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Wie haben gemeinsame Erinnerungen die nationale Resilienz moderner Gesellschaften in Osteuropa geprägt? | bpb.de

Wie haben gemeinsame Erinnerungen die nationale Resilienz moderner Gesellschaften in Osteuropa geprägt?

Dmitri Teperik

/ 4 Minuten zu lesen

Ich vergleiche Resilienz immer mit dem menschlichen Immunsystem – einer Struktur, die unseren Körper vor unterschiedlichen schädlichen Akteuren schützt. Obwohl das Immunsystem eines einzelnen Menschen einzigartig ist, funktioniert es in jedem menschlichen Körper ähnlich – spezifisch, induktiv und adaptiv. Diese Eigenschaften sind auch charakteristisch für die nationale Resilienz – ein Phänomen, das beschreibt, wie aufmerksam, stark, lernfreudig, erinnernd, anpassungsfähig und ausdauernd unsere Gesellschaften sind. Natürlich wäre es eine spannende Herausforderung, die Parameter und andere Faktoren zu erfassen, die zusätzlich zur Stärkung oder Schwächung der nationalen Resilienz beitragen könnten, aber konzentrieren wir uns hier auf den qualitativen Teil.

Die nationale Resilienz ist ein äußerst komplexes Phänomen, das aus mehreren sich gegenseitig bedingenden Komponenten besteht. Ein Aspekt ist für mich persönlich besonders interessant, und zwar: Wie wichtig sind unsere gegenwärtigen Wahrnehmungen, unsere aktuellen Gedanken, unsere Erinnerungen der Vergangenheit und unsere Zukunftsprojektionen für die Ausprägung von Resilienz auf einer kollektiven Ebene? Anders gesagt, was macht unsere Gesellschaften kognitiv widerstandsfähiger, und wie?

Ich bin geneigt, denjenigen zumindest teilweise zuzustimmen, die behaupten, dass in vielen Ländern der Welt der historische Hintergrund und die Erfahrungen aus der Vergangenheit bestimmen, welche Richtung die gesellschaftliche Entwicklung nimmt. Die bemerkenswerten Fortschritte, die in den letzten drei Jahrzehnten in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern stattgefunden haben, deuten darauf hin, dass es trotz deutlicher Unterschiede in der Demographie, der Wirtschaft, der Qualität der Regierungsführung und sogar in der Auffassung von Demokratie dennoch ein Merkmal gibt, das scheinbar viele Länder in ihrem Kampf für Freiheit eint.

Diverse Forschungsartikel, Expertenanalysen und Vergleichsstudien haben meine persönlichen Beobachtungen bestätigt und bringen mich zu der Schlussfolgerung, dass unser jüngster Erfolg, ganz allgemein gesprochen, weitgehend auf Erinnerungen beruht. Aber nicht auf irgendwelchen Erinnerungen. In erster Linie auf solchen, die in der Gesellschaft weit verbreitet sind, sowie auf solchen, die über mehrere Generationen hinweg kontinuierlich und stringent weitergegeben wurden. Inhaltlich hätte es sich um glückliche Erinnerungen an persönliche Lebensleistungen oder traurige an wirtschaftliche oder politische Schwierigkeiten handeln können. Je nach Kontext hätten dies tragische Erinnerungen an unvorstellbare Gewalt und drastische Verluste während des Zweiten Weltkriegs sein können, möglicherweise einige fast verblasste Erinnerungen an die gesellschaftlichen Herausforderungen in einem Land in der Zwischenkriegszeit, oder vielleicht einige aufschlussreiche Erinnerungen an gezielte Grausamkeiten der kommunistischen Regime oder sogar einige inspirierende nostalgische Erinnerungen an Freiheitskämpfer*innen und Widerstandsbewegungen.

Es mag Hunderttausende andere einzigartige Erinnerungen gegeben haben, die im Wesentlichen persönliche Geschichten waren, die innerhalb der Gesellschaft, unter Familienmitgliedern und Freund*innen erzählt, über Generationen hinweg weitergegeben und dann natürlich in eine maßgebliche nationale Historiographie eingebettet wurden. Dies geschah in Estland und anderen baltischen Staaten, in Polen, Ungarn und Rumänien, und dies geschieht immer noch in der Ukraine. Mit diesen Erinnerungen, die mündlich, bildlich oder schriftlich weitergegeben wurden, entwickelte sich auch eine emotionale Verbundenheit unter vielen Bürger*innen, und so entstand in jeder Gesellschaft ein unverwechselbares Mosaik aus Gefühlen, mit denen sich viele identifizierten, als ineinandergreifende Muster im nationalen Gewebe. In jedem mittel- oder osteuropäischen Land hat diese Entwicklung auf unterschiedliche und einzigartige Weise stattgefunden und sich unterschiedlich umgesetzt, aber generell hat dieser erinnerungsbasierte Prozess im vergangenen Jahrhundert dazu beigetragen, den Widerstandswillen der Nationen zu stärken.

Was hat sich seit 1989 verändert? Wo stehen wir heute? Wie groß ist die kognitive Resilienz mittel- und osteuropäischer Gesellschaften?

Während weltweit zahlreiche Angriffe gegen die Demokratie, Freiheitswerte und Menschenwürde stattfinden, erleben wir auch immer mehr, wie versucht wird, unseren Wissensraum durch zahlreiche unverantwortliche Manipulationen in den Nachrichten, politischen Debatten und natürlich geschichtlichen Diskussionen zu erobern. Nicht alle diese Initiativen sind aus dem Ausland gesteuerte Informationseingriffe; einige werden von lokalen Kräften angeregt und durchgeführt, was sie jedoch alle eint, ist die grausame Absicht, in unsere nationale Erzählung einzugreifen und diese möglicherweise umzuschreiben, indem Erinnerungen verfälscht werden.

Bezogen auf die nationale Resilienz in Mittel- und Osteuropa sehe ich eine größere Gefahr in unserer schwindenden Fähigkeit, diesen Angriffen zu widerstehen und uns dagegen zu wehren, weil wir unseren gemeinsamen Informationsraum nicht kollektiv schützen und uns nicht um unsere kognitive Verblendung kümmern. Es ist erwiesen, dass gemeinsame Erinnerungen die geistige Resilienz einer Gesellschaft potenziell verbessern können, während dies gelöschte Erinnerungen nicht können. Gemeinsame Erinnerungen können den Widerstandswillen einer Nation und unseren Willen, ihre Werte zu verteidigen, unterstützen, gelöschte Erinnerungen hingegen nicht.

Unser Immunsystem ist in der Lage, einen schädlichen Fremdstoff, mit dem unser Körper zuvor in Kontakt gekommen ist, schnell und spezifisch zu erkennen. So kann es die entsprechende Immunantwort veranlassen. Diese Fähigkeit wird als immunologisches Gedächtnis bezeichnet. Es stützt sich auf Gedächtniszellen, deren Entwicklung für ein gesundes Leben entscheidend ist.

Als Bürger*innen freier Gesellschaften, die demokratische Werte und die Menschenwürde hochhalten, dürfen wir nicht unterschätzen, was geistige Resilienz für unser Wohlbefinden, unsere Sicherheit und unser Durchhaltevermögen bedeutet. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere gemeinsamen Erinnerungen erhalten bleiben oder sogar zu einer dieser "Gedächtniszellen" in unseren Gesellschaften werden. Wir müssen unbedingt kollektiv wieder die Fähigkeit erlernen, potentiell gefährliche Kräfte zu erkennen, um unsere Resilienz gegen gesellschaftlich schädliche Einflüsse zu stärken.

Fussnoten

Dmitri Teperik ist Geschäftsführer des International Center for Defence and Security in Tallinn. Teperiks aktuelle Forschungsprojekte befassen sich im Rahmen nationaler Verteidigungsstrategien u.a. mit der Empfänglichkeit der Bevölkerung gegenüber feindlichen Ideologien, dem Einfluss ausländischer Propaganda und der Rolle von Social Media.