Am Ende des Jahres 1989 war ich überzeugt, wir würden nie wieder einen dramatischeren Wechsel erleben als den Untergang des Kommunismus.
Es war ein Irrtum: bereits 1992 war die Tschechoslowakei, in der ich geboren wurde, zerfallen. Nur ein paar Jahre später befand sich die slowakische Gesellschaft mitten in einem dramatischen Gefecht um ihre demokratische Zukunft. Die beiden historischen Brüche, wie räumlich begrenzt sie auch waren, gingen mir viel tiefer unter die Haut als der Fall des Eisernen Vorhangs. Heute, 30 Jahre später, beobachte ich mit Staunen, wie die westliche Zivilisation ins Zittern gerät unter dem Andrang von Lüge und Demagogie, die ich aus den Zeiten der Diktatur kenne. Aus der Entfernung sieht es so aus, als hätte 1989 lediglich einen Startschuss für eine überstürzte Entwicklung der Geschichte abgegeben, in die wir hineingeschlittert sind, ohne zu ahnen, dass Demokratie auch verlieren kann.
Wenn ich heute die Briten betrachte, die den Brexit gewählt haben, die Amerikaner, die für Donald Trump gestimmt, die Italiener, die sich für die Populisten entschieden oder die Ungarn, die unter Viktor Orbán bereits einige ihrer Freiheiten eingebüßt haben, dann bin ich geradezu verwundert, dass die Slowaken immer noch eine relativ funktionierende Demokratie am Laufen halten. Dafür gibt es allerdings eine Erklärung: Sie wissen nur zu gut, dass sie sie vor zwanzig Jahren beinahe verloren hätten.
In den ersten Jahren nach dem Untergang des Kommunismus mussten die Slowaken einige Traumata bewältigen. Im Unterschied zu den Tschechen, mit denen sie im gemeinsamen Staat gelebt hatten, war ihnen der Kommunismus relativ gut in Erinnerung. Sie verbanden das damalige Regime mit gestiegenem Lebensstandard und schneller Modernisierung ihrer etwas rückständigen, in erschwerten Bedingungen einer bergigen Landschaft lebenden Nation.
1989 begrüßten die Slowaken zwar die Freiheit, sie rechneten aber nicht mit dem rasch sinkenden Lebensniveau, das die Wirtschaftsreformen begleitete. Das machte ihnen Angst, und die Angst mündete in Wellen von Nationalismus. Dieser führte zum Zerfall der Tschechoslowakei, so dass sich 1993 die überraschten Slowaken in einem selbständigen Staat mit Vladimír Mečiar an der Spitze wiederfanden, einem chaotischen Diktator und notorischen Lügner, der perfekten Vorwegnahme von Donald Trump.
Ein Teil der Nation liebte ihn, weil er versprochen hatte, sie vor dem Kapitalismus zu schützen, er aber verschenkte die Staatsbetriebe an seine Freunde. Die Slowakei nahm damit eine Entwicklung vorweg, die ein Vierteljahrhundert später andere Länder durchlaufen sollten.
Anhand dieses slowakischen Phänomens prägte Fareed Zakaria seinen Begriff der "illiberalen Demokratie", den heute Viktor Orbán so stolz im Munde führt. Und die damalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright nannte die Slowakei "das schwarze Loch Europas".
Das Land verstand allmählich, dass seine demokratische Zukunft samt der EU-Mitgliedschaft bedroht war. Da wachten die demokratischen Eliten auf – Künstler, Journalisten, Bürgeraktivisten wie auch die politische Opposition - und mobilisierten die Gesellschaft, um in den Wahlen von 1998 Mečiar eine Niederlage zuzufügen.
Mit Erfolg. Diese Erfahrung stellt bis heute ein Schlüsselerlebnis dar. Der Sieg über den Diktator machte die Slowaken zu einer politischen Nation, die begriffen hat, dass sie zur Europa gehört - und dass sie die Demokratie zum Überleben braucht.
2004 trat das Land gemeinsam mit weiteren Nationen des mittleren und östlichen Europas der Europäischen Union bei. Das war bereits eine große Sache, die Slowaken hatten aber das Bedürfnis, ihre Zukunft durch eine tiefere Integration abzusichern – und nahmen als einziger mitteleuropäischer Staat 2009 die EU-Währung an.
Bis zu diesem Punkt sieht das Ganze wie eine erfolgreiche Story über eine kleine Nation aus, die nach der ihr von der Geschichte dargebotenen Chance griff und sie in bare Münze umwandelte. Inzwischen ist jedoch auch die Verletzlichkeit und Anfälligkeit der slowakischen Demokratie zu sehen. Korrumpierte Politiker sitzen in der Regierung: der im letzten Jahr ermordete investigative Journalist Ján Kuciak war bekannt für seine Recherchen über die Korruption unter den Politikern.
Seine Ermordung rief die größten Demonstrationen seit 1989 auf den Plan. Organisiert wurden sie von jungen Menschen, die bereits in die Freiheit hineingeboren worden waren. Sie schafften es, einen großen Teil der Gesellschaft zu mobilisieren, und heute wissen wir alle, dass der Kampf um die Demokratie kein Ende hat und dass ihr Sieg nie im Voraus verbrieft ist.
Es war ein seltsames Gefühl, dreißig Jahre nach der Wende gemeinsam mit anderen Menschen auf öffentlichen Plätzen zu stehen und nach Anstand und Demokratie zu rufen.
In dem Moment verstand ich, welcher Fehler uns unterlaufen war, als wir im November 1989 Demonstrationen organisiert und die Verantwortung für die Zukunft unseres Landes in unsere Hände genommen hatten. Wir unterlagen der Illusion, Demokratie sei ein natürliches System, das sich von allein vervollkommnen würde. Wir waren zutiefst überzeugt, dass - wäre die Demokratie einmal eingeführt -, sie nie in ein autoritäres Regime umkippen könne. Denn wir waren uns sicher – so konnte man es schließlich auch bei Francis Fukuyama in seinem berühmten Text über das Ende der Geschichte nachlesen –, dass es zur liberalen Demokratie keine Alternative geben kann.
Letztendlich lebte auch der Westen in dieser Illusion. Das entschuldigt uns aber nicht. Seit ein paar Jahren gehen in der Slowakei Niedertracht und Lüge herum, von konspirativen Medien und Populisten verbreitet. Der Kampf um Wahrheit und Demokratie wird zwar in der gesamten westlichen Zivilisation geführt, er muss aber von jeder Nation allein ausgefochten werden. Die Slowakei wäre heute besser dran, wenn wir 1989 begriffen hätten, dass dieses Jahr nicht das Ende des Kommunismus bedeutete, sondern den Anfang eines langen Kampfes. Wenn wir verstanden hätten, dass Demokratie alles andere als selbstverständlich ist.
Aus dem Slowakischen von Eva Profousová