierende Rassismus.
Ähnlich wie der biologistische Rassismus rekurriert auch der Kulturalismus auf "mythische Normen", wie die amerikanische Philosophin und Lyrikerin Audre Lorde problematisiert hat.
Die Grundlagen des kulturellen Rassismus sind also Homogenitäts- und Normalitätsvorstellungen. Das Phantasma der (biologischen und kulturellen) Homogenität der Volksgemeinschaft ist durch den Nationalsozialismus diskreditiert und wird durch Globalisierungsprozesse und Migrationsphänomene ad absurdum geführt.
Dennoch bleibt die Imagination von Homogenität und Normalität eine scharfe Waffe zur Diskreditierung des jeweils nicht Genehmen und zur Stabilisierung der die Normalitätsansprüche vertretenden Eliten. Ein Beispiel hierfür ist die Leitkulturdebatte: Zu einer breiten öffentlichen Diskussion über diesen Begriff kam es ab Herbst 2000, als vor allem im Zusammenhang mit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes eine Debatte über "deutsche Leitkultur" gefordert wurde. So wurde unter anderem verlangt, Zuwanderer müssten die "deutsche Leitkultur" respektieren; sie hätten einen eigenen Integrationsbeitrag zu leisten, indem sie sich an die in Deutschland gewachsenen kulturellen Grundvorstellungen annäherten. Darüber hinaus wurde es für notwendig erklärt, die Einwanderungszahl auf etwa 200.000 Menschen zu beschränken. Zur Begründung wurde die begrenzte "Integrationsfähigkeit" der einheimischen Bevölkerung angeführt.
Im Jahre 2010 erreichte der gesellschaftliche Diskurs um Migration und Integration eine neue Qualität. Nicht nur, dass jetzt wieder die längst überwunden geglaubten biologistischen Argumente ins Feld geführt wurden. Vielmehr wurden diese Argumente - die Rede war beispielsweise vom "jüdischen Gen" - mit neoliberalen Denkweisen vermischt.
Der Sozialwissenschaftler Roland Roth verwies bei einer Tagung im Herbst 2010
Vorstellungen einer "Leitkultur" und biologistisch-neoliberale Thesen zur ethnisch-nationalen Nicht-Dazugehörigkeit und wirtschaftspolitischen Nichtverwertbarkeit können als rassistische Wissensbestände unserer Gesellschaft gewertet werden: "Dies bedeutet, dass Rassismus als Strukturierungsgröße gesellschaftlicher Realität gewissermaßen uns alle betrifft. Das ist die Alltäglichkeit des Rassismus. Wir alle sind in einer Gesellschaft, die zwischen legitim natio-ethno-kulturell Zugehörigen und legitim nicht Zugehörigen unterscheidet (...). Wir alle machen unsere Erfahrungen in diesem System, entwickeln psychosoziale Dispositionen, abhängig von unserer Position im System rassistischer Unterscheidungen. Wir sind also - biographisch gesehen - natio-ethno-kulturell legitim und fraglos Zugehörige oder weniger legitim, prekär Zugehörige. Und diese Zugehörigkeitserfahrungen in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft haben nicht allein etwas mit Teilhabemöglichkeiten zu tun, sondern sind Erfahrungen, die sich in die Körper einschreiben. Es sind Erfahrungen, die die Grenzen zum Leib gewissermaßen überschreiten und dadurch zu einem Habitus werden."
Die Auswirkungen rassistischer Normalität auf das Individuum, die rassistische Subjektivierung,
Dieser Befund ist nicht neu: Der Gesellschaftstheoretiker Max Horkheimer hat bereits 1939 geschrieben: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen."