I.
Am 26. Februar rief mein slowakischer Kollege an. Etwas Furchtbares sei passiert. Bis dahin ahnte ich nicht, wie finster das Furchtbare sein kann.
Es war der Mord an meinem Kollegen und Freund Jáno Kuciak. In den letzten 18 Monaten hatten wir gemeinsam über das Eindringen der italienischen Mafia in slowakische Regierungsstellen recherchiert. Hatten fast jeden Tag miteinander gesprochen. Seine letzte Nachricht erreichte mich nur wenige Stunden vor seiner Ermordung.
Der Mord an Jáno und seiner Freundin Martina erschütterte nicht nur die slowakische, sondern auch die tschechische Gesellschaft sehr. In dieser Hinsicht hatte der Auftraggeber die Gesellschaft gewaltig unterschätzt. Er hatte angenommen, ein Mord an einem jungen Journalisten, dessen Namen nur bestimmte Leserkreise kennen, würde ohne größere Aufregung durchgehen. Da hatte er sich geirrt. Zum Glück.
Jáno und seine Freundin lebten zu bescheiden, als dass man der Öffentlichkeit einen Bären vom bestechlichen Journalisten oder Auftragsschreiber hätte aufbinden können.
Jáno war zu jung, um in irgendwelche politische Spielchen verwickelt zu sein. Und so konnte sich keiner erdreisten, über die möglichen Beweggründe für seine Recherchen über die Korruption der Mächtigen und den Dreck der Unantastbaren zu spekulieren.
Martina war eine viel gefragte Archäologin, also konnte keiner erzählen, sie wäre in Kämpfe um Macht, Bestechungsgelder oder etwas Ähnliches involviert, die als Motiv für einen Auftragsmord hätten dienen können. Außerdem wollten die beiden ein paar Wochen später heiraten. Also konnte sich jeder problemlos vorstellen, wie ungerecht und furchtbar dieser Mord für die beiden jungen Menschen und für die ganze Gesellschaft war.
II.
Vor dem Mord an Jáno und Martina ahnten wir Journalisten (vor allem die investigativen) nicht, wie die Gesellschaft zu uns stand. Der tschechische Präsident Miloš Zeman hatte bei einer öffentlichen Veranstaltung mit einer Waffenattrappe in der Hand posiert, auf der stand: "Für die Journalisten", und alle fanden es lustig. Ähnlich hatte er auch mit Vladimir Putin gewitzelt, Journalisten gehörten eliminiert. Der damalige slowakische Ministerpräsident Robert Fico hatte Journalisten als Pressenutten, Hyänen und Staatsfeinde bezeichnet.
Außerdem hatten wir lange, komplizierte und pessimistische Texte über den Raubbau am Staat geschrieben, die keine einfachen Lösungen geschweige denn das Versprechen einer besseren Zukunft brachten. Als Journalisten waren wir damals durch eine existenzielle Krise gegangen. Warum taten wir, was wir taten, für welchen Preis wollten wir es tun – und war überhaupt jemand an unserer Arbeit interessiert?
Aber dann kam die Antwort. Ein Journalist wurde ermordet und die Menschen gingen auf die Straße. Sie verlangten eine unabhängige Untersuchung, den Rücktritt des Polizeipräsidenten und schließlich auch die Abdankung von Ficos Regierung. Jeden Freitag gingen die Menschen auf die Straße und sie wurden nicht weniger. Im Gegenteil. Ihre Anzahl wuchs und auch Bürger, die nicht aus Bratislava kamen, sondern aus kleineren Städten – aus Gegenden also, die Robert Fico und seine Partei SMER (Richtung) bis dahin für ihre Bastion hielten – brachten ihren Unwillen zum Ausdruck.
Eine der Losungen, die zum Motto der Demonstrationen "Für eine anständige Slowakei" wurden, lautete "Wir sind die, auf die wir gewartet haben". Die Gesellschaft begriff, dass sie eine viel größere Macht in den Händen hielt, als sie bis dahin geahnt hätte. Sie emanzipierte sich. Sagte ihre Meinung.
Schließlich dankte die Regierung ab und nach dem Rücktritt des Polizeipräsidenten nahmen die Ermittlungen an Geschwindigkeit zu. Vier Personen wurden festgenommen und wegen Anstiftung zum Auftragsmord angeklagt. Im Moment warten sie in slowakischen Gefängnissen auf die Gerichtsverhandlung. Unter ihnen ein ehemaliger Polizist, ein Soldat und die Partnerin eines mächtigen Geschäftsmannes – Menschen wie er galten bis vor Kurzem als unberührbar.
Die Frage nach dem Auftraggeber bleibt allerdings offen. Obwohl die Polizei einen Hauptverdächtigen hat, wurde dieser bis jetzt nicht angeklagt. Er muss nicht unbedingt allein gewesen sein. Die Linie zwischen organisiertem Verbrechen, Politik und Geschäftsinteressen ist in der Slowakei nämlich sehr dünn und unscharf.
Aber auch die Verurteilung des Täters wird einen großen symbolischen Wert haben. Einerseits, weil nur sehr wenige Journalistenmorde überhaupt untersucht und noch seltener die Täter und Auftraggeber schuldig gesprochen werden.
Andererseits auch, weil die Wunde, die der Mord an zwei jungen Menschen in der slowakischen Gesellschaft hinterlassen hat, dadurch vielleicht endlich zu heilen beginnt. Hier geht es nicht nur um uns Journalisten. Wir, die wir Jáno und Martina persönlich kannten, werden vielleicht eines Tages gelernt haben, mit diesem Verlust zu leben. Damit abfinden werden wir uns aber nie. Es geht vor allem um die Gesellschaft selbst, die ihren Glauben an den Rechtsstaat und das gerechte Funktionieren der Institutionen wiedergewinnen kann.
III.
Der Schmerz über den Verlust von Jáno kehrt immer wieder zurück, intensiv, oft aus heiterem Himmel. Ich schaffe es, Texte zu bearbeiten, in denen es um die Art und Weise geht, wie Jáno und Martina umgebracht wurden, ich kann mit ihren Geschwistern sprechen, die Profile der Mörder studieren. Dann aber kommt mir ein kurzes Video von einer Geburtstagsfeier in die Hand, wo für eine halbe Sekunde János leises und herzliches Lachen erklingt, und die Aufnahme wird plötzlich zum traurigsten und hoffnungslosesten Streifen der Welt.
Manchmal werde ich gefragt, ob ich dem Mord auch etwas Positives abgewinnen kann. Nein. Kann ich nicht. Ich habe begriffen, dass es auch tiefschwarze Wolken gibt, die keinen Silberrand haben. Trotzdem halte ich die Tatsache, dass sich Tausende von Menschen hinter uns Journalisten gestellt haben, für das wichtigste Ereignis des letzten Jahres. Eines Jahres, in dem wir unsere Naivität und Sorglosigkeit eingebüßt haben, eines Jahres, das uns als Gesellschaft gezwungen hatte, erwachsen zu werden.