Inhaltsbeschreibung
Spätestens seit der Corona-Pandemie ist die Vulnerabilität von Menschen, Gruppen und Gesellschaften breiter in das öffentliche Bewusstsein getreten. Der Begriff zielt aber längst nicht mehr vorwiegend auf spezielle medizinische Bedrohungslagen, denn in einer sensibilisierten Gesellschaft ist auch das Bedürfnis nach Schutz vor Verwundungen durch Hassrede im Internet, in öffentlichen Funktionen und Debatten oder in sexueller Konnotation gewachsen. Die jüngere Rechtsprechung habe, so die Rechtswissenschaftlerin und Philosophin Frauke Rostalski, diese gesellschaftlichen Erwartungen aufgegriffen und entsprechende Verletzungen vermehrt unter Strafe gestellt.
In ihrem Essay wirft sie die Frage auf, inwieweit dies eine Folge der Verschiebung von Werten zulasten der Freiheit sei: Bedeute die offenkundig abnehmende gesellschaftliche Resilienz in Verbindung mit immer mehr Strafbewehrung nicht den Verzicht auf Freiheit für alle, auch für die Vulnerablen selbst? Lassen sich dem Empfinden von Vulnerabilität Grenzen ziehen, und ist ein bis in die Tiefe persönlicher Empfindungen reichender rechtlicher Schutz überhaupt realistisch oder wünschenswert? Rostalski bewertet nicht nach moralischen Maßstäben, ob und inwieweit Vulnerabilitäten zu dulden seien. Sie möchte eine Debatte darüber anregen, wie sich das berechtigte Streben nach Schutz vor Verletzungen mit den Freiheitsbedürfnissen der gesamten Gesellschaft bestmöglich verbinden lässt.