Einleitung
Im Jahre 1835 veröffentlichte der französische Philosoph Alexis de Tocqueville seine berühmte Schrift "Über die Demokratie in Amerika". In diesem Buch sucht er nach Antworten auf eine europäische Grundfrage. Denn in Europa war eine "große demokratische Revolution (...) im Gange".
Tocquevilles optimistische Erzählung von der neuen Staatsform wurde in der bürgerlichen Revolution von 1848 mit Begeisterung aufgegriffen. Auch die Abgeordneten im ersten frei gewählten deutschen Parlament in der Frankfurter Paulskirche beriefen sich auf seinen Bericht.
Denkt man rund 200 Jahre nach Tocqueville über die Demokratie nach, dann ist festzustellen, dass es sich international betrachtet um ein echtes Erfolgsmodell handelt. Rund um den Erdball gab es zu keinem Zeitpunkt eine größere Anzahl demokratischer Staaten als heute. Die enorme Anziehungskraft der Demokratie haben zuletzt die Ereignisse des "Arabischen Frühlings" verdeutlicht. Gleichzeitig mehren sich aber Stimmen, welche die Funktionsfähigkeit unseres parlamentarischen Systems vor dem Hintergrund vielfältiger globaler Herausforderungen und der politischen Koordinierungszwänge in einem europäischen Mehrebenensystem in Zweifel ziehen. Sie erfahren Unterstützung durch diejenigen, die schon seit längerem mit dem demokratischen Alltag in der Bundesrepublik aus unterschiedlichen Gründen hadern. So wirft Alexandra Borchardt die Frage auf, ob sich unsere repräsentative parlamentarische Demokratie nicht vielleicht schlicht überlebt hat, wie "ein abgetragener Mantel, der in den Altkleidersack gehört. War mal schick, hat mal gewärmt und geschützt, aber jetzt gibt es etwas Besseres."
Grundlagen der repräsentativen Demokratie
Alle diese Fragen geben Anlass, sich der Grundlagen unserer repräsentativen Demokratie in der Bundesrepublik und in Europa kritisch zu vergewissern. Demokratie als Thema ist ein sehr weites Feld. Folglich kann es nur um exemplarische "Probebohrungen" gehen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ohne lebendige parlamentarische Demokratie sind die Aufgaben, die vor uns liegen, nicht zu bewältigen. Gerade in einer Zeit, in der ein globales Krisenszenario auf das nächste folgt und weit reichende politische Entscheidungen getroffen werden müssen, bedürfen die handelnden Akteure einer ausreichenden Legitimationsgrundlage. Dazu brauchen wir bis auf Weiteres die nationalen Parlamente. Ohne die demokratische Zustimmung der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger werden wir das europäische Haus nicht erhalten und weiter bauen können.
Demokratie meint "Volksherrschaft": Sie beruht auf der Idee einer durch die Beteiligung aller Bürger legitimierten Herrschaft auf Zeit, die durch die Mehrheit getragen wird. Das Grundgesetz hat sich für die repräsentative parlamentarische Demokratie entschieden: Die Bürgerinnen und Bürger realisieren ihre Herrschaft in erster Linie über die Wahl des Parlaments. Die Wahl stellt den "grundlegenden Legitimationsakt dar", sie "bildet das wesentliche Element des Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und damit zugleich die Grundlage der politischen Integration".
Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2011 aus Anlass der Entscheidung zur Fünfprozentklausel im Europawahlrecht betont: Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger. Aus ihm folgt, dass alle Wähler mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Die Fünfprozentsperrklausel im Europawahlrecht war deshalb für verfassungswidrig zu erklären: Sie bewirkt bei einer Verhältniswahl ohne ausreichende Rechtfertigung eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen: Ungefähr 2,8 Millionen Stimmen - mithin etwa zehn Prozent der gültig abgegebenen Stimmen - hatten bei der Europawahl 2009 keinen Erfolgswert, also keinen Einfluss auf die Verteilung der Sitze im Europaparlament.
Die Gleichheit der Wahl musste mühsam erkämpft werden. Am Ende dieses Kampfes stand die Einführung des Frauenwahlrechts. Das freie und gleiche Wahlrecht ist alles andere als selbstverständlich, es ist, so das Bundesverfassungsgericht, "der wichtigste vom Grundgesetz gewährleistete subjektive Anspruch der Bürger auf demokratische Teilhabe"
Nach dem Grundgesetz ist der Deutsche Bundestag der Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation und der institutionelle Mittelpunkt des politischen Lebens.
In einer repräsentativen Demokratie neigt das Parteiensystem dazu, oligarchisch-elitäre Strukturen auszubilden.
Das Gegenmodell zum Parlamentarismus ist die Expertokratie. Innerhalb der Bevölkerung genießt die Expertokratie durchaus Sympathie. Statt Politikern vertrauen die Bürgerinnen und Bürger häufig lieber "Experten", wie sie angesichts der Euro-Krise jetzt auch in Italien und Griechenland regieren. Ja, sogar die Politiker selbst verschanzen sich gerne hinter Expertenmeinungen, und wenn wir nach Brüssel schauen, dann tritt uns mit der Europäischen Kommission eine expertokratisch orientierte Institution gegenüber, die sich irgendwo im Übergang vom neutralen administrativen Gestalter zu einer politischen Regierung befindet und als Ersatz für Demokratie gerne "unpolitische Politik" in Form wissensbasierter Governance-Programme anbietet.
Experten können Politik und Demokratie aber nicht dauerhaft ersetzen,
Das dritte Bedenken gegen expertokratische Politik gründet auf dem Umstand, dass sich gerade auch auf europäischer Ebene verlässliches oder besser gesagt konsentiertes Wissen über die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einer politischen Initiative nur sehr schwierig gewinnen lässt. Daher greifen die politischen Akteure bei ihrer Vermittlung der avisierten Lösung in vielen Bereichen gerne auf formal objektiviertes Wissen zurück. So werden zum Beispiel Benchmarking-Prozesse zwischen Mitgliedstaaten der EU bei der Formulierung europäischer Politiken immer wichtiger. Das gilt zum Beispiel für die im Europäischen Rat von Lissabon 2000 entwickelte "offene Methode der Koordinierung".
Die Abbildung der Wirklichkeit durch verrechenbare Indikatoren erweist sich bei näherem Hinsehen als äußerst problematische Konstruktion, die auch historisch gesehen Tür und Tor öffnet für Manipulationen und symbolische Politik. Gerade die Qualität öffentlicher Dienstleistungen lässt sich nur sehr schwer in Zahlen fassen. Gänzlich ohne statistische Grundlagen lassen sich heute aber politische Entscheidung über die einschlägigen Realbereiche nicht mehr treffen. Daher müssen wir stärker als bisher versuchen, eine Kultur der reflektierten Zahl zu entwickeln, die numerische Grundlagen zum Ausgangspunkt politischer Argumentation nimmt, die Zahlen aber gleichzeitig hinterfragt und die einschlägigen Indikatoren einem stetigen Lernprozess aussetzt.
Europa steht auf zwei demokratischen Säulen
Viele Bürgerinnen und Bürger befürchten im Zeitalter der Internationalisierung, dass die Demokratie ihre Wirkungskraft verliert. Die eigentliche Entscheidungsmacht scheint abzuwandern in überstaatliche Zusammenhänge. Immer häufiger, so die Sorge, werden wesentliche Entscheidungen entweder im anonymen Dickicht der Brüsseler Bürokratie, in nächtlichen Sitzungen des Europäischen Rates oder sonst wo ausgehandelt, ohne dass sie hinreichend öffentlich diskutiert und beeinflusst würden.
In der Tat werden 20 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht viele Regelungen nicht mehr im nationalen Alleingang getroffen. Das ist trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten zunächst einmal gut und richtig so. In der von Jürgen Habermas schon vor über einem Jahrzehnt in einem berühmten Diktum als "postnationale Konstellation"
Das Grundgesetz befürwortet die hierfür notwendige Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene. In der Präambel hieß es von Beginn an, dass sich das Volk "kraft seiner verfassunggebenden Gewalt" das Grundgesetz gegeben habe und es dabei "von dem Willen beseelt" sei, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Hinzu kommt der heutige Artikel 23 Absatz 1 GG. Beide Vorschriften enthalten einen "Verfassungsauftrag" an die deutschen Staatsorgane und sonstigen staatlichen Stellen, durch die Mitwirkung an der Entwicklung der EU zur Verwirklichung eines vereinten Europas beizutragen.
Das Grundgesetz verlangt und gewährleistet jedoch auch, dass die Ausübung der dem europäischen Staatenverbund übertragenen Hoheitsgewalt demokratisch legitimiert wird. Die Legitimation der hoheitlichen Gewalt der EU ist eine sogenannte "duale Legitimation". Sie verläuft über zwei Stränge.
Das hat das Bundesverfassungsgericht schon in seiner Entscheidung zum Vertrag von Maastricht so gesehen und in der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon bestätigt. In einem wesentlichen Punkt freilich bleibt diese Legitimation unvollkommen: Die Gleichheit der Wahl ist auf europäischer Ebene nicht gewährleistet. Es fehlt nach dem Vertrag von Lissabon an "einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens". Stattdessen sieht der Lissabon-Vertrag (Art. 14 Abs. 2 Unterabsatz 1 Satz 3 EUV) für das Europäische Parlament eine degressiv proportionale Zusammensetzung mit mitgliedstaatlichen Kontingentierungen vor, die das völkerrechtliche Prinzip der Staatengleichheit mit dem demokratischen Prinzip der Wahlrechtsgleichheit kombiniert. Das führt dazu, dass das Gewicht der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsschwachen Mitgliedstaates etwa das Zwölffache des Gewichts der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsstarken Mitgliedstaates betragen kann.
Die Zukunft wird zeigen, inwieweit die Union "mit zusätzlichen neueren Formen transparenter oder partizipativ angelegter politischer Entscheidungsverfahren nach eigenen Wegen demokratischer Ergänzung" suchen wird. Solche Elemente partizipatorischer Demokratie können den auf Wahlen und Abstimmungen zurückgehenden Legitimationszusammenhang zwar nicht ersetzen; sie können aber "ergänzende Funktion bei der Legitimation europäischer Hoheitsgewalt übernehmen"
Damit behält der Deutsche Bundestag seine Schlüsselfunktion für die demokratische Legitimation der deutschen und der europäischen Hoheitsgewalt. Von ihm geht der primäre Legitimationszusammenhang der EU aus. Er besitzt - wie bereits erwähnt - nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine besondere "Integrationsverantwortung".
Die Übertragung von Hoheitsrechten findet eine Grenze im "materiellen Identitätskern der Verfassung", der durch die "Ewigkeitsgarantie" in Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ist. In der Entscheidung vom 7. September 2011 hat das Bundesverfassungsgericht diesen Identitätskern näher beschrieben. Danach dürfen Kompetenzen des Deutschen Bundestages nicht in einer Weise ausgehöhlt werden, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens unmöglich macht. Die Bürger sollen nicht eines Morgens aufwachen und feststellen, dass diejenigen, die sie gewählt haben, nichts mehr zu entscheiden haben.
Gerade das Budgetrecht stellt ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung des Volkes dar. Die gewählten Abgeordneten müssen deshalb auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidung behalten. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden.
Überdies muss gesichert sein, dass hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht. Europäische Staatskommissare und europäische Wirtschaftsregierungen mit weit reichenden Kompetenzen in Bezug auf nationale Haushalte sind deshalb aus Sicht der Demokratie nicht ungefährlich, solange kein von den Unionsbürgern allein demokratisch legitimierter europäischer Bundesstaat mit entsprechenden Institutionen existiert.
Es wäre tragisch und geradezu fatal, wenn wir auf dem Weg zur Rettung des Euro und mehr Integration die Demokratie verlieren. Denn unter allen denkbaren Herrschaftsformen bleibt die Demokratie trotz aller Unzulänglichkeiten die mit Abstand beste. Gerade in Krisenzeiten empfinden wir demokratische Verfahren und die zwingend damit einhergehende Verrechtlichung der Politik als lästig. Auch unsere europäischen Nachbarn würden sich mitunter mehr spontanes politisches Engagement in manchen Fragen wünschen. Doch gerade uns Deutschen lehrt die jüngere Geschichte: Demokratie ist nicht alles, aber ohne Demokratie ist alles nichts.
Gekürzte Fassung eines Vortrags beim Politischen Forum Ruhr am 6. Februar 2012 im Konzerthaus Dortmund.