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Zwischen Sternen und Schnee | bpb.de

Zwischen Sternen und Schnee

Wladimir Kaminer

/ 4 Minuten zu lesen

Ich bin im größten Land der Welt auf die Welt gekommen, wenn es nach mir ginge, hätte ich mir etwas Kleineres gewünscht, man wurde aber nicht gefragt. Meine Heimat war weltweit führend bei grandiosen Bauprojekten, die ins Nichts führten, sie baute ununterbrochen Raketen und schickte sie ins Weltall, siedelte Millionen von Menschen um, versuchte die großen Flüsse umzukehren und neue Städte in der Taiga zu errichten. Der Staat hatte Großes vor, er schaute zu den Sternen hoch und stolperte jedes Mal über die Bevölkerung, die mit ihren kleinbürgerlichen Nöten dem Staat ständig unter die Füße geriet. Die Bevölkerung wollte drei Mahlzeiten am liebsten jeden Tag haben, warmes Wasser das ganze Jahr über, Sachen zum Anziehen, Schuhe, am besten zwei Paar – eins für den Winter und eins für den Sommer, Zimmermöbel und Freizeitangebote, diesen ganzen kleinbürgerlichen Quatsch, der angesichts der großen Ziele lächerlich kleinkariert wirkte. Deswegen bemühte sich der Staat die Bevölkerung umzuerziehen, gleich nach der Geburt begann das Erziehungsprogramm.

Ich wurde im Sommer 1967 in Moskau geboren, in gleichem Jahr wurden 73 (!) erfolgreiche Raketenstarts gemeldet, beinahe jede Woche schoss die sowjetische Regierung Menschen, Tiere und wertvolle technische Geräte in den Himmel, manche kamen zurück, andere gingen im Weltall verloren oder verbrannten in der Atmosphäre, in den Nachrichten wurde über diese Starts als "eine wichtiger Schritt für die erfolgreiche Erschließung des Universums“ berichtet. Die Bilder aus dem Weltall sahen aber ziemlich düster aus, da oben schien es dunkel, kalt und leer zu sein, es war nicht klar, was genau dort zu erschließen sei. Man stellte aber keine Fragen. "Fünfjahresplan in vier Jahren!" lautete die Parole, so als würden wir sonst zu spät im Weltall ankommen, als würde dort jemand auf uns warten, uns suchen oder vermissen. Warum ein Fünfjahresplan in vier Jahren erfüllt werden musste und was wir dann das ganze fünfte Jahr machen sollen, Zigarettchen drehen oder einfach nur zu den Sternen hochschauen? blieb ungeklärt. Niemand in meiner Heimat hatte eine passende Hose. In der Planwirtschaft versuchte der Staat die Bedürfnisse der Menschen staatlich festzulegen und genau auszurechnen, wie viel Nahrung und Textilien sie brauchen, doch irgendwie gelang es der Planwirtschaft nie, die richtigen Mengen herzustellen, es gab entweder zu viel oder zu wenig. Im Jahr meiner Geburt, so erzählte mir mein Vater, gab es zum Beispiel sehr viele Fischkonserven und Seife in den Ladenregalen, aber keine Milch und keine Hosen. Natürlich fragte sich der eine oder andere, wäre es nicht ratsamer gewesen, ein paar Raketen weniger ins All zu schießen und stattdessen von diesem Geld etwas mehr Hosen zu produzieren. Nein war es nicht. Der planwirtschaftlich agierende Staat konnte gut einmalige weltbewegende Projekte realisieren, mit der Produktion der Hosen war er jedoch überfordert. Jeder Bürger hatte nämlich eine andere Größe, manche Bürger nahmen zu, andere ab, die Bürgerinnen und Bürger hatten unterschiedliche Beine, manche waren zu lang oder zu kurz, wie soll man das alles in der Produktion einplanen? Einmal gab es im Laden für den täglichen Bedarf Kinderhosen, die Schlange vor der Tür war riesig. Meine Mutter und mein Vater hielten abwechselnd die Stellung, die kleinen Hosen waren schnell alle und die mittleren Größen gingen nach vier Stunden auch zu Ende. Es war aber zu diesem Zeitpunkt allen egal, welche Größe noch da war, niemand wollte aufgeben, meine Eltern auch nicht. Je länger sie standen umso entschlossener waren sie, wenigstens irgendeine Hose aus dem Laden mit nach Hause zu nehmen. Am Ende hatten sie eine Hose in Übergroße ergattert. Unsere ganze Familie hätte darin locker reingepasst. Meine Oma versuchte mit einer Nähmaschine diese Hose zu verkleinern, es ging aber nicht, also ließen es die Eltern einfach sein. Die Hose schmissen sie in den Schrank, in der Hoffnung, dass ich vielleicht eines Tages zu einem riesengroßen Menschen heranwachse, was aber nicht der Fall war.

Eine passende Hose zu finden schien eine Sache der Unmöglichkeit in dem größten Land der Welt zu sein. Es wird sie nie geben, das wussten die aufgeklärten Bürger. Selbst wenn sich der Staat aufrafft und Mengen von Hosen in den richtigen Größen produzieren lässt, werden sie bereits unterwegs zur Verkaufsstelle verschwinden oder sie werden in unzähligen Lagerhallen verloren gehen oder nach Afrika geschickt, um unsere armen sozialistischen Bruderländer zu unterstützen. Sie werden bei der Bevölkerung nicht ankommen. Deswegen hatten wir überhaupt nie die Wahl zwischen Raketen und Hosen. Die Wahl lautete anders: Entweder sitzen wir da, ohne Hosen und ohne Raketen. Oder wir bleiben ohne Hosen aber mit Raketen. Die zweite Variante war lustiger. Man konnte hoffnungsvoll in den Himmel schauen, die Wolken grüßen und sich ausmalen, was unsere Raketen dahinter gerade trieben. Wir unterstützten also die zweite Variante, obwohl sie eigentlich unserer Unterstützung nicht bedurfte.

Fussnoten

Wladimir Kaminer, geb. 1967 in Moskau, lebt seit 1990 in Berlin. Kaminer studierte Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Mit seiner Erzählsammlung Russendisko sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands. Sein neues Buch Liebeserklärungen erschien 2019 beim Verlag Randomhouse.