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Vor dreißig Jahren – Zeit der Freude und der Hoffnung | Magazin #2019 | bpb.de

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Vor dreißig Jahren – Zeit der Freude und der Hoffnung

Adam Michnik

/ 19 Minuten zu lesen

An den damaligen Novemberabend erinnere ich mich genau.
In meinem Land, in Polen, gingen Dinge von großer Bedeutung vor sich. Seit kurzem gab es in Warschau eine neue Regierung, deren Ministerpräsident war Tadeusz Mazowiecki, langjähriger Berater von Lech Wałęsa, davor katholischer Aktivist und Vertreter des offenen nachkonziliaren Katholizismus. Zu dieser Zeit gab es in Polen einen offiziellen Besuch einer großen Delegation der Bundesrepublik Deutschland mit Bundeskanzler Helmut Kohl, Bundespräsident Weizsäcker und dem Außenminister Genscher. Ich hatte ein Treffen mit Außenminister Genscher. Im Laufe des sehr interessanten Gespräches betrat ein Mitarbeiter des Ministers den Raum und übergab ihm einen kleinen Zettel. Genscher las den Zettel, schaute mich an und sagte: "Die Berliner Mauer ist offen."

Ich stieß einen verwunderten Freudenruf aus, verabschiedete mich und lief in die Redaktion der Gazeta Wyborcza, um auf der ersten Seite einen Kommentar zu schreiben. Das war er:

"Niemand weiß, welche Konsequenzen die tatsächliche Abschaffung der Berliner Mauer haben wird. Gleichwohl ist etwas Unwiderrufliches passiert: Die Schüsse auf Menschen haben aufgehört. In Berlin, im Herzen Europas, hat im Kampf der Freiheit gegen den Stacheldraht die Freiheit gesiegt."

Noch heute mag man kaum glauben, dass es durch einen Zufall dazu gekommen ist. Schließlich hätte die Regierung Ostdeutschlands die Grenze noch schließen können. Günter Schabowski, Mitglied des Zentralkomitees der SED in Ostdeutschland hatte im Fernsehen erklärt: "[…] deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."

Als er gefragt wurde, ab wann dieser Beschluss gelte, fügte er hinzu: "Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich." Ich denke, dass Schabowski selbst nicht wusste, was er da verkündet hatte, denn daraufhin machten sich tausende Berliner in Richtung Mauer auf den Weg, und begannen, sie Ziegel für Ziegel abzubauen.

Aus heutiger Sicht scheint dieser Prozess offensichtlich. Dabei war er gar nicht offensichtlich. Noch im Oktober 1989 hatte Egon Krenz, Vorsitzender der SED, erklärt, er verstehe die "chinesische Lösung", sprich das Massaker an Demonstranten auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens in Peking, die Freiheit für ihr Land gefordert hatten.

Für einen Polen klang das damals bedrohlich: Fühlt euch nicht sicher. Trotz des historischen Erfolges, die die friedliche Demontage der Diktatur war, dachten wir immer daran, dass der Kommunismus für gewöhnlich zu Gewalt greift, wenn er sich bedroht fühlt.

Heute antwortet man unterschiedlich auf die Frage: Warum ist der sowjetische Kommunismus untergegangen? Die einen betonen die Rolle der Ostpolitik und der KSZE-Konferenz in Helsinki, die zur Entspannung beigetragen hatten. Andere heben die Politik von Präsident Carter hervor, die die Menschenrechte zum Motto von Freiheitsbestrebungen gemacht hatte, oder auch die Politik von Präsident Reagan, der die Sowjetunion ein Imperium des Bösen genannt und ihr den totalen ideologischen Krieg erklärt hatte. Eine große Rolle spielte natürlich der Krieg in Afghanistan, der die Diktatoren im Kreml militärisch und politisch geschwächt hatte. Aus heutiger Sicht jedoch war am wichtigsten die Bedeutung der millionenstarken Solidarność, des nationalen Zusammenschlusses der Polen für Freiheit und Unabhängigkeit, die durch ihren Arbeitercharakter die kommunistische Partei und ihre Parolen von der Diktatur des Proletariats gänzlich illegalisierte. Das polnische Proletariat hatte dieser Diktatur die rote Karte gezeigt.

Für einen Polen scheint es also offensichtlich, dass alles in Polen begann. So sah die polnische Abfolge der Geschehnisse aus: eine breite Bewegung der demokratischen Opposition und der Arbeiterkreise, der intellektuellen Elite, der katholischen Kirche mit der historischen Rolle von Johannes Paul II. und seinem Besuch in Polen im Jahr 1979, die Streikwelle im Sommer 1980, deren Krönung der von den Streikenden erzwungene Kompromiss und die Entstehung des Unabhängigen Gewerkschaftsbundes Solidarność waren. Schon damals wurden die ersten Ziegel aus der Berliner Mauer gebrochen.

Das polnische Festival der Freiheit und der legalen Solidarność dauerte mehrere Monate und endete mit der Verhängung des Kriegszustandes. Dann kamen acht lange Jahre des Widerstandes der demokratischen Opposition, die in der Illegalität eingeschlossen war, diskriminiert und interniert wurde, bis zu den Gesprächen am Runden Tisch und den Wahlen am 4. Juni 1989. Die Gespräche am Runden Tisch waren eine historische Leistung der gesamten polnischen politischen Klasse, auch des reformatorischen Flügels der regierenden Kommunisten und wahrscheinlich die größte polnische politische Leistung im zwanzigsten Jahrhundert. Die Juniwahlen hingegen waren ein außergewöhnliches Referendum, und ihr Ergebnis bei den Wahlen zum Senat bedeutete den triumphalen Sieg der demokratischen Opposition über die Diktatur.

Kurz darauf begann das Domino des Niederganges der Diktaturen: Ungarn, wo die Revolution von 1956 und ihre ermordeten Helden rehabilitiert wurden, die DDR, die Tschechoslowakei, Bulgarien, Albanien und letztlich Rumänien. Der Block der von der Sowjetunion dominierten Satellitenstaaten zerfiel wie ein Kartenhaus.

Jedes dieser Ereignisse hatte seinen eigenen Lokalkolorit; jedes hatte seinen inneren und äußeren Kontext. Der innere Kontext war die wirtschaftliche Unrentabilität des planwirtschaftlichen Systems; der äußere Kontext waren die Veränderungen in Russland. Diese Veränderungen haben viele von uns überrascht, worin wir uns nicht von der Mehrheit der Beobachter in der Welt unterschieden.

Viele Jahre lang hatten wir den Heroismus der sowjetischen Dissidenten und ihren Widerstand gegen die Diktatur beobachtet, ihre Samisdat-Publikationen und die Bewegung zur Verteidigung der Bürgerrechte. Dieser Kreis der russischen Unbeugsamen spielte eine durchschlagende Rolle im kollektiven Bewusstsein der russischen Intelligenzija; er veränderte das Bild der russischen Kultur. Aus diesem Kreis gingen drei Nobelpreisträger hervor: Andrei Sacharow, Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky. Die russische demokratische Opposition wurde zu einem offensichtlichen Kontext für reformatorische Tendenzen im Regierungslager. Gorbatschows Perestroika ist ohne das Wissen über die Bewegung der russischen Dissidenten, die über lange Jahre verfolgt, diskriminiert und interniert wurden, nicht verständlich. Die Anführer der Perestroika sahen in den Dissidenten Feinde, aber ohne diese Feinde wäre das große Projekt des politischen Wandels sicherlich nie entstanden.

Der sowjetische Kommunismus verurteilte sowohl demokratische Haltungen als auch konservativ-nationalistische Haltungen. In den einen wie in den anderen sah er eine Bedrohung für seine allmächtig geltende bolschewistische Ideologie. In der Debatte, die im Lager der russischen Dissidenten geführt wurde, sind die Personen Andrei Sacharow und Alexander Solschenizyn gute Beispiele für diese Haltungen. Die Spaltung in Westler und Slawophile aus dem neunzehnten Jahrhundert kam nach hundert Jahren zurück. Sie waren Verbündete, als sie um das Recht auf ihre Meinung gekämpft hatten; ihr Bündnis endete, als sie das Recht auf ihre Meinung erhalten hatten. Das sollte nicht wundern, schließlich handelte es sich um vollkommen verschiedene Meinungen.

Im neunzehnten Jahrhundert stellten sich die Demokratien und die Nationalismen gemeinsam den Diktaturen der konservativen Monarchien der Heiligen Allianz entgegen. Die Revolutionen von 1848/1849 waren ihre gemeinsame Leistung. Man kann sagen, sie waren Kinder derselben Mutter, die einmal das Gesicht der Romantik, ein anderes Mal das Gesicht des aufgeklärten Rationalismus hatte. Oder anders: Sie waren Brüder wie Kain und Abel. Und so wünschte sich Kain in einem bestimmten Moment Abels Tod.

Anders sah es in den Sowjetrepubliken aus. Dort – vor allem in den baltischen Ländern – war der Sinn des Widerstandes offensichtlich: In diesen Ländern bedeutete Freiheit sowohl die persönliche Freiheit als auch die nationale Freiheit, sprich den Weg zum unabhängigen Staat. Ähnlich war es in ukrainischen Städten, in Georgien und in Armenien.

Für uns in Polen war die staatliche Souveränität eine Selbstverständlichkeit. Ein Beispiel dafür war die Solidarność, die große Volksbewegung als allgemeiner Komplott für die Menschenrechte und die Völkerrechte. Diese Bewegung wurde von der Katholischen Kirche und der großen Autorität des Johannes Paul II. unterstützt und bündelte harmonisch drei Tendenzen: das Streben der Arbeitswelt nach Emanzipation, insbesondere der Arbeiterkreise, das Streben nach Wiedergewinnung und Kultivierung der nationalen Identität und natürlich das Streben nach politischer Demokratie, begründet auf den Menschenrechten.

Jedes Land hatte seine Besonderheit, aber überall gab es diese Teilung in demokratische Sensibilität, die sich als Rückkehr zu Europa äußerte, und nationale Sensibilität, die davon zu überzeugen versuchte, zu den Wurzeln, den Tradition und den Volksglauben der Urahnen zurückzukehren. So besannen sich manche Polen auf die demokratische Unabhängigkeitstradition (auf die Polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts und auf Józef Piłsudski), und ihre Gegenspieler auf die nationalistische Tradition von Roman Dmowski und die nationalen Demokraten mit ihrer ethnischen Exklusivität. Es war das Lager von Roman Dmowski, in dem die Slogans "Polen den Polen" und "ein katholischer Staat des polnischen Volkes" entstanden, begleitet von einem brutalen Antisemitismus. Ähnlich war es in den Debatten der Ungarn und Tschechen, der Rumänen und Slowaken. Diese beiden unterschiedlichen Mentalitäten und Sensibilitäten existierten sowohl in Kreisen der antikommunistischen Opposition als auch im Lager der regierenden Kommunisten.

Gorbatschow und Milošević sind zwei klassische Beispiele dieser Unterschiedlichkeit. Während Gorbatschow mit der vorsichtigen Nachahmung der Sozialdemokratie liebäugelte, griff Milošević offen zur Tradition des großserbischen Chauvinismus. Beide sahen, dass Veränderungen notwendig waren. Natürlich ging es hierbei nicht darum, die Macht abzugeben, sondern darum, eine neue Legitimierung zu finden: der eine suchte nach einer anderen Vision in der Zukunft, der andere nach einer neuen Vision in der Vergangenheit.

Jegor Gaidar, der ausgezeichnete, viel zu früh verstorbene Leader der russischen Reformatoren, bemerkt in seinem Buch "Der Untergang eines Imperiums" nüchtern:
"Die Rede von nationaler Größe und nationaler Unterdrückung ist eine politische Atombombe in Ländern, in denen das alte Regime dem Untergang entgegengeht und demokratische politische Institutionen noch nicht entwickelt sind.

Das Problem junger, in Vielvölkerstaaten entstehenden Demokratien ist, dass Parolen, die sich einem politisch unerfahrenen Wähler am besten "verkaufen" lassen, gefährlich sind, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden. Sich in Belgrad in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre dagegen auszusprechen, dass "Serbien groß sein" muss und dass "wir nirgends zulassen, dass man Serben schlägt", war politisch aussichtslos. Auf dem politischen Markt für die Idee zu werben, dass Serbien groß war und sein wird, dass die Führung der Republik niemals zulassen wird, dass Serben in anderen Republiken und Autonomien beleidigt werden, ist einfach. Wenn ein serbischer Führer sich nicht dazu bekennt, findet sich zweifellos ein anderer Politiker, der diese Propaganda im eigenen Interesse zu nutzen versteht."

Über die Jugoslawienkrise schrieb Gaidar:
"Es war nicht schwer vorauszusehen, dass die Politiker in Zagreb, Ljubljana und Sarajevo diese Parolen mit Begeisterung aufgreifen und lediglich das Wort "Serben" durch "Kroaten", "Slowenen" oder "bosnische Muslime" ersetzen würden. Seit die serbische Führung den serbischen Nationalismus als politisch-ideologische Basis verwendete, war Jugoslawiens Schicksal entschieden. Indem sie den Nachbarn gegenüber Gebietsansprüche erhoben, bahnten die serbischen Führer den nationalistischen Führern in den anderen Republiken, die die Angst vor der serbischen Vorherrschaft und territorialen Ansprüchen ausnutzen konnten, den Weg zum Sieg. Kriege in Kroatien, Bosnien und Kosovo wurden unvermeidlich. Es war ein Prozess in Gang gekommen, der Zehntausende von Menschenleben kosten und zur Zwangsumsiedlung von Millionen Menschen führen sollte.

Die politische Agitation, die Völker gegeneinander ausspielte, die vorher in Grenzen zusammen gelebt hatten, die ein nichtdemokratisches Regime willkürlich bestimmt hatte, wurde zum Prolog eines blutigen Konfliktes." In Polen waren der Slogan "Polen den Polen" und die feindseligen Rufe von Homophoben zu hören. Der Nationalismus – dieses Gift unserer Zeit – ist ins Zentrum der Politik eingedrungen.

Das war nicht das Resultat einer Verschwörung des sowjetischen oder amerikanischen Geheimdienstes. Daran glauben die Anhänger von Verschwörungstheorien. Sie glauben, dass gesellschaftliche Prozesse das Werk von Spezialeinheiten sind, vom CIA, vom KGB und auch vom Mossad. Ihr Fehler ergibt sich aus der Überzeugung, dass die Gesellschaft komplett unterdrückt und unfähig ist, Widerstand zu leisten. Dabei tritt Widerstand unerwartet auf, er überrascht alle. Geknebelte und manipulierte Menschen spucken plötzlich die Knebel aus. Es werden vergessene Werte wie Wahrheit, Rechtschaffenheit, Leben nach Prinzipien, Mut, Würde und Ehre laut. Anstelle von Friedhofsstille kommt es zu Freiheits- und Lebenstrubel. So war es 1989, als in Polen die erste nichtkommunistische Regierung entstand, als die Berliner Mauer fiel, als die Massen auf den Straßen in Budapest, Prag, Sofia, Bratislava und Berlin die Freiheit wiedererlangten.

Die Massen forderten die Freiheit für alle. Doch kurz darauf – allmählich – veränderte diese Masse ihr Aussehen, ihren Charakter, ihre Parolen und ihre Träume. Sie hörte auf, Freiheit zu fordern, sie begann, Brot und Spiele zu verlangen. Das war ein Weg, der vom Humanismus über den Nationalismus zur Gewalt führte. Und er kann zur Barbarei führen. Die Masse, die diesem Weg folgte, begann sich in Pöbel zu verwandeln.

Dem Geruch und Geschmack des Pöbels, der von der Leine gelassenen Unverschämtheit begegnete ich 1968 zum ersten Mal, als vor meinen Augen die Barrieren der Anständigkeit in öffentlichen Reden gesprengt wurden. Aber Klügere als ich hatten das schon vorher analysiert. Der größte polnische Humanist, Leszek Kołakowski, hatte schon 1956 über den Pöbel geschrieben, als die Liberalisierung der Regierung neben der Idee der Freiheit auch eine Renaissance des Antisemitismus mit sich brachte:

"Sie zerfallen in verschiedene Arten wie schädliche Insekten: Die einen fordern das Abschlachten der Juden und studieren Broschüren über Ritualmorde, andere sprechen von einer niederen Rasse und einige nur von 'kultureller Fremdheit', noch andere begnügen sich mit einer oft kaum wahrnehmbaren Abneigung, die im Alltag leicht ohne Theorie auskommt. […] Der gemäßigte Antisemitismus der zwanziger Jahre in Polen hat, obwohl er sich auf den ,wirtschaftlichen Boykott‘ der jüdischen Händler beschränkte, doch die Atmosphäre geschaffen, in der die Falanga und Leute wie Fürst Trzeciakow, die später zu Spitzeln der Gestapo und Erpressern der nazistischen Besatzungsmacht wurden, entstehen konnten. Die Nürnberger Gesetze enthielten bekanntlich kein Programm, das die Ausrottung der Juden vorsah, sondern nur den Grundsatz ihrer rassischen Minderwertigkeit. […] Auf diese Weise fördern die gutmütigen Antisemiten das Auftreten der antisemitischen Häscher, die friedlichen Antisemiten züchten Antisemiten heran, die mit Schlagringen und Messern ausgerüstet sind, und die zurückhaltenden Antisemiten ebnen den Weg für die Organisatoren der Pogrome. Die zerstreuten und anscheinend ungefährlichen, einzeln genommen schwachen Atome des Antisemitismus kann man unter entsprechenden Bedingungen blitzartig zu einem Gemenge vereinigen, das sich in einem Verbrechen entlädt. Die heutige Tolerierung der schwächsten Erscheinungsformen des Antisemitismus bedeutet daher die Tolerierung der Pogrome von morgen. Man muß den Schatten des Verbrechens an der Gurgel fassen, ehe er Fleisch wird. Wir erinnern daran, weil die Existenz antisemitischer Herde heute in offenes Geheimnis ist. […] Träger des Antisemitismus ist der Pöbel. […] Der Pöbel hat keine Klassenzugehörigkeit, und seine Zusammensetzung wird nicht auf Grund einer Klassenzugehörigkeit bestimmt, aber er hat eine soziale Aufgabe, auch wenn er aus sozialen Elementen besteht, die verschiedenen Klassen angehören. Der Pöbel erhält seine Gestalt erst in der Masse; wird sie zerstreut, so bewahrt er kein Solidaritätsgefühl, sondern nur ein unklares Bewußtsein der Bereitschaft, diese Bindung wieder aufleben zu lassen, die weder eine Klassen- noch eine nationale Bindung ist und die nur von Fall zu Fall entsteht, oft mit anderem Inhalt. Die Bindung, die der Pöbel schafft, ist unfähig, ein bestimmtes Programm hervorzubringen, sie ist rein negativ und destruktiv, bar jeden Klassenbewußtseins drückt sie nur eine allgemeine, desorientierte Unzufriedenheit aus. Der Pöbel kann nicht vernünftig reagieren, er verträgt keine Diskussion, unterliegt nur den primitiven Einflüssen, ist jeder Demagogie gegenüber hilflos und nur zu schätzen als Werkzeug eines in fremdem Namen vollführten Verbrechens.

Im Pöbel gipfelt eine negative Spannung, die ihre eigene Ursache nicht kennt und sich daher willkürlich in beinahe jede Richtung dirigieren läßt, wenn diese Richtung nur genügend einfach und konkret ist, keine Überlegung oder Selbständigkeit erfordert und alle Hemmungen, sowohl die der Überlegung wie die der Moral, außer Kurs setzt. Der Pöbel kann entgegen den augenscheinlichen Interessen der Mehrzahl seiner Teilnehmer wirken, er wird meist bewußt von außen gelenkt und ist selbst nicht in der Lage, die Form seines Handelns zu bestimmen oder zu organisieren, denn es gehört zu den Grundsätzen seiner Existenz, jede innere soziale Disziplin zu leugnen.

Es war der Pöbel, der sich in der Bartholomäusnacht austobte, in den Tumulten gegen Andersgläubige und in den Judenpogromen. Der Pöbel kann nur das Werkzeug des Rückschritts sein. Er tritt nur in Aktion, wenn der Erfolg und das zahlenmäßige Übergewicht gesichert sind, und er weicht nur der Gewalt. Der Antisemitismus ist die beliebteste Form, die man seinem getrübten Bewußtsein verleihen kann."

Vaclav Havel, tschechischer Schriftsteller, Dissident, politischer Gefangener, und später Präsident der Republik nach dem Untergang der Diktatur, dachte ähnlich. Havels dissidentische Essays prägten das Bewusstsein und das Wertesystem der demokratischen Opposition, nicht nur in der Tschechoslowakei. Seine Biografie war paradox. Er wollte nicht wie sein Meister, der tschechische Philosoph Patočka, der der Kompromisslosigkeit Sokrates‘ treu war. Und er wollte ihr auch treu bleiben, als er Präsident wurde. Damals dachte ich, dass Sokrates zu Perikles geworden ist.

Havel schrieb, kurz nach der Revolution und nach der Wiedererlangung der Freiheit habe sich eine sehr besondere Art der antikommunistischen Besessenheit breit gemacht. Als würden manche Menschen, die jahrelang geschwiegen und sehr darauf geachtet hatten, nicht unangenehm aufzufallen, plötzlich das Bedürfnis verspüren, mit einer gewaltigen Geste die einstige Demütigung und das Gefühl, das sich zuvor nicht bewährt hatte, abzureagieren. Deshalb zielten sie auf diejenigen, die ihnen das am wenigsten verübelten, nämlich die Dissidenten. Sie behandelten sie immerfort als lebendige Gewissensbisse, als Beispiel dafür, dass, wer nicht wollte, sich nicht gänzlich unterordnen musste. Interessanterweise war in Zeiten, als die Dissidenten eine Gruppe verrückter Don Quichotte zu sein schienen, die Ablehnung gegen sie nicht so stark, wie später, als die Geschichte ihnen recht gegeben hatte. Das war zu viel, das konnte man nicht verzeihen! Und je deutlicher wurde, dass die Dissidenten zuweilen niemandem Vorwürfe machten und niemanden beschuldigten (und, Gott bewahre, sich als Beispiel hinstellten), dann wuchs paradoxerweise dieser Zorn umso mehr. Schlussendlich ärgerte sich ein neuer Antikommunist stärker über sie als über Vertreter des alten Regimes.

Daraus entstand eine besondere Legende über die dissidentische Linke, und darüber, dass dies eine geschlossene Elite sei (so wie man die meine als Elite von Menschen wahrnimmt, die jahrzehntelang in Heizungskellern gesessen hatten, oder in Gefängnissen und die sich nicht wichtig getan hatten?), dass sie nicht ausreichend Respekt für die aufgeklärten westlichen Institutionen hätten usw., usw. Viel von dieser Ideologie verriet ein gewisser Artikel, laut dem Dissidenten keinerlei besondere Verdienste am Untergang des Kommunismus gehabt hätten, denn gestürzt hätten ihn normale sich "standardmäßig" betätigende Bürger, dank dessen, dass sie für ihr eigenes Wohl gesorgt hatten, was sicherlich bedeutete, dass sie von Zeit zu Zeit einen Ziegelstein von einer Baustelle mitgehen lassen hatten. Diese Denkweise findet ein starkes Echo in der Gesellschaft, die darin die endgültige Lösung für die Richtigkeit ihrer Lebensentscheidungen sieht, und zwar jetzt, wo man es kann, loben wir den Kapitalismus und verfluchen wir diejenigen, die kritisch über ihn denken, und früher, als man das nicht konnte, da haben wir brav die Kommunisten gewählt, um für uns selbst zu sorgen. Und wer hat die ganze Zeit schlechte Stimmung gemacht? Die linken Dissidenten.

Havel sieht in alledem die "tschechische Kleinheit" und ihre Philosophie: "Kümmer dich um dich selber, misch dich nicht in fremde Dinge ein, bücke dich und ducke dich – wir sind von Bergen umgeben, die Weltstürme fegen über unsere Köpfe hinweg, und dann machen wir auf unserem kleinen Hof, was wir wollen."

Havel kehrt oft zu dem Gedanken zurück: "In unserer modernen Geschichte gibt es wiederholt Situationen, in denen sich die Gesellschaft zu einer Handlung aufrafft, aber dann machen die Vormänner Rückzugsmanöver, weichen aus, schließen einen Kompromiss, manchmal kapitulieren sie, geben etwas auf, opfern etwas, selbstverständlich im Interesse der Rettung der nationalen Existenz. Und die Gesellschaft, zunächst davon traumatisiert, gibt dann schnell alles auf, begreift sozusagen ihre Vormänner, und fällt schließlich in Apathie oder gleich in Ohnmacht. […] So war das in der Zeit nach München, während des Protektorates, in den fünfziger Jahren und 1968 nach der sowjetischen Okkupation. Am Anfang stehen Sätze wie "Sie haben uns verraten", "Sie haben uns verkauft", "Alle haben sich gegen uns verbündet", es geht weiter mit Sätzen des Typs "Es hat sowieso keinen Zweck" und endet mit einem nationalen Schrei, Gerede von "Nationalinteressen" und der stillen Zustimmung zur Verfolgung irgendeiner Minderheit. Es siegt die tschechische Kleinheit in der schlimmsten Bedeutung dieses Begriffs."

Der "Kleintscheche" ist das Symbol für Spießertum und Hass gegen Andersdenkende. Es kommt zu Appellen wie: "Wir entledigen uns der Juden, dann der Deutschen, dann der Bourgeoisie, dann der Dissidenten, dann der Slowaken – und wer wird als Nächster an der Reihe sein? Roma? Homosexuelle? Ausländer überhaupt? Und wer bleibt übrig? Reinblütige Kleintschechen auf ihrem kleinen Hof."

Der "Kleintscheche" drückte sich ab 1980 subtiler aus, nämlich EU-skeptisch. Havels Meinung nach ist dies "doch im Grunde dasselbe Verhältnis zur Welt: Warum sollen wir uns mit jemandem beraten, warum sollen wir auf jemanden hören, warum sollen wir mit irgendeinem Fremdling Macht teilen, warum sollen wir jemand Fremdem helfen, was gehen uns deren technische Normen an […] Wir genügen uns doch selbst – das ist nur das neue Gesicht der altbekannten kleintschechischen Mentalität."

"Aber Achtung:", betont Havel, "Der Kleintscheche erlaubt sich nur dann, die Hörner hinauszustrecken und schließlich Kampflosungen zu rufen, wenn dafür nichts droht; hat er dagegen einen mächtigen und grausamen Gegner vor sich, zieht er sich zurück und ist sogar servil zu ihm." So beschrieb Havel die "kleintschechische" Vision des Pöbels.

Heute, nach dreißig Jahren, beobachten wir in Europa und in der Welt eine Krise der demokratischen Ideen. Symbol für diese Krise sind der Brexit und der Salvinismus, Trump und Putin, Orbán und Kaczyński, die Feinde der Europäischen Union in Frankreich und in Deutschland, unterschiedlich sind die Gründe für diese Abwendung von der Demokratie hin zur muffigen Vergangenheit des Nationalismus. Das ist eine Krise der Identität, verbunden mit der Globalisierung und einer Krise im Denken über die Vergangenheit; das ist ein Defizit demokratischer Prozeduren und Gepflogenheiten; das ist die Theatralisierung und Boulevardisierung des politischen Lebens. Die Antwort auf diese axiologische Leere ist die Überzeugung von der Niederlage des "Demoliberalismus", die Überzeugung, dass Nationalismus und Populismus einen besonderen nationalen Weg anzubieten haben, was gefährlich an die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert. Ressentiments, Frustration, Komplexe, all das diente der Befeuerung der Xenophobie gegenüber Flüchtlingen.

Populismus und Nationalismus dienen, wenn sie in der Opposition sind, als Werkzeug im Kampf um die Macht. Phrasen wie "von den Knien aufstehen" sind ein raffinierter Trick für die primitiv verstandene nationale Würde. Die Nationalisten und Populisten hingegen, die an die Macht gelangen, greifen nach den gleichen Phrasen, um von Problemen abzulenken, die mit der Korruption zusammenhängen, mit der Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit, mit der fatalen Außenpolitik. Da finden sich leicht Feinde in anderen Ländern (Soros!), und das Regieren wird ersetzt durch Operationen der Geheimdienste und durch Manipulation mit der Angst der Menschen.

Eine polnische Psychologin, Teilnehmerin an zahlreichen Protestaktionen zur Verteidigung der Konstitution, der bürgerlichen Freiheiten und Frauenrechte sagt klar: "Es darf keinen Kompromiss mit Neofaschisten geben. Das ist eine brutale, unmenschliche – und verbotene – Ideologie, die sich in Polen in einem Plüschfutteral versteckt hat. Man meint, dass sie, solange sie sich nicht in hohem Maße der Gewalt bedient, gleichberechtigt neben anderen Ideologien existieren dürfe. Aber das stimmt nicht!

Ich will dieses Futteral abziehen und zeigen: schaut hin, daher kommt der Rassismus in seiner reinen Form, daher kommt der zerstörerische Hass. Für solche Ansichten gibt es keinen Platz in unserem gemeinsamen Raum. (…) Man darf nicht zu Hass aus rassischen Gründen aufrufen, wenn du das tust, dann stehst du außerhalb der zivilisierten Gesellschaft und musst deren Ablehnung zu spüren bekommen. Es gibt immer mehr Faschisten, weil sie das Gefühl haben, ungestraft zu bleiben."

Die Zukunft erscheint heute neblig und unklar. Deshalb will ich als Konklusion Meinungen anführen, die auf mögliche Perspektiven in der politischen Debatte hinweisen.
Marine Le Pen erklärte den Franzosen: "Den Franzosen wurde der Patriotismus genommen, schweigend haben wir gelitten, doch man hat uns nicht erlaubt, unser Land zu lieben."

Dieser düstere, für Dummköpfe berechnete Idiotismus, die in der Lage sind zu glauben, Schwarz sei Weiß, zeigt gut, dass die Krankheit, an der Länder wie Polen und Ungarn leiden, eine universelle Dimension hat. Umso mehr muss man die Franzosen daran erinnern, was den Patriotismus eines de Gaulle vom Patriotismus eines Pétain oder Laval unterscheidet. Frau Le Pens Traum ist wohl ein Frankreich mit braven, kasernierten Franzosen, die dämliche Phrasen nachplappern, und das gänzlich befreit ist von dem Joch des Geistes von Pascal, Montesquieu, Diderot, und auch von Camus und Bernanos. Das wäre ein sehr trauriges Frankreich, aber ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Eine Gesellschaft von willenlosen, passiven Menschen, konformistisch gegenüber jeder Regierung, jedweder kreativen Kraft entledigt und verdammt zum Schicksal einer infantilen-soldatischen Gemeinschaft – nein, ein solches Frankreich kann sich niemand vorstellen. Frankreich hat die Welt mit der Freiheit angesteckt und dieses Freiheitsvirus lässt sich nicht wieder in einer Flasche verschließen.

Liu Yiaobo, der chinesische Verteidiger der Menschenrechte, Teilnehmer an den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989, Literaturkritiker und Essayist, schließlich Nobelpreisträger, eingesperrt und im Gefängnis so lange festgehalten, bis er seinen Krieg gegen die unerbittliche Krankheit Krebs verloren hatte, freigelassen zwei Tage vor seinem Tod, damit er außerhalb des Gefängnisses sterben konnte, sagte bei seinem letzten Prozess, während er den Richtern in die Augen sah, die keine Richter waren, sondern brutale Funktionäre des Regimes:

"Ich sehe dem Tag entgegen, an dem meine Nation ein Land ist mit Meinungsfreiheit, wo die Äußerungen eines jeden Bürgers gleich behandelt werden, wo verschiedene Werte, Ideen, Glaubensrichtungen und politische Ideen sowohl miteinander im Wettbewerb stehen als auch friedlich koexistieren können, wo sowohl die Ansichten der Mehrheit als auch der Minderheit gleich garantiert werden, und wo insbesondere die politischen Ansichten, die sich von denen gegenwärtig an der Macht unterscheiden, umfassend respektiert und geschützt werden, wo alle politischen Ansichten unter der Sonne ausgebreitet werden, damit die Leute wählen, wo jeder Bürger seine Meinungen ohne Angst äußern kann, und wo niemand unter keinerlei Umständen politische Verfolgung erleidet, weil er abweichende politische Ansichten geäußert hat.

Ich hoffe, dass ich das letzte Opfer der endlosen geistigen Inquisition Chinas sein werde und dass von jetzt an niemand mehr wegen seiner Äußerungen beschuldigt wird. Meinungsfreiheit ist die Grundlage der Menschenrechte, die Quelle der Menschlichkeit und die Mutter der Wahrheit. Die Meinungsfreiheit zu strangulieren, tritt die Menschenrechte mit Füßen, erdrosselt die Menschlichkeit und unterdrückt die Wahrheit." Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer kann ich in einer Welt, die regiert wird von einem chinesischen Führer, der an einen brutalen Kaiser der Mandarinen-Epoche erinnert, in einer Welt eines Putin und Trump, in einer Welt eines Erdoğan, eines Orbán, eines Kaczyński nicht viel hinzufügen zu diesen mutigen Worten voller Würde und Wahrheit.

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller

Die Welt, veröffentlicht am 10.12.2010, Externer Link: https://www.welt.de/politik/ausland/article11527131/Liu-Xiaobos-Rede-Ich-habe-keine-Feinde.html

Fussnoten

Adam Michnik, geb. 1946 in Warschau, wurde als Mitglied der Solidarność mehrmals inhaftiert. 1988 nahm er an den Gesprächen des "Runden Tisches" teil und wurde Mitglied des ersten freien Parlaments. 1989 gründete er die Tageszeitung "Gazeta Wyborcza", die er seitdem als Chefredakteur leitet.