Einleitung
Vor etwa 70 Jahren definierte Lord Beveridge in einer berühmt gewordenen Schrift das Vollbeschäftigungsziel bei 3% Arbeitslosigkeit.
All das bezieht "Vollbeschäftigung" (oder seine Abwesenheit) auf Durchschnittswerte von mittlerweile 27 Nationen und Volkswirtschaften, deren riesigen Unterschiede nun in der Schuldenkrise deutlich genug geworden sind. Dazu kommen große regionale Unterschiede in den Ländern selbst, nicht zuletzt in Deutschland. Blicken wir über Deutschlands Grenzen hinaus, sind diese Unterschiede noch drastischer, ja skandalös. Denken wir nur an die Arbeitslosenquoten für Jugendliche in Griechenland oder Spanien, die nah an der Marke von 50% liegen, von binnenregionalen Unterschieden dort ganz zu schweigen.
So betrachtet, erscheint Vollbeschäftigung als utopisches Ziel. Sich dieser Herausforderung dennoch zu stellen, kann nur bei vorsichtiger Annäherung und unter Berücksichtigung bestimmter Perspektiven gelingen. Im Folgenden soll gefragt werden, welche Anforderungen sich an eine Politik der Vollbeschäftigung aus zentralen Merkmalen des Strukturwandels am Arbeitsmarkt ergeben. Diese "Annäherungen" werden zeigen, dass es vor allem der Schaffung neuer institutioneller Kapazitäten bedarf, um dem Vollbeschäftigungsziel näher zu kommen. Mit dem Begriff "Kapazitäten" soll vorweg klar gestellt sein, dass es nicht nur um die Anpassung individueller Fähigkeiten gehen kann, also darum, die Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Es geht auch darum, die materiellen, rechtlichen und informationellen Infrastrukturen zu schaffen, um den Arbeitsmarkt fit für die Menschen zu machen. Schließlich kann Vollbeschäftigung selbst nur ein sich bewegendes und ständig neu zu definierendes Ziel sein und nicht die Abwesenheit von Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: Kurze Phasen des Übergangs in Arbeitslosigkeit müssen neben anderen Bedingungen sogar als Voraussetzung von Vollbeschäftigung betrachtet werden.
Übergänge müssen sich lohnen
Die Arbeitsverhältnisse differenzieren sich zunehmend aus, vor allem in Form teils hoch riskanter atypischer Beschäftigung. "Atypisch" sind Arbeitsverhältnisse dann, wenn sie nicht der zumindest latent noch vorhandenen Norm unbefristeter Vollzeitbeschäftigung im Lohnarbeitsverhältnis entsprechen. Dabei ist vorweg das weit verbreitete Missverständnis auszuräumen, atypische Arbeitsverhältnisse seien per se flexibel. Sie sind es nicht. So sind beispielsweise Teilzeitbeschäftigte in der Regel weniger als Vollzeitbeschäftigte in der Lage, andere Aufgaben im Betrieb zu übernehmen; und Selbständige, die streng terminierte Auftragsarbeiten übernehmen, können ihre täglichen Arbeitszeiten kaum variieren. Die atypische Beschäftigung in Form von Teilzeit, Befristung (inklusive Leiharbeit) und Selbständigkeit ist europaweit gestiegen.
Aus diesen Beobachtungen lässt sich eine erste Schlussfolgerung für eine Neuordnung des Arbeitsmarkts ziehen: Prosperierende offene Volkswirtschaften und die (vor allem um Frauen) erweiterte Teilhabe am Erwerbsleben erfordern eine Ausdifferenzierung der Arbeitsverhältnisse, deren Risiken und Chancen durch die derzeitige Arbeitsmarktpolitik nicht ausreichend berücksichtigt werden. Vor weiteren Schlussfolgerungen gilt es jedoch zu fragen: Was sind die Gründe dieser Entwicklung? Was sind die damit verbunden spezifischen Chancen und Risiken? Was sind die Alternativen?
Zu den Gründen wäre viel zu sagen. Hier kann nur auf den zentralen Punkt hingewiesen werden, dass sich die Kluft zwischen nominaler und effektiver Beschäftigungsquote
Für die EU-27 betrug die Differenz im Jahr 2008 immerhin 5,5 Prozentpunkte (66% nominale Quote gegenüber 60,5% effektive Quote), für Deutschland schon 10 Prozentpunkte (71% vs. 61%), und für die Niederlande sogar schon 17,5 Prozentpunkte (77% vs. 59,5%). Würde man Abwesenheiten vom Arbeitsplatz (bei Vollzeit- wie Teilzeitbeschäftigten) hinzuziehen, wäre mit einer wesentlich weiteren Kluft zwischen nominaler und effektiver Beschäftigungsquote zu rechnen. Selbst das Ziel der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EU-2020) von 75% als Annäherung für Vollbeschäftigung ist zu tief gegriffen, wenn eine möglichst hohe effektive Beschäftigungsquote das Vollbeschäftigungsziel sein soll. Einige Länder, wie Schweden und die Niederlande, haben deshalb schon das nominale Beschäftigungsziel von 80% in ihren nationalen Beschäftigungsprogrammen festgelegt.
Um die Leitidee "Übergänge müssen sich lohnen" mit Substanz zu füllen, müssen die Chancen und Risiken dieser Formen der Übergangsbeschäftigung ins Auge gefasst werden. Dass Teilzeit zu höherer Inklusion am Arbeitsmarkt führt und auch mehr numerische Flexibilität bietet (hier vor allem Variation der Lage der Arbeitszeit), ist unmittelbar einsichtig. Wenig bekannt und erforscht sind die Folgen der Teilzeit für die Produktivität. Zumindest im Dienstleistungsbereich weist die Forschung recht eindeutig auf Produktivitätsgewinne, wenn es darum geht, Dienstleistungen kundenorientiert just in time und möglicherweise rund um die Uhr anzubieten. Die Kehrseite der Chancen von Teilzeit sind soziale Risiken, vor allem in Form mangelnder Alterssicherung. Die Risiken geringerer Bezahlung und Aufstiegsmöglichkeiten könnten durch konsequente Antidiskriminierungspolitik in Schach gehalten werden. Wenig beachtet wird das Unternehmensrisiko geringer funktionaler Flexibilität (beispielsweise Übernahme verschiedener Aufgaben), insbesondere bei geringfügiger Teilzeit. Arbeitsmarktpolitisch lässt sich daraus in aller Vorsicht (vielleicht überraschend und provozierend) der Schluss ziehen, dass die Zentrierung um eine Normalarbeitszeit gegen 30 Stunden pro Woche vielfältige Vorteile hätte.
Bei der Befristung sind die Risiken besonders stark ausgeprägt, insbesondere für die Arbeitnehmer: geringere Bezahlung, höheres Arbeitslosigkeitsrisiko, höhere gesundheitliche Risiken. Das ist wohlbekannt und deswegen nicht weiter auszuführen.
All das zusammengenommen könnte zu einem arbeitsmarktpolitischen Paradigmenwechsel führen: Während die "aktive" Arbeitsmarktpolitik von gestern den Vermittlungsvorrang vor Arbeitslosengeldzahlung begründete, sollte die "proaktive" Arbeitsmarktpolitik von morgen den Vorrang der Beschäftigungsfähigkeit vor Vermittlung und vor Arbeitslosengeldzahlung festschreiben.
Investive Arbeitspolitik
Ein weiteres Element des Paradigmenwechsels der Arbeitsmarktpolitik muss die Verstärkung ihrer investiven Komponente sein. Hintergründe dafür sind vor allem der demografische und ökonomische Strukturwandel: die älter werdende Erwerbsbevölkerung
Die Herausforderung zu mehr Mobilität folgt aus der Eigenart von Dienstleistungen, nicht mit Massenfertigung für stabile und große Absatzmärkte verbunden zu sein, wie wir es in der verarbeitenden Industrie gewohnt sind. Bei Dienstleistungen finden wir zudem projektförmige Arbeit häufiger als bei industrieller Fertigung, vor allem im Medienbereich. Aber auch im dynamisch wachsenden Bereich der Industriedienstleister arbeitet mittlerweile jeder Dritte auf Projektbasis. Utopisten sprechen sogar vom Ende des Betriebs und sehen nur noch Netzwerke als typische Produktionsweise der modernen Arbeitswelt. Daraus folgt als neue Anforderung an die Arbeitsmarktpolitik, der räumlichen und sektoralen Mobilitätsförderung in Zukunft größeres Gewicht beizumessen als bisher.
Der Wandel von produktionsbezogenen Berufen und einfachen Dienstleistungen zu wissensintensiven Dienstleistungsberufen stellt an die Arbeitsmarktpolitik zunächst die Anforderung, beim Spektrum der Weiterbildungsförderung zunehmend berufsübergreifende Kompetenzen zu fördern, wenn möglich aus dem Beschäftigungsverhältnis heraus und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen der Arbeitslosigkeit gefallen ist. Es mag da und dort einen partiellen Mangel an Ingenieuren, Technikern oder Pflegekräften geben. Pauschal trifft der aktuell beklagte Fachkräftemangel aber nicht zu. Zentraler ist der Bedarf an methodischen Kompetenzen. Gerade die wissensintensiven, sogenannten sekundären Dienstleistungen erfordern zunehmend Fähigkeiten quer über Fachkompetenzen hinweg: diffizile Sachverhalte vermitteln, unvorhergesehene Probleme lösen, schwierige Entscheidungen treffen, Wissenslücken erkennen und schließen oder sehr viele verschiedene Aufgaben erledigen. Unternehmen stellen daher auch keine Bildungszertifikate ein, sondern Menschen, die mit Menschen kommunizieren, die Kundenprobleme analysieren und die Lösungen finden oder gar erfinden und diese auch gegen Widerstand umsetzen können.
Eine weitere Herausforderung an Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik ist die auseinandergehende Schere der Beschäftigungschancen zwischen gering Qualifizierten und hoch Qualifizierten: Es sind vor allem gering Qualifizierte, die von atypischer Beschäftigung betroffen sind; das Risiko, arbeitslos zu werden, ist für sie in fast allen EU-Ländern doppelt, dreifach oder gar vierfach höher als für hoch Qualifizierte. Gering Qualifizierte sind weit weniger an Weiterbildung beteiligt als hoch Qualifizierte. Geradezu dramatisch, jedoch wenig berücksichtigt, ist auch die Diskrepanz der Beschäftigungsquoten zwischen gering Qualifizierten und hoch Qualifizierten. Nicht ein einziger EU-Mitgliedstaat hat bei den gering Qualifizierten die Beschäftigungsquote von 75% erreicht, dagegen haben die hoch Qualifizierten in allen EU-Mitgliedstaaten diese anvisierte Messlatte der Europäischen Beschäftigungsstrategie schon längst übersprungen (vgl. Abbildung 3 in der PDF-Version). Für Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik ergibt sich aus diesen Sachverhalten vor allem die Anforderung, die Chancengleichheit für Bildungsbenachteiligte zu verbessern. Was könnte die Lösung sein? "Erst Arbeit, dann Bildung" oder "Erst Bildung, dann Arbeit"? Zur Antwort müssten wir weit ausholen und fragen, warum junge Erwachsene überhaupt aus einem geordneten und erfolgreichen Übergang von der Schule in den Beruf herausfallen. Viele Faktoren spielen hier eine Rolle, und das Ursachenbündel ist vermutlich für jeden jungen Menschen ein anderes.
Die Anwendung dieser Strategien lässt sich in einigen Nachbarländern erkennen, denen die Inklusion von Jugendlichen in den Bildungs- und Arbeitsmarkt im vergangenen Jahrzehnt besser als in Deutschland gelungen ist.
Der Anforderung einer weniger spezifischen und breiteren Erstausbildung kommen einige Nachbarländer besser nach. Die Zahl der anerkannten Ausbildungsberufe liegt in Deutschland mit 344
Die zunehmende Spaltung des Arbeitsmarktes nach Bildungsniveau könnte also zu einem Großteil entweder durch eine kombinierte Strategie von Arbeitsangeboten und betrieblichen Weiterbildungsangeboten oder durch eine stärkere Berufsorientierung im schulischen Kontext gelöst werden. Für die Arbeitsmarktpolitik folgt darüber hinaus die Anforderung, die Förderung von Qualifikation nicht nur auf Arbeitslose zu konzentrieren, sondern auch auf Beschäftigte, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Menschen, die unter ihrem Qualifikationspotenzial beschäftigt sind (in Deutschland schätzungsweise zwischen 10 und 15%), wären eine weitere lohnenswerte Zielgruppe. Mit ihrer Förderung könnten Mobilitätsketten in Gang gesetzt werden, die nicht nur einen Beitrag leisten, die drohende Fachkräftelücke zu schließen, sondern auch Einstiegschancen für die (oft gering qualifizierten) Außenseiter des Arbeitsmarktes bieten.
Lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik
Eine Politik der Vollbeschäftigung sollte schließlich stärker als bisher die sich wandelnden Voraussetzungen, Bedürfnisse und Präferenzen im Lebensverlauf der Menschen berücksichtigen. Dass unter diesem Gesichtspunkt vor allem die Erwerbschancen von Frauen in der Familienphase zu verbessern sind, muss hier als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden.
Auf der Arbeitgeberseite bedeutet gerechte Risikoteilung auch die Haftung für besondere Risiken bei Einstellungen und Entlassungen: Etwa eine Risikoprämie für Zeitarbeit, die in auftragslosen Zeiten zur Weiterbildung genutzt werden kann; oder eine Extraabgabe in die Arbeitslosen- oder Invalidenversicherung bei der Entlassung von Älteren wie in Österreich und Finnland. Denkbar sind auch öffentlich-private oder öffentlich-öffentliche Partnerschaften. So könnte in einem Wettbewerbs- oder Auktionsverfahren das Beschäftigungs- und Fachkräftepotenzial zugunsten älterer Menschen besser ausgeschöpft werden. Privaten oder öffentlichen Betrieben, die an einem solchen Verfahren teilnehmen und zusätzliche Arbeitsplätze für leistungsgeminderte ältere Personen anbieten, könnten der Staat oder die Agenturen für Arbeit einen längerfristigen Lohnkostenzuschuss anbieten. Nach diesem Muster funktionieren beispielsweise die "Flexjobs" in Dänemark, die umgerechnet auf bundesdeutsche Größenordnung - etwa eine halbe Million Arbeitsplätze schaffen könnten.
In der Konsequenz bedeutet eine lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik die Anforderung, durch Inklusion von Risiken über das Arbeitslosigkeitsrisiko hinaus die tradierte Arbeitslosenversicherung in eine Arbeitsversicherung zu erweitern. Schon das Konzept der aktiven Arbeitsmarktpolitik hatte ja das Versicherungsprinzip auf das Qualifikationsrisiko von Arbeitslosen oder Beschäftigten ausgedehnt. Proaktive Arbeitsmarktpolitik würde weitere Risiken einschließen: das Risiko volatiler Einkommen, der Erwerbsminderung und Kompetenzdefizite, ja selbst - zumindest im begrenzten Umfang - das Risiko falscher Karriereentscheidungen im Lebensverlauf.
Zusammenfassender Ausblick
Eine Politik der Vollbeschäftigung wird sich drei zentralen Herausforderungen der künftigen Arbeitswelt stellen müssen: Erstens der Ausdifferenzierung der Arbeitsverhältnisse, vor allem in Form atypischer Beschäftigung, die mit neuen Risiken verbunden sind, insbesondere dem Risiko stark schwankender Erwerbseinkommen über den Lebensverlauf. Die zeitgemäße Reaktion darauf wäre die Inklusion dieser Risiken in die Arbeitslosenversicherung, die folgerichtig dann auch als Arbeitsversicherung zu bezeichnen wäre. Diese erweiterte Risikoabdeckung muss - wie bei jeder Sozialversicherung - zwischen der Skylla des "moralischen Verhaltensrisikos" (Ausnutzung der Versicherung) und der Charybdis des "innovativen Verhaltensrisikos" (Bereitschaft zum Risiko) jonglieren. Da die Chancenseite des Verhaltensrisikos von Versicherungen meistens in Vergessenheit gerät, wird hier für eine neue Leitidee geworben: Auch Übergänge müssen sich lohnen, etwa der Übergang von Vollzeit in Teilzeit, von abhängiger in selbständige Beschäftigung, von einem Beruf zum anderen - einschließlich des Übergangs von Beschäftigung in vorübergehende Arbeitslosigkeit. In anderen Worten: Politik muss Menschen auch dazu ermutigen, Übergangsrisiken zu übernehmen.
Die zweite Herausforderung sind die älter werdende Erwerbsbevölkerung sowie der Wandel zur Wissens- und Dienstleistungsökonomie. Auch eine aktive Zuwanderungspolitik wird den demografischen Megatrend nicht kompensieren können. Darum ist als Leitidee eine investive Arbeitspolitik vonnöten, um die Beschäftigungsfähigkeit des vorhandenen Erwerbspotentials zu erhöhen. Das bedeutet zum einen Investitionen in bildungsbenachteiligte junge Erwachsene durch lernförderliche Arbeitssituationen oder berufsorientiere Lernsituationen, zum anderen Investitionen in lebenslanges Lernen, um die älter werdenden Menschen für den Arbeitsmarkt fit zu halten. Es muss aber auch in die Arbeitsorganisation investiert werden, um menschengerechte, vor allem altersgerechte Arbeitsplätze zu schaffen.
Die dritte Herausforderung ist die notwendige Stärkung der individuellen Autonomie, also der Selbstbestimmung vor allem für Bildungsbenachteiligte, und die Vervollständigung der Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt. Als Anforderung für die Politik folgt daraus die konsequente Orientierung am Lebensverlauf und die Leitidee, nicht nur vor Arbeitsmarktrisiken zu schützen, sondern auch die persönliche Entwicklung, also berufliche Karrieren durch spezielle Strategien zu fördern. Die daraus entstehenden Mobilitätsketten würden nicht nur helfen, die drohende Fachkräftelücke zu schließen, sondern kämen auch den Außenseitern des Arbeitsmarktes zugute.