Einleitung
Es ist kaum möglich, die Idee der Gleichheit seit ihren Anfängen in der Antike bis heute im knappen Rahmen dieses Beitrags nachzuzeichnen - selbst wenn diese Erzählung kurz sein sollte. Im Folgenden konzentriere ich mich auf einige zentrale Entwicklungs- und Wandlungslinien dieser Idee in der Moderne, wobei ich auch auf historische Vorboten ihrer Transformationen in der Gegenwart hinweise. Die Transformationen der Idee der Gleichheit sind zum einen die Ablösung der vormodernen herkunftsbasierten sozialen und politischen Ungleichheiten durch das Prinzip der Meritokratie (Gleichbehandlung der Einzelnen nach ihrer jeweiligen Leistung) und zum anderen die Entstehung und die Durchsetzung des Prinzips, dass jeder Mensch über die gleichen Grundrechte verfügt. Beide Prinzipien sind zwar Meilensteine in der Entwicklung und der politischen Durchsetzung der Idee der Gleichheit; allerdings wächst die Gleichheitsidee heutzutage über die beiden Prinzipien hinaus. Deshalb bedürfen sie Modifikationen und Ergänzungen.
Ermöglichung und Einschränkung von Gleichheit
Eine der wichtigsten Errungenschaften der Moderne ist die Zurückweisung der Vorstellung, wonach die Stellung des einzelnen Menschen in der Gesellschaft bereits im Moment seiner Geburt und durch seine Herkunft vordefiniert ist. Herrschte noch bis zum 18. Jahrhundert die breite Akzeptanz von "naturgegebenen" Ungleichheiten zwischen den Angehörigen des Adels oder der Aristokratie einerseits und der "einfachen" Bevölkerung andererseits - Ungleichheiten, die man als Abbildungen einer von Gott geschaffenen Weltordnung verstand
Der Aufklärer Immanuel Kant stellte die Behauptung auf, dass die Keime der Vernunft in allen gleichermaßen vorhanden sind. Demnach ist jeder Mensch zur Mündigkeit und Autonomie fähig, und jeder kann sich bei richtiger Erziehung zu einem Weltbürger entwickeln, der allen anderen gleichgestellt ist. Nach Kant können sämtliche Menschen dieses Potenzial nur wegen ihrer Faulheit und Feigheit nicht realisieren.
Dies ist die Geburtsstunde der Meritokratie als übergreifendes Ordnungs- und Moralprinzip moderner Gesellschaften. Nach diesem Prinzip soll allein die Leistung eines Menschen über seine Stellung in der Gesellschaft entscheiden - und nicht seine Herkunft, seine Verwandtschaftsverflechtungen, seine Beziehungen oder sein Aussehen. Kantisch ausgedrückt soll die gesellschaftliche über- oder untergeordnete Position der Einzelnen ausschließlich davon abhängen, inwiefern sie ihre Faulheit und Feigheit überwunden und ihre Vernunftfähigkeit verwirklicht haben.
Ohne Zweifel ist dieses Prinzip ein immenser sozialer, politischer und moralischer Fortschritt im Vergleich zur älteren Verteilung von Gütern, Positionen und Zugangschancen nach der Herkunft und den (Verwandtschafts-) Beziehungen. Menschen werden zu Schmieden ihres eigenen Schicksals erklärt, die sich durch Fleiß und Lernen "hocharbeiten" können. Zum einen muss dies ganz offensichtlich zu einer bislang unbekannten wirtschaftlichen Dynamik führen, da die Leistungsbereitschaft der Beteiligten im Produktionsprozess stark zunimmt und Schlüsselpositionen in diesem Prozess tendenziell mit Vertretern der "Leistungseliten" besetzt werden. Zum anderen scheint das Leistungsprinzip bei der Verteilung von Gütern und Positionen im Einklang mit dem aufklärerisch-fortschrittlichen Gedanken der Selbstbestimmung (und Selbstverantwortung) des Einzelnen zu stehen.
Indes beschränkt sich das Wirkungsgebiet des meritokratischen Prinzips nicht auf die Wirtschaft. Vielmehr findet dieses Prinzip in sämtlichen Teilbereichen der modernen Gesellschaften Anwendung. So behauptet etwa der Bildungssoziologe Helmut Fend, dass die leistungsgerechte Allokation von Schülerinnen und Schülern, ihre Verteilung auf verschiedene Berufs- und Qualifikationswege, zu den zentralen Funktionen des modernen Schulsystems gehört. Die Erfüllung dieser Funktion setzt voraus, dass auch Kinder und Jugendliche diejenigen Zeugnisse und damit Zugangschancen zu verschiedenen gesellschaftlichen Positionen erhalten sollen, die sie sich durch ihre Leistungen in der Schule verdient haben.
Freilich findet bei dieser Übertragung des Leistungsprinzips auf nicht-ökonomische Bereiche - etwa auf das Bildungssystem - seine Abkopplung von der aufklärerischen Idee der Selbstbestimmungsfähigkeit jedes Einzelnen statt: eine Idee, die als Behauptung der grundlegenden, "transzendentalen" Gleichheit aller Menschen und als Legitimation derjenigen empirischen Ungleichheiten zwischen ihnen fungiert, welche vor dem Hintergrund dieser Idee als "selbstverdient" oder "selbstverschuldet" ausgelegt werden können. Denn Kinder und schulpflichtige Jugendliche dürfen per definitionem nicht als mündig und selbstbestimmt handelnd angesehen werden: Die Aufgabe des Schulbildungssystems besteht ja gerade darin, ihre Mündigkeit, ihre Selbstbestimmungs- und Leistungsfähigkeit erst einmal zu kultivieren. Daraus folgt letztlich, dass die Herstellung von Ungleichheiten zwischen unmündigen Kindern und Jugendlichen nach ihren jeweiligen Leistungen in und durch das Schulbildungssystem als nicht gerechtfertigt gewertet werden muss.
Diese Schlussfolgerung wird von vielen Theoretikern der Gerechtigkeit nahegelegt, die direkt oder indirekt für eine Erweiterung der Gleichheitsidee über das Gebot der Herkunftsunabhängigkeit der Verteilung von Gütern und Positionen hinaus plädieren. So insistiert Ronald Dworkin darauf, dass die Besser- oder Schlechterstellung der Einzelnen in der gesellschaftlichen Hierarchie nur dann gerechtfertigt ist, wenn diese Besser- oder Schlechterstellung auf Handlungen und Wahlentscheidungen zurückgeführt werden kann, für welche die Einzelnen vernünftigerweise als eigenverantwortlich gehalten werden können.
Hinzu kommt, dass die Leistungsfähigkeit und vor allem die Leistungsmotivation, insgesamt die "Begabungen", stark vom familiären Umfeld und von der familiären Erziehung und Sozialisation des einzelnen Kindes abhängen. Dies übersehen diejenigen Autoren im heutigen bildungspolitischen Diskurs, die für eine Umstellung von herkunftsbasierten auf leistungsbasierte Selektions- und Allokationsentscheidungen plädieren und in diesem Zusammenhang von "Begabungsgerechtigkeit" sprechen.
Daraus folgt, dass eine zeitgenössische, umfassende Idee der Gleichheit auch eine Entwicklungs- beziehungsweise Bildungsdimension enthalten muss. Diese Idee lässt sich wie folgt zusammenfassen: Grundsätzlich soll jedem menschlichen Individuum unterstellt werden, dass er oder sie bei günstigen sozialen Verhältnissen Fähigkeitspotenziale ausbilden kann, deren Verwirklichung ihr oder ihm erlauben würden, ein autonomes und selbstbestimmtes Leben als vollwertiges und allen anderen gleichgestelltes Mitglied der Gesellschaft zu führen. Denn nur durch diese vorgreifende Anerkennung der Bildungsfähigkeit des Einzelnen kann er oder sie die eigenen Potenziale ausbilden und verwirklichen. Diese Anerkennung soll sich egalitär auf alle heranwachsenden und erwachsenen Individuen beziehen - unabhängig von ihren aktuell gezeigten Leistungen und von den "Begabungen", die man ihnen unterstellt.
Nun drängt sich die Frage auf, wie die oben erwähnten "günstigen sozialen Verhältnisse" genauer zu beschreiben sind, die eine möglichst hohe Ausbildung und Verwirklichung der Fähigkeitspotenziale jedes Einzelnen ermöglichen und seine Autonomie und aktive gesellschaftliche Partizipation - und somit seine effektive Gleichstellung in der Gemeinschaft der mündigen Bürgerinnen und Bürger - gewährleisten.
Eine naheliegende Antwort ist, dass sich soziale Verhältnisse, welche die Autonomieentwicklung aller Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen ermöglichen, durch die Gewährung der Grundrechte aller Menschen auf freie Entfaltung, Nichtdiskriminierung und Bildung auszeichnen. Wie jedoch im Folgenden aufgezeigt wird, ist diese Gewährung von Grundrechten eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Verwirklichung des Prinzips der egalitären Autonomieermöglichung bei jedem Gesellschaftsmitglied: ein Prinzip, das den "nach-meritokratischen" Entwicklungsstand der Gleichheitsidee am ehesten verkörpert.
Rechte-Egalitarismus als Voraussetzung von Gleichheit
Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren und mit Vernunft und Gewissen begabt sind.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird die ursprüngliche Gleichheit der Menschen mit ihrer Würde und Freiheit begründet, die sich wiederum in ihrer grundsätzlichen Fähigkeit zur vernünftigen Autonomie ausdrücken. Dabei muss man allerdings zwischen einer negativen Gewährleistung der Möglichkeit dieser Autonomie einerseits und einer positiven und aktiven Unterstützung ihrer Entfaltung durch die gesellschaftlichen Institutionen andererseits unterscheiden. Diese Unterscheidung überschneidet sich indes nur teilweise mit der bekannten Differenzierung zwischen politischen und sozialen Menschenrechten beziehungsweise zwischen Rechten der "ersten" und der "zweiten" Generation.
Das Prinzip der egalitären Autonomieermöglichung geht freilich auch über die Gewährung der positiven Rechte hinaus. So umfasst die Behauptung eines Rechts auf Arbeit noch keine Differenzierung zwischen Arbeitsformen, die autonomiestiftend sind und solchen, die eher stumpf und entwicklungshemmend in Bezug auf das Individuum sind. Ebenso wenig sagt die bloße Behauptung eines Menschenrechts auf Bildung etwas über die Standards aus, die Bildungsinstitutionen erreichen müssen, damit sie das erwähnte Prinzip der egalitären Autonomieermöglichung umsetzen können.
Vor diesem Hintergrund sind bestimmte pädagogische Handlungsweisen und institutionelle Regelungen im Bildungssystem (wie Selektion und Allokation im Kindesalter), die dazu führen, dass Kinder und Jugendliche in Begabungs- und Leistungsfähigkeitsschubladen aufgeteilt werden, nicht mit dem Prinzip der egalitären Autonomieermöglichung vereinbar. Vielmehr erfordert die Verwirklichung dieses Prinzips über die Gewährung von politischen und sozialen Rechten hinaus die Existenz einer Lebensform, in der jeder Mensch als uneingeschränkt bildungsfähig, als uneingeschränkt entwicklungsfähig in seinem Autonomiepotenzial anerkannt wird: eine Anerkennung, die sich sowohl auf den Bereich der Schul- und Weiterbildung als auch auf die Bereiche des Arbeitslebens und der politischen Partizipation der Bürgerinnen und Bürger bezieht. Diese Lebensform wird von der Maxime geprägt, dass alle Menschen gleich sind, weil sie gleichermaßen über diese uneingeschränkte Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit verfügen.
Bildungs- und Autonomieentwicklungsfähigkeit
Die Durchsetzung der Meritokratie als Verteilungsschüssel für Güter und Positionen ist als ein großer historischer Fortschritt im Vergleich zu den vormodernen "naturgegebenen" gesellschaftlichen Hierarchien zu werten. Das meritokratische Prinzip enthält insofern eine substanzielle Dimension von Gleichheit, als hier grundsätzlich allen Menschen Eigenverantwortung für ihr Schicksal zugeschrieben wird. Dabei scheint Eigenverantwortung zunächst verwandt zu sein mit der aufklärerischen Vorstellung, dass alle Menschen gleichermaßen zur vernünftigen Autonomie und Selbstbestimmung fähig sind - eine Vorstellung, die ihren rechtlich-politischen Ausdruck unter anderem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte findet.
Beim näheren Hinsehen stellt sich allerdings heraus, dass eine Verabsolutierung und Übertragung des meritokratischen Prinzips auf nicht-ökonomische Bereiche (wie etwa auf das Bildungssystem) das Gebot der Gleichheit untergraben kann. Denn hier führt eine ausschließliche Orientierung an diesem Prinzip zur Stigmatisierung von vielen heranwachsenden Individuen, die mehrheitlich bereits herkunftsbenachteiligt sind, als "begrenzt leistungsfähig" oder "wenig begabt": eine Stigmatisierung, die das Bildungs- und das Autonomiepotenzial der Betroffenen untergräbt. Daher erfordert die Verwirklichung des Gebots der Gleichheit eine über das meritokratische Prinzip und über die Gewährung von Grundrechten hinausgehende institutionalisierte Anerkennung der grundsätzlich uneingeschränkten Bildungs- und Autonomieentwicklungsfähigkeit bei jedem Menschen.