Einleitung
In Deutschland ist Armut ein Randphänomen, das - zumeist nicht lebenslängliche, sondern temporäre - Schicksal einer Minderheit.
I. Dimensionen der Armut in Lateinamerika
Es gibt eine umfangreiche Debatte über die Probleme des Messens von Armut.
Hier soll nicht auf die auch in Lateinamerika intensiv geführte Messdebatte
Großer Umfang: In Lateinamerika bilden die Armen keine "Randschicht",
Elementarer Charakter: Zwar dürfte in Lateinamerika für die Armen - auch die extrem Armen - nicht die Gefahr des Verhungerns bestehen, und die handlichen Weltbank-Kriterien mit dem Pro-Kopf-Haushaltseinkommen von einem US-Dollar pro Tag ("extrem arm") und zwei US-Dollar pro Tag ("arm") ergeben für Lateinamerika wenig Sinn.
Zählebiges Strukturproblem: Die Armutsraten sind in erheblichem Maße konjunkturabhängig. So stiegen sie in den achtziger Jahren (dem als "verlorene Dekade" bezeichneten ökonomischen Krisenjahrzent) und fielen in den konjunkturell günstigen neunziger Jahren. Diese Schwankungen weisen auf das Problem hin, dass die Anzahl derjenigen, die ein armutsnahes Einkommen beziehen und bei schlechter Konjunkturentwicklung Gefahr laufen, unter die statistische Armutsgrenze zu sinken, recht hoch ist. Aus der Abnahme der Armutsrate in den neunziger Jahren darf man keineswegs auf einen langfristigen Trend zur Armutsreduktion schließen. Zwar ging der Anteil der Armen zwischen 1990 und 2000 von 48,3 auf 43 Prozent zurück und derjenige der extrem Armen von 22,5 auf 18 Prozent.
Kumulation von Benachteiligungen: Die Armen schneiden gegenüber den Nicht-Armen nicht nur in Bezug auf die verschiedenen Aspekte des Lebensstandards (Einkommenshöhe, Gesundheitsversorgung, Wohnverhältnisse, Ernährung etc.), sondern in allen Bereichen schlechter ab. So haben sie in der Regel miserabel bezahlte, unsichere, sozialrechtlich nicht abgesicherte Jobs, sie sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung betroffen und absolvieren weniger Schuljahre. Für diese Gruppe gilt de facto auch nicht das Prinzip der Rechtsgleichheit. Von der Polizei etwa werden sie gemeinhin wie eine Art Staatsbürger zweiter Klasse behandelt.
Allgemeinheitscharakter: Es sei noch einmal hervorgehoben, dass das lateinamerikanische Armutsphänomen, schon weil es nahezu die Hälfte der Bevölkerung betrifft, nicht in erster Linie als "Problemgruppenphänomen" begriffen werden sollte. So ist es zwar richtig, dass Armut unter den Arbeitslosen besonders verbreitet ist. Man sollte sich aber davor hüten, statistisch erfasste Arbeitslosigkeit als wichtigsten Indikator für soziale Notlagen in Lateinamerika zu betrachten. Denn Arme können sich in der Regel keine (offene) Arbeitslosigkeit leisten. (Selbst für die im so genannten "formellen Sektor" Tätigen, die ganz überwiegend nicht zu den Armen zählen, existiert nur in einigen Ländern - und das lediglich in Ansätzen - eine Arbeitslosenversicherung.) Von Armut sind in Lateinamerika Kinder und Jugendliche besonders betroffen, sie machen über die Hälfte der Armen aus, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung weniger als 50 Prozent beträgt.
"Modernisierung" der Armut: Man kann konstatieren, dass sich die Armut Lateinamerikas "modernisiert", ein modernes Gesicht angenommen hat. So bilden, dem zunehmend urbanen Charakter Lateinamerikas entsprechend, Stadtbewohner inzwischen die Mehrheit (über 60 Prozent) unter den Armen, und im Einklang mit der allgemeinen Bildungsexpansion haben inzwischen auch die meisten Armen für einige Jahre die Schule besucht. Auch die Kinderzahl hat abgenommen. Die traditionelle Vorstellung von den kinderreichen, analphabetischen campesino-Familien als den typischen Armen Lateinamerikas entspricht nicht der heutigen Realität. Nach den Angaben der Lateinamerikanischen Entwicklungsbank zeichnet sich die für die untersten drei Einkommensgruppen typische lateinamerikanische Familie durch folgende Merkmale aus: 3,3 Kinder, 5 Ausbildungsjahre des Familienvaters, 6,9 erwartete Ausbildungsjahre für die Kinder.
Unsicherheit als Hauptcharakteristikum: Die Armen, die sich mehrheitlich im informellen Sektor durchschlagen, leben von der Hand in den Mund. Ihre Lebenslage ist von Unsicherheit gekennzeichnet, eine langfristige Lebensplanung ist gar nicht möglich. Wie Larissa Adler Lomnitz zu Recht feststellt, besteht das Hauptproblem dieser Gruppe nicht darin, "wie sie mit einem unzureichenden Einkommen leben, sondern wie sie die wiederkehrenden Perioden des Null-Einkommens überleben"
II. Armut und Ungleichheit
Es gibt drei Indizien dafür, dass zwischen Armut und Ungleichheit in Lateinamerika ein systematischer Zusammenhang besteht. Zum einen wird dies durch einen Vergleich zwischen den Regionen deutlich. So dürfte das Ausmaß an Armut in Lateinamerika auch damit zusammenhängen, dass hier die Einkommen ungleicher verteilt sind als in allen anderen Weltregionen, nicht nur jenen, in denen die modernen Industrieländer beheimatet sind. So belaufen sich die Gini-Koeffizienten der Einkommensverteilung
Zum anderen zeigt der innerregionale Vergleich, dass zwar höher entwickelte Länder gewöhnlich geringere Armutsraten aufweisen als weniger entwickelte, gleichzeitig lässt sich aber ein systematischer Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und dem Ausmaß an Armut aufzeigen. So ist die Armutsrate in Costa Rica geringer als in Mexiko und Brasilien, die zwar beide ein höheres Pro-Kopf-Einkommen, aber auch eine höhere Einkommenskonzentration als Costa Rica zeigen.
Von der Erkenntnis ausgehend, dass sich das Armutsproblem in Lateinamerika nicht allein durch ein stärkeres Wirtschaftswachstum überwinden lässt, hat die CEPAL in Modellberechnungen simuliert, wie sich eine Verringerung der jetzigen Einkommensungleichheit auf die Armutsraten auswirken würde. Sie ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass bereits kleine Reduktionen der Einkommenskonzentration zu einer beachtlichen Milderung der Armut führen würden.
III. Armut und Modernisierung
Wolfgang Zapf mag recht haben, wenn er feststellt, dass es zur Modernisierung, wie sie sich in Westeuropa und den USA vollzogen hat, keine realistische Alternative gibt.
In Lateinamerika haben Modernisierungsprozesse (Urbanisierung, Industrialisierung, Bildungsexpansion, Wachstum des Dienstleistungssektors) auf der Basis einer von extremer sozialer Ungleichheit gekennzeichneten Agrargesellschaft stattgefunden. Zwar ist der Anteil der im Agrarsektor Beschäftigten stetig gesunken, die Bildungsexpansion hat erhebliche Fortschritte gemacht, und Lateinamerika ist inzwischen außerordentlich stark urbanisiert. Aber der Industrialisierungsprozess erwies sich als zu schwach, um im ausreichenden Maße produktive Arbeitsplätze im modernen, formellen Sektor zu schaffen, die das Schrumpfen des Agrarsektors hätten kompensieren können. Folge war die Aufblähung des tertiären Sektors (des Dienstleistungssektors), der weitgehend die Charakteristiken eines informellen Sektors angenommen hat und als Sammelbecken für die Armen dient.
Ohne die staatlich betriebene Politik der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI), die seit der Weltwirtschaftskrise bis in die achtziger Jahre in Lateinamerika dominierte, wäre die Industrialisierung vermutlich noch schwächer ausgefallen. Darüber hinaus wäre es nicht im gleichen Maße zur Bildung eines "neuen Mittelstandes" der (vornehmlich im öffentlichen Dienst beschäftigten) Angestellten sowie der im "formellen Sektor" tätigen Industriearbeiterschaft gekommen. Die neo-liberale Strukturanpassung, die sich im vergangenen Jahrzehnt in Lateinamerika durchsetzte, scheint den Prozess der Ausdehnung des informellen Sektors noch beschleunigt zu haben. Nach Angaben der ILO waren im Jahr 2000 fast die Hälfte der städtischen Erwerbstätigen (47 Prozent) im informellen Sektor tätig, während es 1990 noch 43 Prozent waren.
Anlass zur Skepsis, dass der Modernisierungsprozess (genauer: der Globalisierungsprozess als seine neueste Variante) in Lateinamerika das Armutsproblem wirksam entschärfen könnte, besteht, wenn man die sozioökonomische Entwicklung Chiles in einer längerfristigen Perspektive analysiert und sich nicht mit der Information zufrieden gibt, dass es nach der ökonomischen Krise der achtziger Jahre zu einem drastischen Abbau der Armut gekommen ist. Chile wird ja allgemein als Musterfall geglückter Strukturanpassung gepriesen.
IV. Armut und Sozialstaat
Wenn man die staatliche Armutspolitik gegenüber dem Armutsproblem umfassend analysieren will, darf man sich nicht auf eine Untersuchung des Sozialversicherungssystems und der staatlichen Sozialpolitik im engeren Sinne beschränken, sondern sollte auch die staatliche Einnahme- und Ausgabenpolitik mit in die Untersuchung einbeziehen. Hier muss es bei einigen wenigen Hinweisen bleiben, die auf bestimmte Grundprobleme aufmerksam machen.
Zunächst sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die vornehmlich im informellen Sektor tätigen Armen in der Regel keine sozialversicherungsrechtliche Absicherung haben. Wenn sie krank werden, sind sie auf die Leistungen des in der Regel qualitativ schlechten und quantitativ unzureichenden staatlichen Gesundheitsdienstes angewiesen. Nur in wenigen Ländern (z.B. Chile und Costa Rica) gibt es im Zuge der Sozialhilfe - sehr niedrige - Altersrenten für Bedürftige.
Ein besonderes Charakteristikum der lateinamerikanischen Sozialversichungssysteme ist, dass sie de facto von den Armen und sonstigen unterprivilegierten Sozialgruppen mitfinanziert werden, obwohl diese nicht oder bestenfalls marginal in den Genuss ihrer Leistungen kommen. Denn in der Regel sind die staatlichen Zuschüsse zu den Sozialversicherungssystemen hoch, und unter den staatlichen Einnahmen, aus denen diese Zuschüsse finanziert werden, sind die indirekten Steuern, die auch die Armen und Unterprivilegierten treffen, besonders wichtig.
In Bezug auf die Höhe der Sozialausgaben (Anteil am BIP) können sich die lateinamerikanischen Staaten international durchaus sehen lassen. Man darf diese Zahlen aber nicht ohne weiteres als Beleg für eine (nicht unbeachtliche) Sozialstaatsorientierung interpretieren, sondern muss jeweils fragen, welchen Sozialgruppen die Ausgaben konkret zugute kommen. Wenn man dieses Kriterium anlegt, gelangt man zu einem eher negativen Urteil. Ein Beispiel mag die Problematik verdeutlichen: 1997 betrugen die staatlichen Zuschüsse zur Privatisierung des Rentensystems in Chile 3,7 Prozent des BIP, davon profitierten ganz überwiegend die im formellen Sektor Beschäftigten. Demgegenüber beliefen sich die staatlichen Aufwendungen für Sozialhilfe-Renten (pensiones asistenciales), die für die Ärmsten der Armen gedacht sind, auf weniger als 0,1 Prozent des BIP.
V. Politische Probleme der Armut
Warum die Armen ökonomisch machtlos sind, keine "Marktmacht" besitzen, bedarf keiner Erläuterung. Warum sie relativ schwach organisiert sind, vor allem über keine national wirksame "Verbandsmacht"
Guillermo O'Donnell
Eine gewisse Hoffnung kann man daraus schöpfen, dass die Armen - da seit den achtziger Jahren in Lateinamerika saubere, faire Wahlen zur Routine geworden sind -
VI. Schlussbemerkung
Die lateinamerikanische Massenarmut in ihrer "modernen" städtischen Gestalt sowie der immer stärker expandierende informelle Sektor sind nicht traditionalistische Relikte der Vergangenheit, sondern Begleiterscheinung eines Modernisierungsprozesses, der als problematisch charakterisiert wurde. Eine Rückkehr zum Status quo ante, zur Politik der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI), ist nicht möglich. Das Scheitern dieser Entwicklungsstrategie wurde in den achtziger Jahren offenbar; für die Herausbildung der städtischen Massenarmut und das Wachstum des informellen Sektors war die ISI mitverantwortlich.
Strukturreformen sind zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit wünschenswert, ja wenn man am demokratischen System festhalten will, auch notwendig. Die Annahme, das Schicksal der Armen in Lateinamerika sei davon abhängig, dass Mittelschichten zur (moralischen) Einsicht gelangen sollten, die Demokratie verlange die Herstellung sozial gerechterer Verhältnisse, ist wenig realistisch. Nur mit ihren Wahlstimmen verfügen die Armen über eine potentiell wirksame Ressource, um eine Berücksichtigung ihrer Interessen zu erreichen.