Im Jahr 1989 war ich noch nicht geboren und die estnische Bevölkerung lebte für mehr als vier Jahrzehnte unter durchgängiger sowjetischer Besatzung. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Machtstruktur der Sowjetunion bereits im freien Fall, jedoch dauerte es noch zwei Jahre bis die Republik Estland ihre Unabhängigkeit zurückerlangte. Seitdem hat sich der baltische Staat konsequent gen Westen ausgerichtet, wobei eine der stärksten Brücken kurioserweise immaterieller Art war: Seit Jahren ist Estland als digitales Vorreiterland weltweit bekannt, in dem die Einkommenssteuererklärung mit einem Mausklick fertig ist und Wahlen schon seit 2005 online bestritten werden können.
Die Entscheidung, den gesamten Staatsapparat zu digitalisieren, hat die Regierung bereits im Jahr 1994 getroffen. Als erste Online-Dienstleistung wurde fünf Jahre später die Steuererklärung angeboten, mittlerweile sind 99% aller staatlichen Dienstleistungen online zugänglich. Für mich bedeutet das, dass ich in meinem ganzen Leben noch kein einziges Mal bei einer estnischen Behörde war. Für die Bevölkerung insgesamt bedeutet die Digitalisierung mehr Zeit für die wichtigen Dinge im Leben, zugleich spart allein die digitale, rechtlich verbindliche Unterschrift jährlich rund 2% des Bruttoinlandsprodukts. Im Vergleich zu meiner deutschen Heimat ist Estland also quasi ein digitales Wunderland. Das bedeutet aber nicht, dass damit die ganze Welt in Ordnung wäre.
Hauptberuflich arbeite ich als Referent im e-Estonia Briefing Centre, wo ich mit Regierungsvertretern und Vorstandsmitgliedern aus der ganzen Welt über den estnischen Weg der Digitalisierung spreche. Im späteren Verlauf solcher Gespräche steht dann oft die Frage im Raum, wie andere Länder diese digitalen Lösungen nutzen können, und genau hier liegt die Herausforderung, die uns auch in den kommenden Jahrzehnten beschäftigen wird: Interoperabilität.
Das Thema Interoperabilität kommt ins Spiel, wenn mein estnischer Arzt mir ein rezeptpflichtiges Medikament verschreibt. In Estland gibt es nämlich keine Papierrezepte, sondern ein digitales Rezept, das mit der Bürgernummer verbunden wird und das ich einfach mithilfe meines digitalen Personalausweises in der Apotheke aktivieren kann. Auch in Deutschland offerieren einige Privatanbieter digitale Rezepte – da es sich hierbei nicht um eine staatlich geleitete Direktive handelt, verkommen diese aber leider zu oft inkompatiblen Insellösungen. Diese Inkompatibilität wird spätestens dann zum Problem, wenn ich versehentlich ohne meine verschreibungspflichtigen Medikamente von Tallinn aus nach Deutschland fliege und mein digitales Rezept in Deutschland schlichtweg nicht funktioniert.
Doch es gibt auch Hoffnungsschimmer! Die X-Road – das Rückgrat für den Datenaustausch zwischen Behörden und auch privat geführten Firmen in Estland – wird nun auch in Finnland, Island und auf den Färöer-Inseln genutzt, sodass diese Länder technologisch miteinander kompatibel sind. Fernab von diesen grundlegenden Strukturen gibt es auch schon handfeste Anwendungsfälle, in denen die Kooperation funktioniert: So kann ein Finne, der seine verschreibungspflichtigen Medikamente in Helsinki vergisst, auch in Tallinn zur Apotheke gehen, wo das dortige Fachpersonal das vom finnischen Arzt ausgegebene digitale Rezept verifizieren und das Medikament überreichen kann. Diese Art der Kooperation kann künstliche Grenzen aufweichen, den Informationsaustausch erleichtern, und spart dazu noch eine ganze Menge Zeit, Geld und Nerven.
Verstehen wir die Digitalisierung also als Brücke, so wie auch vor dreißig Jahren die Rundfunkfrequenzen aus dem Westen nach Osten drangen und die Menschen näher zusammenbrachten, als man es für möglich gehalten hätte. Digitalisierung, das bedeutet für mich die Chance, zumindest einige der vielen noch immer bestehenden Ungleichheiten in Europa auszuräumen – wir sollten sie nutzen.