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Armut in Lateinamerika als soziales und politisches Problem

Heinrich-W. Krumwiede

/ 17 Minuten zu lesen

In Lateinamerika ist mehr als 40 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Die Hauptgründe hierfür liegen in der mangelnden Einflussmöglichkeit der Armen begründet.

Einleitung

In Deutschland ist Armut ein Randphänomen, das - zumeist nicht lebenslängliche, sondern temporäre - Schicksal einer Minderheit. In den vergangenen Jahren waren regelmäßig zirka zehn Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Dabei lassen sich bestimmte "Problemgruppen" mit einem hohen "Armutsrisiko", z.B. Arbeitslose und Alleinerziehende, ausmachen. Armut wird auch deshalb nicht als prioritäres Problem wahrgenommen, weil der Sozialstaat sich ihrer annimmt und dafür Sorge trägt, dass ein gerade noch als akzeptabel geltendes Existenzminimum nicht unterschritten wird. Im Gegensatz dazu ist Armut in Lateinamerika ein zentrales Problem. Warum das so ist, wird im Folgenden erläutert. In dem Beitrag werden die speziellen Charakteristika der ländlichen Armut nicht behandelt, sondern es wird ausschließlich auf die städtische Armut eingegangen.


I. Dimensionen der Armut in Lateinamerika

Es gibt eine umfangreiche Debatte über die Probleme des Messens von Armut. Der Hauptgrund dafür dürfte letztlich ein substantieller sein. Denn unterschiedliche Armutsraten sind auch Ergebnis unterschiedlicher Messverfahren. Normalerweise ist für die Definition von Armut nicht das physische Existenzminimum, sondern das jeweilige kulturelle Existenzminimum maßgeblich, das von dem Entwicklungsstand einer Gesellschaft und den herrschenden Normen abhängt. In Westeuropa ist es üblich, diejenigen Personen als "arm" zu bezeichnen, die über weniger als 50 Prozent des (bedarfsgewichteten) Pro-Kopf-Haushaltseinkommens verfügen.

Hier soll nicht auf die auch in Lateinamerika intensiv geführte Messdebatte eingegangen, sondern referiert werden, was - unabhängig vom gewählten Messverfahren - unstrittig ist. Soweit nichts anderes vermerkt wird, orientiere ich mich an dem Armutsbegriff der CEPAL (Comission Economica Para America Latina y el Caribe), die jene Haushalte unterhalb der "Linie extremer Armut" (linea de indigencia) einordnet, die selbst dann nicht für eine ausreichende Ernährung ihrer Mitglieder sorgen können, wenn sie das gesamte Einkommen für Nahrungsmittel ausgeben; die "Armutslinie" (linea de pobreza) kalkuliert sie, indem sie die geschätzten Kosten für die Befriedigung anderer Grundbedürfnisse (z.B. Wohnen) zu den Nahrungsmittelkosten addiert.

Großer Umfang: In Lateinamerika bilden die Armen keine "Randschicht", sondern mit mehr als 40 Prozent fällt nahezu die Hälfte der Bevölkerung unter diese Kategorie. In den vergangenen drei Jahren waren zwischen 42 und 44 Prozent der Bevölkerung "arm" und zwischen 18 und 19 Prozent "extrem arm". Während die Armen im "unterentwickelten" Lateinamerika (Ländern wie Bolivien und Honduras) mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, werden mehr als ein Drittel der Bevölkerung in den relativ "entwickelten" Schwellenländern Mexiko und Brasilien und immerhin ein Fünftel im sozial fortschrittlichen Costa Rica und dem für lateinamerikanische Verhältnisse hoch entwickelten Chile zu den Armen gezählt. Angesichts dieser Größenverhältnisse ist es fragwürdig, wenn man von den Armen als den marginados (denjenigen, die sich am Rand der Gesellschaft befinden) spricht.

Elementarer Charakter: Zwar dürfte in Lateinamerika für die Armen - auch die extrem Armen - nicht die Gefahr des Verhungerns bestehen, und die handlichen Weltbank-Kriterien mit dem Pro-Kopf-Haushaltseinkommen von einem US-Dollar pro Tag ("extrem arm") und zwei US-Dollar pro Tag ("arm") ergeben für Lateinamerika wenig Sinn. Es handelt sich aber - wie die obigen Bemerkungen zum Messverfahren der CEPAL deutlich gemacht haben dürften - um Armut in einem sehr elementaren Sinn. Plastischer mag ein anderes Beispiel sein: Für den Europäer sind die vorstädtischen Slumsiedlungen in Lateinamerika mit selbst errichteten Notbehausungen, die zunächst über keinerlei Infrastruktur (Straßen, Wasser, Kanalisation etc.) verfügen, wohl der Inbegriff des Elends. Für viele der Betroffenen aber stellen sie die Erfüllung des Traums vom §eigenen Besitz und den eigenen vier Wänden dar.

Zählebiges Strukturproblem: Die Armutsraten sind in erheblichem Maße konjunkturabhängig. So stiegen sie in den achtziger Jahren (dem als "verlorene Dekade" bezeichneten ökonomischen Krisenjahrzent) und fielen in den konjunkturell günstigen neunziger Jahren. Diese Schwankungen weisen auf das Problem hin, dass die Anzahl derjenigen, die ein armutsnahes Einkommen beziehen und bei schlechter Konjunkturentwicklung Gefahr laufen, unter die statistische Armutsgrenze zu sinken, recht hoch ist. Aus der Abnahme der Armutsrate in den neunziger Jahren darf man keineswegs auf einen langfristigen Trend zur Armutsreduktion schließen. Zwar ging der Anteil der Armen zwischen 1990 und 2000 von 48,3 auf 43 Prozent zurück und derjenige der extrem Armen von 22,5 auf 18 Prozent. Aber der Armutsanteil im Jahr 2000 war höher als der von 1980 (vor dem Beginn des Krisenjahrzehntes), der sich auf 40,5 Prozent belief. Die absolute Zahl der Armen ist auch während der Jahre des relativen Rückgangs der Armut gestiegen. Sie betrug 1980 135,9 Mio. (extrem Arme: 62,4 Mio.), 1990 200,2 Mio. (extrem Arme: 93,4 Mio.) und 2000 206,7 Mio. (extrem Arme: 87,5 Mio.).

Kumulation von Benachteiligungen: Die Armen schneiden gegenüber den Nicht-Armen nicht nur in Bezug auf die verschiedenen Aspekte des Lebensstandards (Einkommenshöhe, Gesundheitsversorgung, Wohnverhältnisse, Ernährung etc.), sondern in allen Bereichen schlechter ab. So haben sie in der Regel miserabel bezahlte, unsichere, sozialrechtlich nicht abgesicherte Jobs, sie sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung betroffen und absolvieren weniger Schuljahre. Für diese Gruppe gilt de facto auch nicht das Prinzip der Rechtsgleichheit. Von der Polizei etwa werden sie gemeinhin wie eine Art Staatsbürger zweiter Klasse behandelt.

Allgemeinheitscharakter: Es sei noch einmal hervorgehoben, dass das lateinamerikanische Armutsphänomen, schon weil es nahezu die Hälfte der Bevölkerung betrifft, nicht in erster Linie als "Problemgruppenphänomen" begriffen werden sollte. So ist es zwar richtig, dass Armut unter den Arbeitslosen besonders verbreitet ist. Man sollte sich aber davor hüten, statistisch erfasste Arbeitslosigkeit als wichtigsten Indikator für soziale Notlagen in Lateinamerika zu betrachten. Denn Arme können sich in der Regel keine (offene) Arbeitslosigkeit leisten. (Selbst für die im so genannten "formellen Sektor" Tätigen, die ganz überwiegend nicht zu den Armen zählen, existiert nur in einigen Ländern - und das lediglich in Ansätzen - eine Arbeitslosenversicherung.) Von Armut sind in Lateinamerika Kinder und Jugendliche besonders betroffen, sie machen über die Hälfte der Armen aus, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung weniger als 50 Prozent beträgt. Dies lässt sich damit erklären, dass die Kinderzahl armer Familien im Schnitt größer ist als die anderer Familien.

"Modernisierung" der Armut: Man kann konstatieren, dass sich die Armut Lateinamerikas "modernisiert", ein modernes Gesicht angenommen hat. So bilden, dem zunehmend urbanen Charakter Lateinamerikas entsprechend, Stadtbewohner inzwischen die Mehrheit (über 60 Prozent) unter den Armen, und im Einklang mit der allgemeinen Bildungsexpansion haben inzwischen auch die meisten Armen für einige Jahre die Schule besucht. Auch die Kinderzahl hat abgenommen. Die traditionelle Vorstellung von den kinderreichen, analphabetischen campesino-Familien als den typischen Armen Lateinamerikas entspricht nicht der heutigen Realität. Nach den Angaben der Lateinamerikanischen Entwicklungsbank zeichnet sich die für die untersten drei Einkommensgruppen typische lateinamerikanische Familie durch folgende Merkmale aus: 3,3 Kinder, 5 Ausbildungsjahre des Familienvaters, 6,9 erwartete Ausbildungsjahre für die Kinder. Allerdings ist die Mehrheit der Armen nicht im modernen, formellen Sektor beschäftigt, sondern im informellen Sektor, für den prekäre Arbeitsverhältnisse, geringe Entlohnung bzw. geringes Einkommen und fehlende oder mangelhafte vertragliche und sozialrechtliche Absicherung typisch sind. Es wäre allerdings verfehlt, diesen Sektor als "traditionell" zu begreifen. Er hat vielmehr als Begleiterscheinung des Modernisierungsprozesses zu gelten.

Unsicherheit als Hauptcharakteristikum: Die Armen, die sich mehrheitlich im informellen Sektor durchschlagen, leben von der Hand in den Mund. Ihre Lebenslage ist von Unsicherheit gekennzeichnet, eine langfristige Lebensplanung ist gar nicht möglich. Wie Larissa Adler Lomnitz zu Recht feststellt, besteht das Hauptproblem dieser Gruppe nicht darin, "wie sie mit einem unzureichenden Einkommen leben, sondern wie sie die wiederkehrenden Perioden des Null-Einkommens überleben".

II. Armut und Ungleichheit

Es gibt drei Indizien dafür, dass zwischen Armut und Ungleichheit in Lateinamerika ein systematischer Zusammenhang besteht. Zum einen wird dies durch einen Vergleich zwischen den Regionen deutlich. So dürfte das Ausmaß an Armut in Lateinamerika auch damit zusammenhängen, dass hier die Einkommen ungleicher verteilt sind als in allen anderen Weltregionen, nicht nur jenen, in denen die modernen Industrieländer beheimatet sind. So belaufen sich die Gini-Koeffizienten der Einkommensverteilung für die meisten lateinamerikanischen Länder auf mehr als 0,5, während sie sich in den westeuropäischen Ländern um 0,3 bewegen. Es wird geschätzt, dass der Anteil der Armen in Lateinamerika nur ein Fünftel des gegenwärtigen Wertes betrüge, wenn eine Einkommensverteilung wie in den südostasiatischen Ländern herrschte.

Zum anderen zeigt der innerregionale Vergleich, dass zwar höher entwickelte Länder gewöhnlich geringere Armutsraten aufweisen als weniger entwickelte, gleichzeitig lässt sich aber ein systematischer Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und dem Ausmaß an Armut aufzeigen. So ist die Armutsrate in Costa Rica geringer als in Mexiko und Brasilien, die zwar beide ein höheres Pro-Kopf-Einkommen, aber auch eine höhere Einkommenskonzentration als Costa Rica zeigen.

Von der Erkenntnis ausgehend, dass sich das Armutsproblem in Lateinamerika nicht allein durch ein stärkeres Wirtschaftswachstum überwinden lässt, hat die CEPAL in Modellberechnungen simuliert, wie sich eine Verringerung der jetzigen Einkommensungleichheit auf die Armutsraten auswirken würde. Sie ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass bereits kleine Reduktionen der Einkommenskonzentration zu einer beachtlichen Milderung der Armut führen würden.

III. Armut und Modernisierung

Wolfgang Zapf mag recht haben, wenn er feststellt, dass es zur Modernisierung, wie sie sich in Westeuropa und den USA vollzogen hat, keine realistische Alternative gibt. Für Lateinamerika muss man allerdings von einer problematischen Modernisierung sprechen. Von den "Grundinstitutionen" moderner Gesellschaften, die Zapf nennt, nämlich die Konkurrenzdemokratie, die Marktwirtschaft und die Wohlstandsgesellschaft mit Massenkonsum und Wohlfahrtsstaat, haben sich bisher nur die Marktwirtschaft und die Konkurrenzdemokratie in Lateinamerika partiell durchgesetzt, während die Mehrheit der Bevölkerung von den Segnungen der Wohlstandsgesellschaft ausgeschlossen ist.

In Lateinamerika haben Modernisierungsprozesse (Urbanisierung, Industrialisierung, Bildungsexpansion, Wachstum des Dienstleistungssektors) auf der Basis einer von extremer sozialer Ungleichheit gekennzeichneten Agrargesellschaft stattgefunden. Zwar ist der Anteil der im Agrarsektor Beschäftigten stetig gesunken, die Bildungsexpansion hat erhebliche Fortschritte gemacht, und Lateinamerika ist inzwischen außerordentlich stark urbanisiert. Aber der Industrialisierungsprozess erwies sich als zu schwach, um im ausreichenden Maße produktive Arbeitsplätze im modernen, formellen Sektor zu schaffen, die das Schrumpfen des Agrarsektors hätten kompensieren können. Folge war die Aufblähung des tertiären Sektors (des Dienstleistungssektors), der weitgehend die Charakteristiken eines informellen Sektors angenommen hat und als Sammelbecken für die Armen dient.

Ohne die staatlich betriebene Politik der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI), die seit der Weltwirtschaftskrise bis in die achtziger Jahre in Lateinamerika dominierte, wäre die Industrialisierung vermutlich noch schwächer ausgefallen. Darüber hinaus wäre es nicht im gleichen Maße zur Bildung eines "neuen Mittelstandes" der (vornehmlich im öffentlichen Dienst beschäftigten) Angestellten sowie der im "formellen Sektor" tätigen Industriearbeiterschaft gekommen. Die neo-liberale Strukturanpassung, die sich im vergangenen Jahrzehnt in Lateinamerika durchsetzte, scheint den Prozess der Ausdehnung des informellen Sektors noch beschleunigt zu haben. Nach Angaben der ILO waren im Jahr 2000 fast die Hälfte der städtischen Erwerbstätigen (47 Prozent) im informellen Sektor tätig, während es 1990 noch 43 Prozent waren. Dort, nicht im formellen Sektor, entstand auch die Mehrzahl der in der vergangenen Dekade neu geschaffenen Arbeitsplätze. Alejandro Portes und Kelly Hoffman schätzen den Umfang des vornehmlich im informellen Sektor tätigen "informal proletariat" (Beschäftigte ohne Arbeitsvertrag und Sozialversicherung), die überwiegend unterhalb der Armutsgrenze leben, für die großen Schwellenländer Mexiko und Brasilien auf über 40 Prozent, für Chile auf über 30 Prozent.

Anlass zur Skepsis, dass der Modernisierungsprozess (genauer: der Globalisierungsprozess als seine neueste Variante) in Lateinamerika das Armutsproblem wirksam entschärfen könnte, besteht, wenn man die sozioökonomische Entwicklung Chiles in einer längerfristigen Perspektive analysiert und sich nicht mit der Information zufrieden gibt, dass es nach der ökonomischen Krise der achtziger Jahre zu einem drastischen Abbau der Armut gekommen ist. Chile wird ja allgemein als Musterfall geglückter Strukturanpassung gepriesen. Und an diesem Beispiel lässt sich zeigen, welche sozialen Effekte eine nach Globalisierungskriterien gestaltete Volkswirtschaft idealiter hat, die - nicht zuletzt dank einer intelligenten staatlichen Wirtschaftspolitik - hohe Wachstumsraten aufweist und zugleich sozialen Kriterien verpflichtet ist. Eine Analyse der Entwicklung der chilenischen Sozialstruktur, die bis 1971 zurückgeht, kommt zu dem interessanten Ergebnis, dass der Armutsanteil und der Anteil "marginaler" Beschäftigungsgruppen 1995 in etwa so hoch war wie 1971. Angesichts dieser Tatsache könnte man auch sagen, dass Chile weniger zu neuen Ufern aufgebrochen als vielmehr nach Pinochet und Allende zur Normalität zurückgekehrt ist. Die Entwicklung von Indikatoren der Grundbedürfnisse (u.a. Lebenserwartung, Wohnverhältnisse, Gesundheitsvorsorge) weisen zwar auf eine kontinuierliche Verbesserung - auch in Krisenzeiten - der Lebenslage der Armen hin. Aber gibt es Indizien dafür, dass sich ihre Einkommenssituation in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht verbessert hat.

IV. Armut und Sozialstaat

Wenn man die staatliche Armutspolitik gegenüber dem Armutsproblem umfassend analysieren will, darf man sich nicht auf eine Untersuchung des Sozialversicherungssystems und der staatlichen Sozialpolitik im engeren Sinne beschränken, sondern sollte auch die staatliche Einnahme- und Ausgabenpolitik mit in die Untersuchung einbeziehen. Hier muss es bei einigen wenigen Hinweisen bleiben, die auf bestimmte Grundprobleme aufmerksam machen.

Zunächst sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die vornehmlich im informellen Sektor tätigen Armen in der Regel keine sozialversicherungsrechtliche Absicherung haben. Wenn sie krank werden, sind sie auf die Leistungen des in der Regel qualitativ schlechten und quantitativ unzureichenden staatlichen Gesundheitsdienstes angewiesen. Nur in wenigen Ländern (z.B. Chile und Costa Rica) gibt es im Zuge der Sozialhilfe - sehr niedrige - Altersrenten für Bedürftige. Nur dank ihrer auf gegenseitigen Gefälligkeiten beruhende sozialen Netzwerken können die Armen die alltäglichen Krisen meistern und überleben. Wie Henry Dietz in seiner Langzeitstudie über barrios populares in Lima herausgefunden hat, haben Arme die Hoffnung auf Hilfe durch den Staat längst aufgegeben und verlassen sich ganz auf Selbsthilfe-Mechanismen. Carmelo Mesa-Lago hat nachgewiesen, dass Höhe und Qualität der Sozialleistungen dem organisierten Druck sowie der strategischen Platzierung von Gruppen entsprechen. So erklärt sich, dass Militärs, Staatsangestellte und Industriearbeiter in allen lateinamerikanischen Ländern in Bezug auf die Sozialleistungen gut abschneiden, die organisatorisch machtlosen und strategisch unbedeutenden Armen dagegen schlecht.

Ein besonderes Charakteristikum der lateinamerikanischen Sozialversichungssysteme ist, dass sie de facto von den Armen und sonstigen unterprivilegierten Sozialgruppen mitfinanziert werden, obwohl diese nicht oder bestenfalls marginal in den Genuss ihrer Leistungen kommen. Denn in der Regel sind die staatlichen Zuschüsse zu den Sozialversicherungssystemen hoch, und unter den staatlichen Einnahmen, aus denen diese Zuschüsse finanziert werden, sind die indirekten Steuern, die auch die Armen und Unterprivilegierten treffen, besonders wichtig. Ein Indiz für eine unzureichende Sozialstaatsorientierung ist nicht nur die Dominanz indirekter Steuern, sondern auch die mangelhafte Progressivität der direkten Steuern. So beläuft sich der Spitzensteuersatz in den meisten lateinamerikanischen Ländern auf nicht mehr als 25 Prozent, und die Progression setzt sehr spät in der Einkommensskala ein.

In Bezug auf die Höhe der Sozialausgaben (Anteil am BIP) können sich die lateinamerikanischen Staaten international durchaus sehen lassen. Man darf diese Zahlen aber nicht ohne weiteres als Beleg für eine (nicht unbeachtliche) Sozialstaatsorientierung interpretieren, sondern muss jeweils fragen, welchen Sozialgruppen die Ausgaben konkret zugute kommen. Wenn man dieses Kriterium anlegt, gelangt man zu einem eher negativen Urteil. Ein Beispiel mag die Problematik verdeutlichen: 1997 betrugen die staatlichen Zuschüsse zur Privatisierung des Rentensystems in Chile 3,7 Prozent des BIP, davon profitierten ganz überwiegend die im formellen Sektor Beschäftigten. Demgegenüber beliefen sich die staatlichen Aufwendungen für Sozialhilfe-Renten (pensiones asistenciales), die für die Ärmsten der Armen gedacht sind, auf weniger als 0,1 Prozent des BIP.

V. Politische Probleme der Armut

Warum die Armen ökonomisch machtlos sind, keine "Marktmacht" besitzen, bedarf keiner Erläuterung. Warum sie relativ schwach organisiert sind, vor allem über keine national wirksame "Verbandsmacht" verfügen, ist relativ leicht zu erklären. Zum einen zeichnen sich die Armen durch soziale Heterogenität aus: Neben der Minderheit der im formellen Sektor Beschäftigten gibt es die Mehrheit der im informellen Sektor Tätigen; gegenüber der Mehrheit der Niedriglohnempfänger bilden die Kleinstselbstständigen (trabajadores por cuenta propia bzw. trabajadores independientes) eine beachtliche Minderheit (ihr Anteil an der städtischen Erwerbsbevölkerung beträgt im "entwickelten" Lateinamerika zwischen 15 und 25 Prozent). Zum anderen fehlt den Niedriglohnempfängern in dem von prekären Arbeitsverhältnissen gekennzeichneten informellen Sektor ein Gegenüber, das - in Marx'scher Terminologie formuliert - als "Klassengegner" zu Organisationsanstrengungen stimulieren könnte. Bei den Kleinstselbstständigen fehlt es vollständig. Schließlich ist festzuhalten, dass sich das Organisationsinteresse der Armen vornehmlich auf den lokalen (Wohn-)Bereich beschränkt. Die von den Armen bevölkerten barrios populares in den Vorstädten sind zunächst reine Slumsiedlungen, für die sich die notwendigen "öffentlichen Güter" (Legalisierung des Grundstücksbesitzes, Straßen, Wasser-, Strom- und Kanalisationsanschluss, Errichtung öffentlicher Schulen etc.) gewöhnlich nur durch politische Organisationsarbeit (seien es Demonstrationen, öffentliche Petitionen oder Kontaktaufnahme mit politischen Parteien) erreichen lassen. Es bedarf keines Kommentars, dass diese lokalistisch orientierten Organisationen im besonderen Maße klientelistischen Infiltrations- und Bevormundungsversuchen offen stehen.

Guillermo O'Donnell, der der Ansicht ist, dass man die politische Schwäche der Armen als "hartes Faktum" akzeptieren müsse und der deshalb die Suche nach politischen Koalitionspartnern für zwingend notwendig hält, kommt interessanterweise zu dem Ergebnis, dass weder die Aufsteiger noch die als "neue Arme" apostrophierten Absteiger aus den Mittelschichten als Verbündete in Frage kämen. Als potentielle Koalitionspartner sieht er nur "the middle of the middle", bei denen sich noch am ehesten die Einsicht durchsetzten werde, dass die in Lateinamerika herrschende Massenarmut und soziale Ungleichheit mit dem für Demokratie konstitutiven Verständnis von Menschenwürde nicht vereinbar seien. Dass die Gewerkschaften als mögliche Koalitionspartner nicht in Betracht kommen, erwähnt er - weil das für Lateinamerikakenner selbstverständlich ist - nur am Rande. Tatsächlich sind ja die Gewerkschaften vornehmlich als Interessengruppen der im formellen Sektor tätigen "Zwischenschichten" der Arbeiter und Angestellten zu begreifen.

Eine gewisse Hoffnung kann man daraus schöpfen, dass die Armen - da seit den achtziger Jahren in Lateinamerika saubere, faire Wahlen zur Routine geworden sind - mittels der Wahlstimmen über - potentielle - politische Macht verfügen.

VI. Schlussbemerkung

Die lateinamerikanische Massenarmut in ihrer "modernen" städtischen Gestalt sowie der immer stärker expandierende informelle Sektor sind nicht traditionalistische Relikte der Vergangenheit, sondern Begleiterscheinung eines Modernisierungsprozesses, der als problematisch charakterisiert wurde. Eine Rückkehr zum Status quo ante, zur Politik der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI), ist nicht möglich. Das Scheitern dieser Entwicklungsstrategie wurde in den achtziger Jahren offenbar; für die Herausbildung der städtischen Massenarmut und das Wachstum des informellen Sektors war die ISI mitverantwortlich.

Strukturreformen sind zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit wünschenswert, ja wenn man am demokratischen System festhalten will, auch notwendig. Die Annahme, das Schicksal der Armen in Lateinamerika sei davon abhängig, dass Mittelschichten zur (moralischen) Einsicht gelangen sollten, die Demokratie verlange die Herstellung sozial gerechterer Verhältnisse, ist wenig realistisch. Nur mit ihren Wahlstimmen verfügen die Armen über eine potentiell wirksame Ressource, um eine Berücksichtigung ihrer Interessen zu erreichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl hierzu Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen 20018, S. 245ff.; Gunter E. Zimmermann, Armut, in: Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 20012, S. 36 - 52.

  2. Vgl. Miguel Székely u.a., Do We Know How Much Poverty There Is?, (Working Paper 437 der Inter-American Development Bank), Washington, D.C. 2000.

  3. Vgl. S. Hradil (Anm. 1); G. E. Zimmermann (Anm. 1).

  4. Die Debatte ist bisweilen derart obsessiv, dass man den Eindruck gewinnen könnte, Armut sei vornehmlich ein Messproblem. Vgl. z.B. in diesem Zusammenhang die drei speziell dem Armutsproblem der Bewohner von barrios populares in Mexiko-Stadt gewidmeten Beiträge von Juan Boltvinik, in: Martha Schteingart (Hrsg.), Pobreza, condiciones de vida y salud en la Ciudad de México, Mexiko 1997.

  5. Vgl. zum Terminus Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, Wiesbaden 20023, S. 438.

  6. CEPAL, Panorama social de América Latina 2001 - 2002, Santiago 2002, S. 39.

  7. In den meisten lateinamerikanischen Ländern wären nach diesem Verfahren weniger als zehn Prozent der Bevölkerung als "extrem arm" zu klassifizieren. Vgl. CEPAL (Anm. 6), S. 44f. Der der Armutsproblematik gewidmete Jahresbericht der Weltbank von 2000/2001 sollte, zumindest was Lateinamerika betrifft, mit Skepsis behandelt werden. Denn es ist doch sehr merkwürdig, wenn 26,3 Prozent der Costa-Ricaner als "arm" ausgewiesen werden, aber nur 17,4 Prozent der Brasilianer. Vgl. World Bank, World Development Report 2000/2001, Oxford u.a. 2000, S. 280.

  8. Vgl. Norma Mogrovejo, Relatos de vida de mujeres de las colonias populares. La otra cara de la ciudad, in : M. Schteingart (Anm. 4), S. 725.

  9. Vgl. CEPAL (Anm. 6), S. 14.

  10. Vgl. CEPAL, Panorama social de América Latina 2000 - 2001, Santiago 2001, S. 14.

  11. Vgl. ebd. und CEPAL (Anm. 6), S. 14.

  12. Vgl. Peter Waldmann (Hrsg.), Justicia en la calle. Ensayos sobre la policía en América Latina, Medellin 1996.

  13. Vgl. Social Panorama of Latin America 1999 - 2000, in: ECLAC Notes, (2000) 12, S. 8.

  14. Vgl. Inter-American Development Bank, Facing Up to Inequality in Latin America. Economic and Social Progress in Latin America. 1998 - 1999 Report, Washington, D.C. 1998, S. 57.

  15. Dem informellen Sektor werden gemeinhin zugerechnet: die in Mikrobetrieben (unter 5 Personen) Beschäftigten, die Hausangestellten und die Kleinstselbstständigen (trabajadores por cuenta propia bzw. trabajadores independientes).

  16. Larissa Adler Lomnitz, Networks and Marginality. Life in a Mexican Shantytown, New York-San Francisco-London 1977, S. 208.

  17. Je höher der Gini-Koeffzient, desto ungleicher die Verteilung der Einkommen. Bei einem Wert von 1 hat einer alles, die anderen haben nichts.

  18. Vgl. CEPAL (Anm. 10), S. 18 ; UNPD, Human Development Report 2001, New York-Oxford 2001, S. 182f.

  19. Vgl. Inter-American Develoment Bank (Anm. 14), S. 22. Gerade im Vergleich mit Südostasien stellt sich die Frage, ob nicht ein Minimum an Gleichheit Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung ist. Vgl. dazu Ulrich Menzel/Dieter Senghaas, Europas Entwicklung und die Dritte Welt. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt/M. 1986.

  20. Vgl. CEPAL (Anm. 6), Kap. I.

  21. Vgl. Wolfgang Zapf, Modernisierung und Modernisierungstheorie, in: ders. (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften (Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt/M.), Frankfurt/M.-New York 1990, S. 34.

  22. Vgl. OIT, Panorama laboral 2000, Cuadro 6-A (http:www.ilolim.org.pe). Auch die CEPAL-Daten (Anm. 10, S. 96) weisen auf den gleichen Trend hin: 1990 (43 Prozent), 2000 (48 Prozent).

  23. Vgl. ebd.

  24. Vgl. Alejandro Portes/Kelly Hoffman, Latin American Class Structures: Their Composition and Change during the Neoliberal Era, in: Latin American Research Review, 38 (2003) 1, S. 52. Im formellen Sektor sind nach Ansicht der Autoren 20 Prozent der dort Beschäftigten nicht sozialversichert. Zu dem Versuch, gestützt auf die gleichen Daten ein andersartiges Schichtungsmodell zu entwickeln, vgl. Heinrich-W. Krumwiede, Soziale Ungleichheit und Sozialstruktur in Lateinamerika, in: Petra Bendel/Michael Krennerich (Hrsg.), Soziale Ungerechtigkeit. Analysen zu Lateinamerika, Frankfurt/M. 2002, S. 57-79.

  25. Vgl. Guillermo Perry/Danny M. Leipziger (Hrsg.), Chile. Recent Policy Lessons, Washington, D.C. 1999.

  26. Vgl. Arturo León/Javier Martínez, La estratificación chilena hacia fines del siglo XX, in: Serie Políticas Sociales (CEPAL), (2001) 52. Ausführlicher werden die Ergebnisse dieser Studie erörtert in Heinrich-W. Krumwiede, Soziale Ungleichheit und Massenarmut in Lateinamerika (SWP-Studie), Berlin 2002.

  27. Vgl. Hartmut Sangmeister, Grundbedürfnisse, Wirtschaftsreformen und soziale Sicherung in Lateinamerika (SWP-Studie), Ebenhausen 1995.

  28. Nach Emilio Klein/Victor Tokmann, La estratificación social bajo tensión en la era de la globalización, in: Revista de la CEPAL, (2000) 72, S. 7 - 30, haben die Reallöhne im Manufakturbereich erst Ende der neunziger Jahre wieder das Niveau von 1980 erreicht, und die realen Minimallöhne blieben mehr als 20 Prozent darunter. Die Untersuchung von Henry Dietz, Urban Poverty, Political Participation, and the State, Lima 1970 - 1990, Pittsburgh 1998, in sechs Armen-barrios in Lima hat ergeben, dass deren Bewohner 1990 (also am Ende des ökonomischen Krisenjahrzehntes) real ein geringeres Haushaltseinkommen hatten als 1970.

  29. Vgl. Carmelo Mesa-Lago, Desarrollo social, reforma del Estado y de seguridad social, al umbral del siglo XXXI, in: Serie Políticas Sociales (CEPAL), (2000) 36, S. 30f. und 61.

  30. Vgl. L. Adler Lomnitz (Anm. 16).

  31. Vgl. H. Dietz (Anm. 28), S. 252.

  32. Carmelo Mesa-Lago, Social Security in Latin America. Pressure Groups, Stratification, and Inequality, Pittsburgh 1978.

  33. Vgl. ders., Changing Social Security in Latin America. Toward Alleviating the Social Costs of Economic Reform, Boulder-London 1994, S. 41f.

  34. Vgl. Inter-American Development Bank (Anm. 14), S. 183ff.

  35. Vgl. C. Mesa-Lago (Anm. 29), S. 34.

  36. Zu den Begriffen "Marktmacht" und "Verbandsmacht" vgl. M. Rainer Lepsius, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 117 - 152.

  37. Vgl. Guillermo O'Donnell, Poverty and Inequality in Latin America: Some Political Reflections, in: Victor E. Tokman/ders. (Hrsg.), Poverty and Inequality in Latin America. Issues and New Challenges, Notre Dame 1998, S. 49 - 71.

  38. Zum Begriff vgl. H.-W. Krumwiede (Anm. 24), S. 74.

  39. Vgl. Michael Krennerich, Wahlen in Lateinamerika: eine demokratische Routine, in: Brennpunkt Lateinamerika, (1999) 18, S. 151 - 161.

Dr. phil. habil., geb. 1943; früher wiss. Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik und apl. Professor an der Universität Augsburg.
Anschrift: Marklandstr. 22, 81549 München.
E-Mail: E-Mail Link: krumwiede-muenchen@t-online.de

Zahlreiche Veröffentlichungen zu Kirche und Politik, Revolution und Konfliktregulierung in Zentralamerika und demokratischen Transitionsprozessen.