Einleitung
Die Beschäftigungssituation in einem Land ist sicherlich eine der kritischsten Größen für die Politik, denn die Arbeitsmarktlage kann über Wahlen entscheiden und tut dies auch oft. Der Grund hierfür ist die zentrale Rolle der Beschäftigung für Wohlstand und Wohlfahrt der Bevölkerung. Prinzipiell profitiert die ganze Gesellschaft von einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt. Vollbeschäftigung führt zu einer nachhaltigen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und damit zu einem stabilen Wirtschaftswachstum. Auf der mikroökonomischen Ebene bedeutet Erwerbsarbeit, dass Individuen ihre Bedürfnisse mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, das heißt einem stabilen Einkommen, kontinuierlich befriedigen können. Erwerbsarbeit ist aber nicht nur die zentrale Größe für objektives, das heißt materielles, sondern auch für subjektives Wohlstandsempfinden. Die gesellschaftliche Anerkennung ist eng mit der Erwerbstätigkeit verknüpft und trägt zusätzlich über das Erwerbseinkommen und die daraus generierte soziale Absicherung einen großen Teil zur sozialen Teilhabe bei.
Was ist Vollbeschäftigung?
Der Begriff der Beschäftigung, im Sinne einer über den Markt organisierten Erwerbstätigkeit, entstand im Zuge der Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Einer der Katalysatoren für die Industrialisierung in Deutschland war Bevölkerungswachstum in Kombination mit dem Bedeutungsverlust des primären Sektors. Folglich gab es ein großes Angebot an Arbeitskräften, worauf der wachsende Industriesektor zurückgriff. Anfang des 20. Jahrhunderts kippte diese Situation aber: Die Weltwirtschaftskrise 1929 führte zur Entlassung von sechs Millionen Erwerbstätigen und damit erstmals zu einer Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Diese Zeit kann als Geburtsstunde der Vollbeschäftigung als wirtschaftspolitisches Ziel bezeichnet werden. Vollbeschäftigung ist also ein eher junger Begriff, der erst seit etwa 150 Jahren eine Rolle spielt.
Wann ist Vollbeschäftigung erreicht? Sicherlich nicht erst, wenn alle Bürger, die arbeiten können und wollen, auch Arbeit haben, die Arbeitslosenquote also bei Null liegen würde. In einer dynamischen Marktwirtschaft wird es aufgrund von diversen Übergängen wie Jobwechsel oder dem Übertritt vom Bildungssystem in die Arbeitswelt immer ein gewisses Quantum an sogenannter friktioneller beziehungsweise Sucharbeitslosigkeit geben, die in etwa bei 2% angesiedelt wird.
Theoretische Grundlagen zur Erklärung von Beschäftigungsentwicklungen
Die Wirtschaftswissenschaften lassen sich trotz aller theoretischen Verästelungen grob in zwei Lager einteilen, nämlich in die der Angebots- und Nachfragetheoretiker. Die Angebotstheorie ist ein Teil des neoklassischen Mainstream und analysiert ökonomische Vorgänge aus dem Blickwinkel der Individuen. Individuelles Handeln, das durch entsprechende Rahmenbedingungen und Regularien beeinflusst werden kann, ist also die Ursache für ökonomische Ereignisse. Diese grundlegende Vorstellung über menschliches Handeln hat ihren Niederschlag in den ökonomischen Arbeitsmarkttheorien gefunden: Hier wird Vollbeschäftigung definiert als der Gleichgewichtszustand, in dem die Menge an angebotener Arbeitskraft der Menge an nachgefragter Arbeitskraft entspricht. Die Arbeitskraft wird als ein rein ökonomisches Gut bewertet, deren Nachfrage beziehungsweise Angebot nur vom Reallohn abhängt. In diesem Sinne wird im neoklassischen Arbeitsmarktmodell das Ziel der Vollbeschäftigung dann verfehlt, wenn die Reallohnvorstellung der Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, über dem gleichgewichtigen Reallohn liegt. Mit anderen Worten: Für diese Personen ist der Lohn für die geleistete Arbeit zu gering, sodass sie sich gegen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit entscheiden und damit freiwillig arbeitslos sind. Die "unsichtbare Hand des Marktes" führt aber den freien Markt immer wieder ins Gleichgewicht zurück, das heißt, aus theoretischer Sicht muss sich automatisch Vollbeschäftigung einstellen.
Die neoklassische Überlegung wurde vor allem im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 infrage gestellt, da die Massenarbeitslosigkeit nicht durch hohe Lohnerwartungen zu erklären war, sondern durch den Güter- und Geldmarkt induziert wurde. Hieraus entwickelte sich die Nachfragetheorie, die wir vor allem mit deren bekanntesten Vertreter, John Maynard Keynes, in Verbindung bringen. Der Keynesianismus erklärt die Verfehlung der Vollbeschäftigung durch makroökonomische Kreislaufzusammenhänge, denen zufolge eine geringe reale Güternachfrage zu einer geringeren Produktion und somit auch zu einem geringeren Einsatz von Arbeitskräften führt. Der große Unterschied zur klassischen Theorie ist daher, dass der Keynesianismus nachfragesteigernde Impulse für den Gütermarkt befürwortet, um die Gesamtnachfrage anzukurbeln, wohingegen die neoklassische Theorie deregulierende Eingriffe in den Arbeitsmarkt fordert.
Zur Abgrenzung dieser beiden Erklärungsmöglichkeiten des Beschäftigungsstandes haben die Ökonomen eine spezifische Arbeitslosenquote entwickelt, die inflationsstabile Arbeitslosenquote, kurz NAIRU.
Angebots- und nachfragetheoretische Erklärungen finden auch in den wirtschaftspolitischen Instrumenten zur Verfolgung von Vollbeschäftigung ihren Niederschlag:
Beide gesetzlichen Zielsetzungen deuten darauf hin, dass jenseits der theoretischen Dichotomie Beschäftigung immer ein Kuppelprodukt aus klassischen und keynesianischen beziehungsweise angebots- und nachfragetheoretischen Maßnahmen ist. Dies kann man mit Hilfe der sogenannten Beschäftigungsschwelle erläutern. Die Beschäftigungsschwelle gibt dasjenige Wirtschaftswachstum an, ab dem zusätzliche Beschäftigung entsteht. Hierbei hängen die Maßnahmen, mit denen Vollbeschäftigung erreicht werden soll, von den Ursachen der Unterbeschäftigung ab: Zum einen sind das Maßnahmen, die das Wirtschaftswachstum über die Beschäftigungsschwelle heben im Sinne einer makroökonomisch ausgerichteten Beschäftigungspolitik, wie wir sie zuletzt mit den Konjunkturpaketen der Bundesregierung im Zuge der Finanzkrise kennengelernt haben. Und zum anderen Maßnahmen, welche die Beschäftigungsschwelle senken im Sinne einer mikroökonomisch ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik, wie dies seit 2003 vor allem mit den vier Gesetzen zu modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, besser bekannt unter Hartz I bis IV, geschehen ist. Bei all dem ergibt sich ein wichtiges Problem. Bevor Arbeitslosigkeit bekämpft und somit Vollbeschäftigung angestrebt werden kann, muss Klarheit über die Ursachen dieser Arbeitslosigkeit herrschen, denn eine angebotsorientierte Arbeitslosigkeit mit nachfrageorientierten Maßnahmen oder umgekehrt zu bekämpfen, würde wenig bringen und womöglich zu noch größerem volkswirtschaftlichen Schaden führen. Diese Klarheit herzustellen und zudem noch empirisch zu ermitteln, ist eine der schwersten Aufgaben der Wirtschaftswissenschaften. So tobte vor Beginn der Finanzkrise in der Wissenschaft ein Streit über die Frage, worin die Ursachen für den Aufbau der Beschäftigung und den Rückgang der Arbeitslosigkeit in den Jahren 2005 bis 2007 zu sehen seien. Durch die Krise wurde diese Frage in den Hintergrund gedrängt und ist bis heute auch noch nicht geklärt.
Vollbeschäftigung: ein "einfach" zu verfolgendes Ziel?
Das Vollbeschäftigungsziel der Wirtschaftspolitik besteht auch deshalb, weil eine hohe Arbeitslosigkeit vor allem die öffentlichen Haushalte treffen würde. Zum einen würden die Einnahmen in Form direkter und indirekter Steuern sowie der Sozialabgaben der Erwerbstätigen wegfallen und zum anderen müssten zur Existenzsicherung der Erwerbslosen die Staatsausgaben erhöht werden. Neben dem öffentlichen Haushalt würde damit auch das lohnzentrierte Sozialversicherungssystem in Deutschland unter einer hohen Arbeitslosigkeit leiden. Für 2007 berechnete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit in Höhe von 67,6 Milliarden Euro, die sich aus vier Komponenten zusammensetzten: 12,8 Milliarden Euro Mindereinnahmen bei den Steuern und 20,1 Milliarden Euro bei den Sozialversicherungsbeiträgen, denen Mehrausgaben in Höhe von 12,3 Milliarden Euro bei den Versicherungsleistungen und 22,6 Milliarden Euro bei den Sozialleistungen gegenüberstanden.
Vollbeschäftigung ist ein politisch und gesellschaftlich wichtiges, aber aus verschiedenen Gründen auch schwer erreichbares Ziel. Zum einen sind Unternehmen Arbeitsmarktakteure, die ein eher geringes Interesse an Vollbeschäftigung aufweisen, denn: Je höher die Arbeitslosigkeit, desto geringer ist die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerverbände und damit die Entlohnung. Liegt jedoch Vollbeschäftigung vor, können aufgrund der stärkeren Verhandlungsposition der Arbeitnehmer höhere Löhne ausgehandelt werden, womit die Kosten der Produktion steigen würden. Weiterhin würde der Lohn als Instrument zur Erhöhung der Produktivität innerhalb der Belegschaft im Falle einer Vollbeschäftigung nicht greifen: Die Unternehmen haben der Effizienzlohntheorie zufolge die Möglichkeit, durch das Bezahlen von Löhnen oberhalb des Gleichgewichtslohns zum einen die Produktivität der Arbeitnehmer zu erhöhen und zum andern deren Abwanderung in andere Unternehmen zu verhindern. Beide Ziele werden eher erreicht, wenn Unterbeschäftigung herrscht und damit die Alternativen für die Beschäftigten geringer sind. Bei Vollbeschäftigung dagegen sind das Drohpotential und das moral hazard-Problem der Arbeitnehmer höher, so dass erst nur mit einer viel höheren Bezahlung ein entsprechender Anreiz gesetzt werden kann. Arbeitslosigkeit senkt daher den Lohn, ohne dass die Arbeitsproduktivität sinkt. Dieser inverse Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnhöhe wurde vor allem bei regionalen Arbeitsmarktanalysen festgestellt.
Zum anderen liegt Vollbeschäftigung im Spannungsfeld makroökonomischer Zielkonflikte. Das Erreichen eines volkswirtschaftlichen Gleichgewichts ist das Ziel wirtschaftspolitischer Handlung. Die Herausforderung hierbei ist, die als "magisches Viereck" zusammengefassten Zielsetzungen gleichzeitig zu erreichen:
Die Politik muss innerhalb des Spannungsverhältnisses abwägen und handeln. Seit Anfang der 1980er Jahre legten die einzelnen Regierungen in Deutschland tatsächlich den Schwerpunkt ihres wirtschaftspolitischen Handelns eher auf die Stabilität des Preisniveaus oder auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt als auf das Erreichen der Vollbeschäftigung.
Liegen die Ursachen für das Nichterreichen von Vollbeschäftigung schließlich in angebotstheoretischen Gründen, so müssen strukturändernde Reformen in die Wege geleitet werden, die immer auch Gewinner und Verlierer mit sich bringen und somit die Akzeptanz solcher Reformen und deren Durchsetzbarkeit erschweren.
Und nochmals: Was ist Vollbeschäftigung?
Aktuell erreicht der Erwerbstätigenstand mit 41,6 Millionen Personen (2011) das höchste Niveau seit der Wiedervereinigung. Das heißt, etwa jeder zweite Bundesbürger ist gegenwärtig erwerbstätig. Die Arbeitslosenquote liegt bei 7,4% (Februar 2012), was rund drei Millionen Personen entspricht, und wird als arbeitsmarktökonomischer Erfolg gefeiert. Für 2016 wird sogar eine Arbeitslosenquote von unter 5% und damit Vollbeschäftigung prognostiziert.
An dieser Stelle muss aber nach der Qualität der Erwerbstätigkeit gefragt werden; denn Vollbeschäftigung darf nicht nur als absolute Größe wahrgenommen werden, sondern muss auch Art und Umfang der Beschäftigung abbilden können, um jenseits der rein ökonomischen Definition wirtschaftspolitisch anwendbar zu sein. Normalarbeitsverhältnisse werden definiert als unbefristete Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse, die zu einer vollständigen Integration in die sozialen Sicherungssysteme führen, und zusätzlich Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis sowie Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber vorliegen.
Mit der atypischen Beschäftigung ist eine weitere Möglichkeit, einen Angebotsüberschuss auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen, verbunden: die Verringerung des Arbeitsangebots in Form der Arbeitszeitverkürzung pro Person. Jahrelang wurde in Deutschland diese Möglichkeit genutzt, indem das Arbeitsvolumen durch Frühverrentung und einer geringen Frauenerwerbstätigkeit personell reduziert wurde.
Das subjektive Wohlstandsempfinden wird nicht automatisch durch Erwerbstätigkeit erhöht, im Gegenteil: Wenn eine Beschäftigung mit einem hohen Risiko behaftet ist und zu Armut in Arbeit (working poor) führen kann, kann es zu sozialer Ausgrenzung kommen.
Bisher war Vollbeschäftigung ein Ergebnis des Ausgleichs von Angebot an und Nachfrage nach Erwerbsarbeit, also Arbeit, die über den Arbeitsmarkt gehandelt wird. Dabei gibt es zweierlei zu bedenken: Zum einen kann die Zahl derjenigen, die offiziell Arbeit anbieten, schwanken und zum anderen können die dabei ausgeübten Tätigkeiten ebenfalls stark variieren. Berücksichtigt man dies, so gibt es neben der Erwerbsarbeit insbesondere noch den großen Bereich der Schattenwirtschaft und der Hausarbeit, wodurch der Beschäftigungsstand unterbewertet wird. Letzteres umfasst all jene Tätigkeiten, die man selber erledigt, die man aber auch durch Dritte entweder in Form von Erwerbsarbeit oder als Schwarzarbeit erledigen lassen könnte. Versucht man diese Größen zu bewerten und zu berechnen, so könnte dies das Bruttoinlandsprodukt um etwa ein Drittel erhöhen
Der Beschäftigungsstand kann schließlich auch überbewertet werden, insofern die verdeckte Arbeitslosigkeit nicht berücksichtigt wird. Verdeckt arbeitslos sind nicht arbeitslos gemeldete Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, das heißt aktiv nach Beschäftigung suchen, auf eine gute Arbeitsmarktlage warten oder sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befinden. Definiert wird dieser Personenkreis auch als "Stille Reserve". Die verdeckte Arbeitslosigkeit lag 2010 bei 943000, wovon 649000 Personen ausschließlich "Stille Reserve" in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen waren.
Fazit: Vollbeschäftigung ist kein zeit- und gesellschaftsloses Konstrukt
Erwerbstätigkeit ist ein zentrales Merkmal für materielle und soziale Absicherung des Individuums und trägt makroökonomisch zum nachhaltigen Wirtschaftswachstum und gesellschaftlich zu höherem Wohlstand bei. Der Begriff der Vollbeschäftigung ist ein theoretisch idealtypischer Zustand, der so nicht erreicht werden kann, da zumindest immer ein bestimmter Teil an Sucharbeitslosigkeit herrschen wird. Die zeit- und gesellschaftslose Definition, dass Vollbeschäftigung der Ausgleich von Arbeitsangebot und -nachfrage ist, macht deren wirtschaftspolitische Anwendung unmöglich, weshalb "Vollbeschäftigung" in einen zeitlichen und gesellschaftlichen Rahmen eingebettet werden muss, um deren Wohlstands- und Wohlfahrtsfunktion gerecht zu werden. Daher ist bei Vollbeschäftigung doch eher ein hoher Beschäftigungsstand gemeint, der normativ bestimmt werden muss: Welche Arbeitslosenquote kann in Anbetracht der Arbeitsmarktbeschaffenheit seitens der Gesellschaft getragen werden? Trägt jegliche Art der Beschäftigung zu Wohlstands- und Wohlfahrteffekten bei?
Gerade in Deutschland haben die Arbeitsmarktreformen und die damit einhergehenden neuen Beschäftigungsformen zu einem Wandel des Begriffs der Vollbeschäftigung geführt, eine Entwicklung, die sich als Vollbeschäftigungsmaßstab entgegen der gesellschaftlichen Vorstellung der Normalarbeitsverhältnisse bewegt. Vollbeschäftigung ist also kein zeit- und gesellschaftsloses Konstrukt, sondern ganz im Gegenteil abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Organisation von Arbeit.