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Ein Lied als kleiner Waffenschein | Magazin #2019 | bpb.de

Magazin #2019 Vorwort Ein Lied als kleiner Waffenschein Pole: Der tiefe Schatten von 1989 geht zurück Der kurze Brief zum langen Licht 15. März 1989 2018 – Das Jahr, in dem wir erwachsen wurden Zone 1989 war erst der Anfang eines endlosen Kampfes um Demokratie Menschen des Wortes Die friedlichen Revolutionen Dreißig Jahre danach. Mit dem Degen. Wandtexte Europa Vor dreißig Jahren – Zeit der Freude und der Hoffnung Der kleine Trompeter Impressum

Ein Lied als kleiner Waffenschein

Marcel Beyer

/ 2 Minuten zu lesen

Man rufe sich folgendes Lied vor das innere Ohr, gesungen von einem Chor quirliger, mit einem für Menschen gefährlichen Virus infizierter Labormäuse, genau in dem Moment, da sich die Labortüren öffnen und die Killernager in die fremde Welt dort draußen ausschwärmen: "Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, / unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. / Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, / das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft / und die Tiere der Erde / und die Fische um Fluß sind die Heimat."

Wer dieses 1951 geschriebene Lied nicht im Ohr hat, der kann es nachhören, zum Beispiel auf dem Album "Wir lieben das Leben" (ETERNA 810 018, Folge 7 der Reihe ›Unser Leben im Lied‹), oder auf "Anmut Sparet nicht noch Mühe (Musik zur Fest- und Feiergestaltung)" von 1968 (ETERNA 810 037, Folge 18 der Reihe ›Unser Leben im Lied‹), oder auch auf "Fröhlich sein und singen – Lieder der Thälmann-Pioniere" von 1971 (NOVA 885 013), gesungen nicht vom Chor der Labormäuse, nicht vom Chor der Folkloregruppe der TU Dresden, nicht vom Chor des Stephan Hermlin-Ensembles der Hochschule Potsdam, und schon gar nicht vom Gefangenenchor "Bautzen II", sondern vom Pionierchor "Edgar André" des Berliner Rundfunks unter der Leitung von Ilse Naumilkat.

Ein akustisches Alptraumgeschehen, das in die Zeilen mündet: "Und wir lieben die Heimat, die schöne / und wir schützen sie, / weil sie dem Volke gehört, / weil sie unserem Volke gehört."

Ein fröhliches Lied vom Stacheldraht. Unser Volk. Unsere Nation. Unser Gras, unser Korn, unser Vogel. Komm zu den Grenztruppen. Unser Besitz. Mehr Polizei. Schütze die Heimat. Unser Feld, unser Wald, unsere Luft. Vorsicht, Schußwaffengebrauch. Unsere Erde, unser Fluß, unser Fisch. Absaufen. Grenzen dicht. Unsere Sprache. Unsere Kultur. Fremd im eigenen Land. Integriert erst mal uns. Heimat. Heimat. Heimat.

Nichts kennt weniger Erbarmen als der Klang. Er frißt sich in unser Gehirn, setzt sich in seinen Strukturen fest, bleibt abrufbar auf Lebenszeit. Und er vererbt sich, über Generationen hinweg. Heute findet man den Text auf den Seiten antisemitischer Verschwörungs'theoretiker'. Ein Lied, das aggressive DDR-Nostalgiker und westdeutsche Nationalnulpen zusammenbringt.

Ein Lied als kleiner Waffenschein.
Die Mäuse fiepen.

Fussnoten

Marcel Beyer, 1965, arbeitete als Lektor der Literaturzeitschrift "Konzepte" und schrieb für "Spex". 1991 erschien Beyers erster Roman "Das Menschenfleisch". 2016 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.