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Kybernetische Aussichten
In der französischen Zeitung Le Monde vom 28. Dezember 1948 veröffentlichte der Dominikanermönch Pater Dubarle eine Rezension des im gleichen Jahr erschienenen Buchs Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine von Norbert Wiener, dem Begründer der Kybernetik. In der Buchbesprechung von Dubarle heißt es:
"Eine der interessantesten dadurch eröffneten Aussichten ist die der rationalen Regelung menschlicher Angelegenheiten, insbesondere derjenigen, die die Gemeinschaften angehen und eine gewisse statistische Gesetzmäßigkeit zu zeigen scheinen, wie etwa das Phänomen der menschlichen Meinungsbildung. Kann man sich nicht eine Maschine vorstellen, die diese oder jene Art von Information, etwa Information über Produktion und Verkauf, sammelt und daraus als Funktion der menschlichen Durchschnittspsychologie und der in einem gegebenen Augenblick meßbaren Mengen bestimmt, welches die wahrscheinlichste Entwicklung der Lage sein könnte? Könnte man sich nicht sogar einen Staatsapparat denken, der alle Systeme politischer Entscheidungen entweder unter einer Herrschaft vieler über die Erde verteilter Staaten oder unter der anscheinend viel einfacheren Herrschaft einer menschlichen Weltregierung umfaßt? Nichts hindert uns heute, an so etwas zu denken. Wir können von der Zeit träumen, in der die machine à gouverner die gegenwärtige offensichtliche Unzulänglichkeit des mit der herkömmlichen politischen Maschinerie befaßten Gehirns aus dem Wege räumen wird zum Guten oder zum Bösen." (zit. nach Wiener 1958: 174).
Pater Dubarle meinte im Jahr 1948, dass "– und vielleicht glücklicherweise –" diese machine à gouverner "noch nicht für die nahe Zukunft zu erwarten" sei, denn "der Umfang des zu sammelnden und rasch zu verarbeitenden Informationsmaterials in seiner Gesamtheit" und die "Probleme der Voraussagestabilität [liegen] noch weit jenseits dessen, was wir zu beherrschen ernsthaft erträumen können" (ebd.: 175).
Heute, nur einige Jahrzehnte später, liegen die von Dubarle genannten technischen Aspekte nicht mehr weit jenseits unserer Vorstellungen, sondern sind in Gestalt von Big Data und Künstlicher Intelligenz ein Teil des kommunikativen Alltags und der politischen Wirklichkeit geworden. Die technischen Voraussetzungen zur Bewältigung dieser "Gesamtheit" der Daten liegen inzwischen vor. Ein sich ausdehnendes "digitales Universum" wird mittels gigantischer Speicherkapazitäten und massiver paralleler Rechnerstrukturen verwaltet. Auch eine "gewisse statistische Gesetzmäßigkeit" in der "menschlichen Meinungsbildung", von der Pater Dubarle sprach, soll mithilfe von Big-Data-Analysen erfasst werden können: social physics als neuer Weg zum Verständnis menschlichen Verhaltens (vgl. etwa Externer Link: socialphysics.media.mit.edu).
So zeigte der vergangene US-amerikanische Wahlkampf eindrucksvolle Beispiele der gezielten Ansprache von Wählerinnen und Wählern mithilfe digitaler Technologien und psychometrisch-statistischer Verfahren (Mikro-Targeting). Die Firma Cambridge Analytica z. B. setzt in ihren nicht transparent nachvollziehbaren Werbeversprechen auf die ihr zur Verfügung stehenden 5.000 Datenpunkte von über 230 Millionen US-Bürgerinnen und -Bürgern und die "erprobte Verbindung" von "predictive analytics", "behavioral sciences" und "data-driven ad tech": "to drive your voters to the polls and win your campaign" (CA 2017). Ob dieses Unternehmen mithilfe datengetriebener Wahlkampfstrategien "Donald Trump mit zum Sieg" verholfen hat (Grassegger/Krogerus 2016), wurde sehr kritisch und kontrovers diskutiert. Gegenüber derartigen "sensationalistischen Meldungen und Erwartungen" setzt Andreas Jungherr in diesem Band auf Gelassenheit und die differenzierte Reflexion der Rahmenbedingungen.
Festzustellen ist, dass vielfältige datengetriebene und digitaltechnisch realisierte Formen des "Wahrscheinlichkeitsdenkens" als predictive analytics zum Einsatz kommen, z. B. bei der Vorwegnahme von Konsumentscheidungen (predictive marketing), der Bewertung der Kreditwürdigkeit (scoring), der Steuerung von Bildungsprozessen (learning analytics) oder der vorausschauenden Polizeiarbeit (predictive policing). Auf die damit verbundenen möglichen Diskriminierungsrisiken und datenschutzrechtlichen Regulierungsoptionen verweist Peter Schaar in diesem Band.
Technologische Treiber
Das Jahr 2002 kann als Beginn des digitalen Zeitalters bezeichnet werden, da seitdem global mehr digitale als analoge Daten vorliegen (Hilbert/López 2011). Die Menge der jährlich erzeugten und kopierten digitalen Daten verdoppelt sich alle zwei Jahre (EMC/IDC 2014). Digitale Daten bilden den Rohstoff, sie sind informationsökonomisch "das neue Öl" für die weitere Raffination. In Hinblick auf die Verteilung und Nutzung digitaler Daten ist indes von einer Informationsasymmetrie auszugehen: So wurden im Jahr 2013 zwei Drittel aller digitalen Daten von Konsumentinnen und Konsumenten und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erzeugt oder erfasst, aber 85 % des Datenuniversums lagen in der Verantwortung von privaten Unternehmen (ebd.). Die schärfste Form dieser Informationsasymmetrie zeigt sich als weder nachhaltige noch demokratische Überwachungsökonomie (Lanier 2014), in der Nutzende des Netzes alternativlos ihre Daten an Unternehmen zur intransparenten Weiterverarbeitung und Wertschöpfung übergeben müssen, um weiterhin Nutzende zu bleiben.
Neben der digitalen Datafizierung ist die fortschreitende Vernetzung ein technologischer Treiber gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Das Internet steht prototypisch für eine Netzwerkform, die das traditionelle Rundfunkmodell mit einigen wenigen Sendern und vielen direktional erreichten Empfängern ablöst: Knoten im Netz können sowohl Sender als auch Empfänger sein – mit weitreichenden Folgen für die gesellschaftlichen und politischen Kommunikationsverhältnisse, die zudem durch dazwischenstehende Intermediäre, wie z. B. Suchmaschinen oder Plattformen sozialer Medien, mitgeprägt werden. Insbesondere die sozialen Medien und ihre Nutzungskontexte veränderten durch die Vervielfachung der Kanäle, die erhöhte Interaktionsgeschwindigkeit und die qualitativ-inhaltlichen Verschiebungen die politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse (siehe Kneuer in diesem Band). Nach dem "Internet der Computer" und dem "Internet der Menschen" (Social Web) folgt das "Internet der Dinge". Prinzipiell jedes technische Objekt der Welt, vom Auto bis zur Zahnbürste, könnte im Internet adressierbar sein. Seit 2009 gibt es mehr vernetzte Dinge des Internets als Menschen auf der Erde (Evans 2011). Dieses Zahlenverhältnis wird sich in den kommenden Jahren weiter in Richtung der vernetzten Dinge verschieben.
Durch die Vernetzung der Welt mit Sensoren kann die Welt weiter und tiefer datafiziert werden. Schon Smartphones verfügen über eine Vielzahl von Sensoren. Viele Geräte erfassen und messen Luftdruck, Beschleunigung, Berührungen, Lage im Raum, Helligkeit, Luftfeuchtigkeit, Magnetfelder, Annäherungen, Temperatur u. a. m. Mit dem Internet der Dinge überträgt sich die digitale Sensorisierung, die als dritter technologischer Treiber zu betrachten ist, über den Körper in den Raum: von den wearable technologies über das smart home bis zu den connected cars.
Der vierte Treiber kann als Algorithmisierung bezeichnet werden. Algorithmen sind formalisierte Verfahren zur Lösung eines Problems in Form von eindeutigen, vollständigen und endlichen Handlungsanweisungen. Algorithmisierungen sind allgegenwärtig in der digitalen Gesellschaft. Auf Plattformen im Netz angezeigte Inhalte unterliegen einer algorithmischen Filterung und algorithmisch gesteuerte Social Media Bots schalten sich in politische Kommunikationsprozesse ein: Effekte, die Auswirkungen auf die politische Polarisierung und Willensbildung haben (siehe Busch in diesem Band). Die wachsende Leistungsfähigkeit der Prozessoren und die Trainingsmöglichkeiten ("maschinelles Lernen") mithilfe von massenhaft verfügbaren Daten erschließen neue Anwendungsfelder. Ein kognitives System, wie etwa IBM Watson, programmiert man nicht, sondern man "arbeitet" mit ihm; es "lernt" aus inzwischen acht natürlichen Sprachen und unstrukturierten Datenquellen. Das System wird in der Medizin, der Wirtschaft und Logistik erfolgreich eingesetzt.
Stefan Holtel (2014) sieht in einem Szenario "überraschende Konsequenzen für den Politikbetrieb", da das kognitive System Watson beispielsweise "die Aussagen von Politikern und Regierung in Echtzeit dem "Fakten-Check" unterziehen [könnte]. Damit würde sich der politische Diskurs sehr schnell thematisch verdichten und beschleunigen. Watson könnte aus der permanenten Analyse aller digitaler Medien (Blogs, Facebook, Zeitungen, Foren) ableiten, welche Themen sich als gesellschaftliches Mem abzeichnen, stabilisieren und auf die Agenda der Tagespolitik gehoben werden sollten. Aus einer Vielzahl unstrukturierter Datenquellen extrahierte sich der jeweils aktuelle "Wählerwille". Das verschaffte der Regierung einen Zeitvorsprung, um zu reagieren und der Opposition die Chance, neue Themen aufzugreifen." Dieses Szenario illustriert die offene Projektionsfläche für neue Technologieanwendungen und ihre Potenziale für die Übernahme weiterer, bislang exklusiv menschlicher Handlungsfelder, wie den journalistischen Faktencheck. Künstliche, intelligente Agenten bringen sich in politische Kommunikation ein und verschieben kritische Reflexion über ihre Aussagen in die Blackbox der Algorithmen. Voraussehbar ist der Ruf nach Transparenz auf Seiten der Algorithmen und neuen Kompetenzen (algorithmic awareness) auf Seiten der menschlichen Kommunikatoren.
Soziotechnische Wechselwirkungen
Die vier genannten technologischen Treiber – Digitalisierung, Vernetzung, Sensorisierung und Algorithmisierung – formen die medientechnische Basis. Im Sinne des Medientheoretikers Marshall McLuhan sind diese medialen Substrate nur das "Erdgeschoss": "Man kann daher nicht dort stehenbleiben" (Debray 1994: 67), sondern muss die Operationen, Wechselwirkungen, sozialen und kulturellen Nutzungskontexte einbeziehen. Medien und Technologien stehen in keinem deterministischen, sondern in einem wechselseitigen Verhältnis zu den gesellschaftlich-kulturellen Formen und der Öffentlichkeit: Es ist "immer das Zusammenspiel von Technologien, die mediale Kommunikation ermöglichen und vorstrukturieren, mit dem Handeln gesellschaftlicher Akteure, ihren Interessen und Werten, das die laufende Transformation von Öffentlichkeit gestaltet" (siehe Jarren/Klinger in diesem Band).
In diesem laufenden und noch in weiten Teilen unregulierten Transformationsprozess (ebd.) veröffentlichen beispielsweise Leaks-Plattformen bisher nicht allgemein zugängliche Informationen und stehen in einem "Spannungsfeld zwischen Transparenz, Informationskontrolle und politischer Kampagne" (siehe Hintz in diesem Band). Webforen z. B. stellen eine innovative Form der Öffentlichkeit dar und sind Orte des Aushandelns diskursiver Werte und Regeln (Netiquette). Der Erhalt und die Pflege deliberativer Qualität im Sinne des argumentierenden, respektvollen und wertschätzenden Kommunikationsverhaltens im virtuellen Raum scheint angesichts von Hassreden und Shitstorms zunehmend schwierig (siehe Kersting in diesem Band, vgl. auch Kaspar u. a. 2017). Als Antwort auf diese Transformationseffekte und ihre Steuerbarkeit wird neben regulatorischen Maßnahmen, z. B. das umstrittene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) gegen Hassreden und Fake News im Netz, auf die Kompetenz der handelnden und kommunizierenden Subjekte gesetzt.
Medienkompetentes Subjekt
Die in bildungspolitischen Diskursen wiederholt bekräftigten bestehenden und neuen Anforderungen an die Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger in der digitalen Welt beziehen sich zumeist auf den reflektierten, selbstbestimmten, verantwortlichen und partizipativen Umgang mit Medien- und Informationstechnologien, Daten und Informationen. Ein solches Bündel von Kompetenzen und Qualifikationen lässt sich entlang verschiedener Begrifflichkeiten umgreifen, die jeweils verschiedene Spezifizierungen und Dimensionen, zum Teil auch Überschneidungen aufweisen: Medienkompetenz (Tulodziecki 2016, Gapski 2001), Digitalkompetenz, Datenkompetenz, Informationskompetenz (Hapke 2012, Treude 2011) sowie ihre englischsprachigen Pendants, z. B. Media and Information Literacy (MIL, UNESCO o. J.) u. a. m.
Die Verwendung des Begriffs "Medienkompetenz" beschränkte sich bis zu Beginn der 1990er Jahre auf die medienpädagogische Fachdiskussion. In der 24-bändigen Brockhaus-Ausgabe von 1996 sucht man ihn vergeblich. Erst seit 1995 und mit der gesellschaftlichen Diffusion des WWW findet sich dieser Schlüsselbegriff verstärkt in der massenmedialen Berichterstattung (Gapski 2001). Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung "Deutschlands Zukunft gestalten" (2013) ist er achtmal genannt. "Medienkompetenz" ist selbst ein massenmediales Konstrukt, dessen Konjunktur im gegenwärtigen Strukturwandel der modernen funktional differenzierten Medien- und Informationsgesellschaft begründet liegt. Einerseits regt die Forderung nach mehr Medienkompetenz in pädagogischen, wirtschaftlichen, rechtlichen oder politischen Diskursen die massenmediale Berichterstattung immer von neuem an, andererseits verdeckt die Griffigkeit des Motivs vom medienkompetenten Individuum den komplexen Strukturwandel, der sich durch die digitale Transformation vollzieht.
Das medienkompetent gedachte Subjekt zeigt sich im Hinblick auf die individuelle Beherrschung und aktive Mitgestaltung als Latenzphänomen mit der Funktion des Schutzes bestehender Strukturen (Luhmann 1987: 459 f.). Die Rede vom "Fitmachen" des Einzelnen und von der "digitalen Selbstverteidigung" ist griffig, greift allein aber zu kurz, denn der digitale Wandel hat ökologische Auswirkungen auf Individuen, Organisationen und gesellschaftliche Zusammenhänge: "Offensichtlich ist eine andere Art von tief greifenden, strukturellen und explizit politischen Interventionen gefordert" (Morozov 2015: 7).
Neue Kompetenzherausforderungen
Das Zusammenspiel von Digitalisierung, Vernetzung, Sensorisierung und Algorithmisierung prägt die "Nächste Gesellschaft" (Baecker 2007). Individuen bleiben herausgefordert, medienkompetent in digitalen Ökosystemen zu handeln und sich souverän in "Datenlandschaften" (Ochs 2015) zu bewegen. Dass die Forderung nach neuen Kompetenzen den jeweiligen medientechnologischen Innovationen folgt, zeigt die Geschichte der Medienpädagogik, die als "Geschichte der pädagogischen Reaktionen auf die jeweils "neuen Medien" und die durch sie hervorgerufenen gesellschaftlichen Irritationen" bezeichnet werden kann (Hüther/Schorb 1997: 245). Gegenwärtig stellt sich die Frage, wie tief die gesellschaftlichen Irritationen durch das beschriebene Zusammenspiel reichen. Inwieweit fordern sie mehr als technokratische oder modische Anpassungsqualifizierungen als Antworten auf mediale Hypes ein? Ist die Medienbildung mit bestehenden Ansätzen ausreichend ausgestattet oder müssen qualitativ neue Theorie- und Praxiszugänge insbesondere in Kooperation mit der informatischen Bildung (Tulodziecki 2016) entwickelt werden? Ohne erschöpfende Antworten auf diese Fragen geben zu können, sollen im Folgenden einige Herausforderungen für die Medienbildung in Form von sieben Begriffspaaren thesenartig skizziert werden (Gapski 2015, 2016: 22 f.):
Werkzeuggebrauch/Umweltverhalten: Das Leben in informatisierten, vernetzten Digitalwelten unterscheidet sich vom bewussten Griff zum Medium als einem technischen Werkzeug – Aufenthalt und Verhalten statt Nutzung und Beherrschung; andauerndes medien- und informationsökologisches Denken und Handeln statt eines befristet reflektierten Zweck-Mittel-Einsatzes.
Unerfahrbarkeit/Betroffenheit: Globale Überwachung und Informationsasymmetrien im Datenkapitalismus bleiben in ihren direkten Folgen für den Einzelnen weitestgehend abstrakt und nur in Einzelfällen erfahrbar. Dystopien und Zukunftsszenarien veranschaulichen wiederholend vertraute Folgen und entziehen der Gegenwart politisch wirksame Betroffenheit.
Allmachtsunterstellung/Ergebung: Die den Internet-Konzernen und Nachrichtendiensten unterstellte Allmacht, auf alle persönlich relevanten Daten zugreifen zu können, befördert eine fatalistische Grundhaltung. Die ohnehin problematische Aussage "Ich habe doch nichts zu verbergen" wird zur Ergebung "Ich kann doch sowieso nichts verbergen".
Selbstverteidigung/Komfortzone: Zum Schutz der Privatsphäre werden alternative Suchmaschinen, Anonymisierung und Verschlüsselung empfohlen. Der Einsatz dieser Techniken setzt selbst Vertrauen in Dienste voraus und führt bei konsequenter digitaler Selbstverteidigung zur kommunikativen Abkapselung und zum Ausstieg aus den komfortablen digitalen Ökosystemen der Internet-Konzerne.
Datensparsamkeit/Datenüberfluss: Die medienpädagogisch empfohlene und angeleitete Datensparsamkeit wirkt anachronistisch angesichts der Datenmassen, die im Überfluss schon automatisch generiert werden. Im fortgeschrittenen Internet der Dinge führt die Handlungsmaxime der Datenvermeidung letztlich zum gesellschaftlichen Totalausstieg. Durch die veröffentlichten Daten der anderen können mit Wahrscheinlichkeiten Datenprofile über die eigene Person erschlossen werden. Das Heft des eigenen datenkritischen Handelns halten auch andere und Algorithmen in den Händen.
Abstraktionsdynamik/Unreflektierbarkeit: Algorithmen und insbesondere maschinelles Lernen entziehen sich durch Dynamik, Komplexität und Abstraktion und Unternehmensinteressen einer Einsicht. Blackbox-Systeme dehnen sich aus und beziehen Umwelt- und Metadaten ein. Aus belanglosen Daten können brisante Schlüsse gezogen werden. Mit dem Ende der belanglosen Daten aber werden alle Daten bedeutungsvoll. Alle Daten sind indes weder reflektier- noch handhabbar.
Manipulationsverdacht/Algorithmenvertrauen: Traditionell richtet sich Medienkritik häufig auf die Bearbeitung des Manipulationsverdachts. Neben den code-gebundenen Manipulationsverdacht tritt eine Rationalitätsunterstellung, die mitunter schwer zu entkräften sein kann, weil sie datengetrieben, selbst optimierend und vermeintlich objektiv ist: das Vertrauen in Algorithmen einerseits und die Bekämpfung rationaler Diskriminierungen und algorithmischer Spaltungen andererseits.
Zu den einzelnen Beiträgen
Angesichts der allgegenwärtigen Durchdringung von Informations- und Medientechnologien stellt die zielgruppenspezifische Förderung von Medienkompetenz eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar. Die Förderung beginnt bereits im Kindesalter, sollte sich über die Bildungskette fortsetzen und an formalen (z. B. Schulen oder Hochschulen), non-formalen (z. B. Jugendeinrichtungen oder Betrieben) und informellen Bildungsorten (z. B. in Familien oder unter Peers) stattfinden.
Angela Tillmann beschreibt die Zugangswege und Aneignungsweisen von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf digitale Informationen in konvergenten Medienwelten. Vor dem Hintergrund kinder- und jugendspezifischer Nutzungsformen, z. B. die Auswahl von humorvollen Videos auf YouTube und ihre Verbindung zum Elternhaus und zu den Peers, zeigt sich in der Konsequenz, dass politische Bildung und Medienbildung "eng miteinander verknüpft" sind.
Diese enge Wechselbeziehung greifen Bardo Herzig und Alexander Martin auf und fragen nach Möglichkeiten der Strukturierung und Messung von Medienkompetenz. Für eine erfolgreiche Förderung von Medienkompetenz in der Schule müssen indes weitere Bedingungen, die den Unterrichtseinsatz und Schulentwicklungsprozesse betreffen, erfüllt sein.
Sandra Aßmann unternimmt den Versuch einer systematisierenden Standortbestimmung in Zusammenhang mit den aktuell diskutierten medienbildungspolitischen Positionen und Strategien, wie etwa der KMK-Strategie "Bildung in der digitalen Welt" (2016) oder der Dagstuhl-Erklärung "Bildung in der digitalen vernetzten Welt" (2016).
Den aktuellen Stand der Medienkompetenzförderung in Schulen beschreibt Birgit Eickelmann auf Basis von empirischen Forschungsergebnissen und theoretischen Überlegungen zu Schulentwicklungsprozessen auf den Ebenen der Organisations-, Unterrichts-, Technologie- und Personalentwicklung. Eine besondere Rolle kommt darüber hinaus der Professionalisierung der Lehrerausbildung hinsichtlich medienpädagogisch-didaktischer Inhalte zu.
Die vielfältige außerschulische Medienbildung reicht vom Kindergarten über die offene Jugendarbeit bis hin zur überbetrieblichen Berufsbildung. Ihre Prinzipien und Strukturen im Hinblick auf die Förderung von Medienkompetenz arbeiten Niels Brüggen und Guido Bröckling in heraus.
Die Förderung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung sollte sich nicht auf technische Kompetenzen für bestimmte Medienformate beschränken, sondern nach Anja Hartung-Griemberg ein "Denken in Alternativen und damit eine Erweiterung von Sichtweisen auf Selbst und Welt anregen". Denn auch im Erwachsenenalter werden durch themenzentriertes, medienkompetentes Handeln neue – politische – Möglichkeiten der Teilhabe erkundet.
Die Professionalisierung der Medienkompetenzförderung betrifft nicht nur Lehrkräfte im Schulbetrieb, sondern auch Berufspraktikerinnen und -praktiker in der politischen Bildung. Aus medienpädagogischer Perspektive schlussfolgert Kai-Uwe Hugger, dass über Weiterbildungsmaßnahmen hinaus entsprechende Kompetenzen für pädagogische Berufe bereits in der Ausbildung gefördert und mit medienpädagogischen Fachkräften besetzte Stellen auch in der politischen Bildung eingerichtet werden sollten.
Die wechselseitige Verbindung zwischen Medienbildung und politischer Bildung gewinnt in der "Nächsten Gesellschaft" (Baecker 2007) weiter an Bedeutung – schließlich gilt es, den Sinn- und Kontrollüberschuss, der mit der Einführung des Computers in die gesellschaftliche Kommunikation entstanden ist, auch politisch zu bearbeiten. Nicht zuletzt muss der medienkompetente Zoon Politikon dazu einen Diskurs über die Frage führen, wie wir in Zukunft leben wollen.
Literatur
Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt/Main.
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Debray, Regis (1999): Für eine Mediologie, in: Engell, Lorenz u. a. (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur, Stuttgart, S. 67 – 76.
EMC/IDC (2014): EMC Digital Universe with Research & Analysis by IDC. The Digital Universe of Opportunities: Rich Data and the Increasing Value of the Internet of Things, Externer Link: https://germany.emc.com/leadership/digital-universe/2014iview/executive-summary.htm (Stand: 20.06.2017).
Evans, Dave (2011): Das Internet der Dinge. So verändert die nächste Dimension des Internet die Welt, Externer Link: http://www.cisco.com/web/DE/assets/executives/pdf/Internet_of_Things_IoT_IBSG_0411FINAL.pdf (Stand: 20.06.2017).
Gapski, Harald (2001): Medienkompetenz. Eine Bestandsaufnahme und Vorüberlegungen zu einem systemtheoretischen Rahmenkonzept, Wiesbaden.
Gapski, Harald (2015) (Hrsg.): Big Data und Medienbildung. Zwischen Kontrollverlust, Selbstverteidigung und Souveränität in der digitalen Welt, München-Düsseldorf, Externer Link: http://www.grimme-institut.de/publikationen/schriftenreihe/big-data (Stand: 20.06.2017).
Gapski, Harald (2016): Medienkompetenz 4.0?, in: merz, Heft 4, S. 19 – 25.
Grassegger, Hannes/Krogerus, Mikael (2016): Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt, in: Das Magazin, Externer Link: https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/ (Stand: 20.06.2017)
Hapke, Thomas (2012): Informationskompetenz in einer neuen Informationskultur, in: Sühl-Strohmenger, Wilfried (Hrsg.): Handbuch Informationskompetenz, Berlin, S. 36 – 48.
Hilbert, Martin/López, Priscila (2011): The World’s Technological Capacity to Store, Communicate, and Compute Information, in: Science, Heft 6025, S. 60 – 65, Externer Link: http://www.martinhilbert.net/WorldInfoCapacity.html (Stand: 20.06.2017).
Holtel, Stefan (2014): Flüssige Demokratie durch die Hintertür? Wie "IBM WATSON" Politik und Gesellschaft aufmischen könnte, Externer Link: https://re-publica.com/de/14/session/flussige-demokratie-durch-hintertur-ibm-watson-politik-und-gesellschaft-aufmischen-konnte (Stand: 20.06.2017).
Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (1997): Medienpädagogik, in: dies./Brehm-Klotz, Christiane (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik, München, S. 243 – 251.
Kaspar, Kai/Gräßer, Lars/Riffi, Aycha (Hrsg.) (2017): Online Hate Speech, München-Düsseldorf, Externer Link: http://www.grimme-institut.de/publikationen/schriftenreihe/p/d/online-hate-speech-perspektiven-auf-eine-neue-form-des-hasses/ (Stand: 20.06.2017).
Lanier, Jaron (2014): Wem gehört die Zukunft?, Hamburg.
Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme, Frankfurt/Main.
Morozov, Evgeny (2015): "Ich habe doch nichts zu verbergen.", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 11 – 12, S. 3 – 7.
Ochs, Carsten (2015): BIG DATA little privacy? Eine soziologische Bestandsaufnahme, in: Richter, Philipp (Hrsg.): Privatheit, Öffentlichkeit und demokratische Willensbildung in Zeiten von Big Data, Baden-Baden, S. 169 – 186.
Treude, Linda (2011): Das Konzept Informationskompetenz – Ein Beitrag zur theoretischen und praxisbezogenen Begriffsklärung, Berlin.
Tulodziecki, Gerhard (2016): Konkurrenz oder Kooperation? Zur Entwicklung des Verhältnisses von Medienbildung und informatischer Bildung, in: MedienPädagogik, Heft 25, S. 7 – 25, Externer Link: http://www.medienpaed.com/article/view/425/424 (Stand: 20.06.2017).
UNESCO (o. J.): Media and Information Literacy, Externer Link: http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/media-development/media-literacy/mil-as-composite-concept/ (Stand: 20.06.2017).
Wiener, Norbert (1958): Mensch und Menschmaschine, Frankfurt/Main-Berlin.