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Menschen des Wortes | Magazin #2019 | bpb.de

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Menschen des Wortes

Żanna Słoniowska

/ 4 Minuten zu lesen

An jenem Tag, als über die neue Welt
Gott sein Gesicht neigte, da wollte
das Wort der Sonne Lauf aufhalten,
wollten ganze Städte zerstören Wortes Gewalten.

Vor mir liegen zwei Fotos aus dem Familienarchiv, auf denen ich Szenen einer halblegalen antikommunistischen Demonstration sehe – sie fand am 7. Juli 1988 vor dem Hauptgebäude der Universität in Lemberg statt. Auf dem ersten ist ein Grüppchen von Menschen auf dem Sockel des Iwan-Franko-Denkmals zu sehen, das sind die Organisatoren, auf dem zweiten – eine gewaltige Menschenmenge ringsum, so dichtgedrängt, dass einem Angst und Bange wird.

Hauptthema der Demonstration ist das Wort: Gefordert werden mehr Rechte für die ukrainische Sprache, die Errichtung eines Denkmals für den Dichter Taras Schewtschenko. Außerdem ist von den Menschenrechten die Rede. Die freie Ukraine wird nicht erwähnt: dieser Traum ging allzu weit. Nicht auf dem Bild ist Wjatscheslaw Tschornowil, Organisator der Versammlung, Journalist und Dissident, der für seine allzu dreisten Äußerungen und Artikel mehrere Male in Lager in Mordowien und Jakutien verbannt war. Der Mann ganz rechts ist Iwan Makar, der Leiter der Versammlung. Die am weitesten rechts stehende Frau ist Wiktoria Andrejewa – zum Zeitpunkt der Aufnahme 31 Jahre alt, zehn Jahre jünger als ich heute, ihr Gesicht kommt mir sehr jugendlich vor – auch Journalistin und die zweite Leiterin der Versammlung, im Privatleben meine Mutter. "Ich bin ein paar Jahre zu spät geboren, um für meine Ansichten ins Gefängnis zu wandern," sagt sie jedes Mal, wenn wir uns diese Fotos ansehen.

Früher als sie geboren war nicht nur der hier anwesende Wjatscheslaw Tschornowil, sondern auch Serhij Paradschanow, ein herausragender, der Ukraine verbundener armenischer Regisseur. 1965, bei der Premiere seines genialen Films "Die Schatten der vergessenen Ahnen" (Shadows of Our Ancestors oder Wild Horses of Fire) in Kiew bat Tschornowil diejenigen, die gegen die Verhaftung ukrainischer Intellektueller protestieren, sich von ihrem Platz zu erheben. Die Mehrzahl derjenigen, die aufstanden, kamen früher oder später ebenfalls ins Gefängnis.

Die Menschen mit den verbissenen Gesichtern, die wir auf der ersten Fotografie sehen, haben ebenso wie diejenigen, die in Massen gekommen sind, um ihnen zuzuhören, keine Ahnung, dass in drei Jahren die Sowjetunion zusammenbrechen wird. Als die Versammlung zu Ende geht, holen sie die unter den Jacken versteckten, verbotenen gelb-blauen Flaggen hervor und einige Dutzend Personen landen im Arrest. Der Anführer Iwan Makar wird das nächste halbe Jahr im Gefängnis verbringen und meine Mutter wird die folgenden sieben Abende zum Verhör auf die Staatsanwaltschaft geladen werden.

Und was tue ich an jenem schönen Julitag? Ich bin elf Jahre alt und verbringe die Ferien mit meinem Vater am Meer – wir sind allein geflogen, Mutter wird später nachkommen, sie hat in Lemberg etwas zu tun, von dem man nicht laut spricht. Ganze Tage verbringe ich beim Tauchen, nutze die Tatsache, dass mein Vater nicht besonders gut auf mich aufpasst. Er sonnt sich am Strand und hat keinen Schimmer davon, dass er wenige Monate später, nachdem Mutter auf weiteren Demonstrationen aufgetreten ist und weitere Artikel geschrieben hat, vom KGB vorgeladen und ihm das Ultimatum gestellt wird: Entweder lässt du dich von deiner Frau scheiden oder du verlierst deine Stelle. Mein Vater arbeitete im Lemberger Apparat der Kommunistischen Partei, 1988 glaubte er, die Partei würde ewig existieren.

Im warmen Meer zu tauchen, zwischen Unterwasser-Felsen dahinzugleiten, ist ein Traum. Wir machen Urlaub in Sudak, einem Städtchen auf der Krim – einer Halbinsel am Schwarzen Meer, die zur unabhängigen Ukraine gehören wird, bis sie 2014 von Russland annektiert wird. Auf der Krim wurde der Schriftsteller und Regisseur Oleh Senzow geboren, mein Altersgenosse, der nach einer fingierten Anklage wegen Terrorismus’ 2014 zu zwanzig Jahren im russischen Lager verurteilt wird. Senzow macht lustige Filme und schreibt surrealistische Erzählungen, auch jetzt im Lager versucht er sich durch das Schreiben zu retten – die sicherste Zuflucht vor der Unterdrückung, die Menschen des Wortes offen steht.

Wasyl Stus, der bei der Premiere des Filmes 1965 ausrief: "Wo ist die Wahrheit? Warum ist es nicht erlaubt, die Wahrheit zu sagen?" konnte sich nicht durch das Schreiben retten: die Wärter des russischen Gefängnisses, in das er für seine Dichtung gesteckt wurde, vernichteten demonstrativ die Sammlung seiner 300 Gedichte. Stus wird 1985 hinter Gittern sterben, also drei Jahre vor dem Ereignis, das ich hier beschreibe, und sechs Jahre vor dem Untergang des Imperiums.

Ganze Städte zerstören Wortes Gewalten. Der am Anfang zitierte Nikolaj Gumiljow hatte keine Gelegenheit mehr, viel über die Bekämpfung des sowjetischen Totalitarismus durch das Wort zu erfahren, denn er selbst, Aristokrat, Reisender und Dichter, wurde von den Schergen dieses Systems gleich zu Anfang ihrer Geschichte ermordet. Das war 1921. Seine letzte Ruhestätte ist, so wie die meines Urgroßvaters, unbekannt.

Deutsch von Olaf Kühl

Fussnoten

Żanna Słoniowska, Polnische Romanautorin, geboren 1978 in Lemberg (Lwów). Ihr Debüt-Roman "Das Licht der Frauen" (Original: Dom z witrażem) wurde 2016 mit dem Conrad-Preis ausgezeichnet. Er ist 2018 auf deutsch im Kampa-Verlag erschienen.