Einleitung
Günter Erbe: Herr Beil, Sie arbeiten seit 1965 als Dramaturg an verschiedenen Theatern, leiteten zusammen mit Claus Peymann von 1986 bis 1999 das Wiener Burgtheater und sind seit der Spielzeit 1999/2000 am Berliner Ensemble (BE) tätig. Sie führen selbst Regie, treten als Rezitator auf und sind der Autor des Buches "Theaternarren leben länger". Wann wurden Sie zuerst mit dem Werk Bertolt Brechts bekannt?
Hermann Beil: Gewiss durch mein Gymnasium, die Wilhelm von Oranienschule in Dillenburg, dort leitete ich eine Zeit lang die Schulbibliothek, und dadurch kam mir viel Literatur in die Hände. Darüber hinaus interessierte ich mich sehr für das Theater, las die Kritiken und erfuhr sehr früh vom Frankfurter Schauspiel, das unter und durch Harry Buckwitz in den fünfziger und sechziger Jahren ein bedeutsamer Aufführungsort der Brecht'schen Stücke gewesen ist. Die Tatsache, dass die Frankfurter CDU damals gelegentlich einen Brecht-Boykott oder die Absetzung von Brecht-Stücken, übrigens vergeblich, forderte, weckte natürlich zusätzlich mein Interesse.
Erbe: Hatte Brecht Bedeutung für Sie zu Beginn Ihrer Arbeit am Theater?
Beil: Mich interessierten und faszinierten Brechts theoretische Äußerungen. Das "Kleine Organon" studierte ich immer wieder, weil ich dachte, meine Theatergier bekäme so eine rationale Grundlage. Durch Brecht lernte ich, über Theater nachzudenken. Aber ich betrieb kein systematisches Brecht-Studium. Es war ein lustvolles Wechselspiel, das auch nie von der zeitweise herumgeisternden Parole "Brecht ist out" gehemmt wurde. Es gab ja regelrechte Symposien, die beweisen wollten, wie überholt Brecht sei. Ich fand das immer lächerlich.
Erbe: Welche Stationen durchlief Ihre Beschäftigung mit Brecht?
Beil: Meine Beschäftigung mit Brecht war nie planmäßig, aber permanent, und eine ständige Herausforderung. Kaum kam ich, mit 22 Jahren, an das Frankfurter Theater, hatte ich mit Brecht zu tun, sei es die Mitarbeit an Programmheften für Brecht-Aufführungen, sei es die detaillierte Beobachtung einer ganzen Aufführungsserie des "Galilei", sei es das Gespräch mit Teo Otto und Harry Buckwitz über Brecht.
Eine besondere Brecht-Aufgabe war meine Mitarbeit an einer großen Ausstellung mit dem Thema "Brecht in der Bundesrepublik". Das war eine Wanderausstellung im Auftrag von Inter Nationes und des Goethe-Instituts. Die Ausstellung wurde erstmals im Frankfurter Theaterfoyer gezeigt, dann in vielen Städten und Ländern. Es erschien ein mehrsprachiger Katalog, dessen Konzeption ich mitformulierte, dessen Beiträge ich gestaltete und redigierte. Mit Brecht'scher List unterliefen Rudi Seitz und ich die damals noch herrschende Hallsteindoktrin, indem wir ganz selbstverständlich Brechts Inszenierungen am BE ausführlich dokumentierten.
Aus dieser intensiven Beschäftigung mit Brecht floss dann ganz natürlich die ständige Bereitschaft, Brecht in Basel, Stuttgart, Bochum und am Burgtheater aufzuführen.
Erbe: Ist es für Sie mit einem besonderen Gefühl verbunden, am Theater am Schiffbauerdamm zu arbeiten? Ist in diesem Haus noch etwas vom Geist Brechts spürbar, zum Beispiel Brechts Forderung nach Freundlichkeit?
Beil: Natürlich ist es ein besonderes Gefühl, sozusagen auf "geheiligtem" Boden, Brecht am BE aufzuführen. Es ist vor allem eine besondere Verantwortung. Nicht Selbstgewissheit, sondern ständige Selbstprüfung bedeutet für mich, am BE zu sein.
Erbe: Hat sich am Berliner Ensemble Ihr Verhältnis zu Brecht geändert?
Beil: Mein Verhältnis zu Brecht hat sich nicht geändert, gewiss aber vertieft und verbreitert. Ich staune immer mehr über die ungeheure Denk- und Lebensleistung dieses Dichters.
Erbe: Für Brecht ist die Funktion des Theaters Unterhaltung und Belehrung. Der Zuschauer soll sich nicht einfühlen. Das Spiel soll Vorgänge, die ihm vertraut sind, verfremden. Was halten Sie von diesem Konzept? Ist das Theater nicht immer Verfremdung?
Beil: Natürlich ist Theater immer Verfremdung, sei es in der Verdichtung, sei es durch den spielerischen Umgang mit der Wirklichkeit. Brecht hasste eine dumpfe, wohlige, gefällige Einfühlung, was aber nicht heißt, er sei gegen Gefühl. Die Emotionen, die Gefühle, die Brechts Theaterstücke auslösen, haben etwas Hellwaches, Bewegendes. Die Erschütterung durch das Telefonat der "jüdischen Frau" [in "Furcht und Elend des Dritten Reiches"] drückt nicht nieder, sondern ist eine Form der Erkenntnis.
Erbe: Sie würden also nicht der Auffassung Adornos zustimmen, Brechts "didaktischer Gestus" sei autoritär?
Beil: Brecht ist nicht unverbindlich. Er hat die großen gesellschaftlichen Umbrüche, Verwerfungen, Katastrophen leibhaftig studiert, miterlebt und überlebt. Er nimmt dezidiert Stellung, aber weil er ein großer Poet ist, ist er nie autoritär. Brecht kennt auch den Selbstzweifel. Er hat aber nie den Anspruch und den moralischen Auftrag an die Kunst vergessen. Seine Kunst will "eingreifendes Denken" sein, um einen Begriff Ernst Schumachers zu zitieren.
Erbe: Brecht forderte vom Schauspieler, dass er sich das Wissen seiner Zeit um die menschlichen Zusammenhänge aneigne und die Kämpfe der Klassen mitkämpfe. Als Zuschauer wünschte er sich den mitdenkenden, aktivierbaren Zeitgenossen. Gibt es diese Schauspieler und diese Zuschauer heute noch?
Beil: Brechts Forderung an die Schauspieler und Zuschauer ist nach wie vor gültig. Ich mache mir auch gar keine Sorgen. Es gibt den mitdenkenden Schauspieler und es gibt den mitdenkenden Zuschauer.
Erbe: Die Brecht-Aufführungen des Berliner Ensembles erfreuen sich beim Publikum großer Beliebtheit. Werden Brechts plebejische Stücke, auch solche mit einer kommunistischen Lehre wie "Die Mutter", entgegen Brechts dramaturgischer Absicht nicht heute kulinarisch aufgenommen?
Beil: Das Wort "kulinarisch" stört mich, weil es falsch ist. Jenes kulinarische Theater, das Brecht bekämpft, habe ich persönlich weder kennen gelernt, noch habe ich es selbst praktiziert. Entscheidend ist doch, ob Theater Phantasie hervorruft, Phantasie bewegt, ob Theater Geist und Herz inspiriert. Dafür sind alle theatralischen Mittel nötig und legitim.
Erbe: Max Frisch sprach mit Blick auf Brecht von der durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Klassikers. Meinen Sie, dass der Einfluss der Massenmedien und der Unterhaltungskultur diesen Prozess beschleunigt hat?
Beil: Max Frisch hat in seiner berühmten Rede 1964 auf der Frankfurter Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft auch die Fiktion durchgespielt, das Theater sei plötzlich geschlossen, und viele würden sich nun fragen, was denn fehle, wenn es das Theater nicht mehr gäbe. So wirkungslos sind Klassiker eben nicht, denn warum wurde von der DDR-Obrigkeit selbst einem Brecht eine "Urfaust"-Aufführung verboten? Das Theater ist als Ort des unmanipulierten Wortes immer gefährdet, aber dadurch wirkungsvoll. Massenmedien und Unterhaltungskommerz können dem Theater nichts anhaben. Allerdings darf das Theater seinen Wert, seine Möglichkeiten, seine Kraft nicht leichtfertig verschleudern, indem es den Massenmedien nachläuft, indem es sie nachahmt.
Erbe: Der frühe Brecht betrachtete die Werke der Klassiker als Stoff oder Material, das man unter neuen Gesichtspunkten darstellen solle. Der späte Brecht hingegen forderte, ihren Ideengehalt herauszubringen. Erscheinen Ihnen manche Stücke Brechts durch ihren Ideengehalt nicht antiquiert? Sind sie andererseits aber nicht so poetisch, dass man sie einfach spielen muss?
Beil: Gerade bei Brecht sind Ideengehalt und poetische Form nicht voneinander zu trennen. Für uns heutige Theatermacher ist es eine sehr reizvolle Aufgabe, eine heutige Spielform zu finden. Eine Mozart-Oper spielt sich auch nicht von selbst vom Blatt.
Erbe: Brecht meinte, die alten Werke hätten ihre eigenen Werte, ihre eigene Skala von Schönheiten und Wahrheiten. Welche Skala von Schönheiten und Wahrheiten gilt es heute bei Brecht zu entdecken?
Beil: Klarheit des Denkens, Eleganz und Anmut der Form. Unabweisbarkeit durch die Kraft des Ausdrucks. Menschliche Anteilnahme, die nicht sprachlos bleibt, sondern Wortgewalt hervorruft.
Erbe: Als Max Frisch Brecht in Zürich Arbeitersiedlungen zeigte, war dieser anfangs verwundert über soviel Komfort. Dann fühlte er sich durch den Komfort mehr und mehr belästigt. Ihn empörte, dass die Arbeiter auf diesen Schwindel hereinfielen. Führen die revolutionären Anforderungen, die Brecht an die Arbeiter stellt, nicht zu einer Verzeichnung seiner proletarischen Bühnenfiguren?
Beil: Brechts proletarische Bühnenfiguren sind immer auch poetische Bühnenfiguren, Figuren seiner Denkspiele. Sie sind kein Abklatsch der Wirklichkeit, sie sind eine Möglichkeit.
Erbe: Was halten Sie von Friedrich Dürrenmatts Satz: "Brecht denkt unerbittlich, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt"?
Beil: Dieser Satz gilt eher für Dürrenmatt selbst. Brecht denkt nämlich unerbittlich, weil er unerbittlich an vieles denkt, an das sonst nicht gedacht wird.
Erbe: Durch den Untergang des "Realsozialismus" ist die Marx'sche Lehre verschüttet worden. Wenn man nicht bestreitet, dass Marx in seiner Analyse des Kapitalismus aktuell geblieben ist, ist dann nicht auch Brecht aktuell?
Beil: Als Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe" postum 1959 von Gustaf Gründgens in Hamburg uraufgeführt worden ist, lobte man allgemein die theatralische Qualität der Aufführung, aber allgemein, zumindest in Westdeutschland, wurde das Stück als längst überholt und wirtschaftlich total falsch bezeichnet. Zehn Jahre später, wir spielten es in Bochum, war das Stück plötzlich wieder aktuell. In der so genannten "Dritten Welt" wird Brecht schon seit langer Zeit als ein höchst aktueller Autor gespielt.
Der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen, die sich auf den Sozialismus berufen haben, bedeutet ja nicht, dass die großen sozialen Fragen der Menschheit gelöst sind. Im Gegenteil, diese Fragen haben sich in Europa verschärft. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit Jahren fünf Millionen Arbeitslose und irrsinnige Unternehmergewinne. In Frankreich lösen sich Unruhen, Krawalle und generalstreikähnliche Demonstrationen ab. Anlass sind große soziale Probleme und Spannungen. Brecht war sich wie kein zweiter Dichter dieser Menschheitsprobleme bewusst, er stellte seine Fragen. Die Gründe zu diesen Fragen existieren verschärft, ungelöst.
Brecht hat sich, auch und gerade in seiner Emigration, den dringlichen Fragen seiner Zeit gestellt. Und weil er für seine theatralischen Untersuchungen große poetische, parabelhafte Formen gefunden hat, können wir seine Stücke immer wieder neu aufführen. Für mich ein leuchtendes Beispiel: "Mutter Courage und ihre Kinder" am Berliner Ensemble mit der wunderbaren Carmen-Maja Antoni. (Brecht hat die tollsten Rollen geschrieben, geradezu archetypische Erfindungen.) Der Regisseur Claus Peymann inszenierte nicht gegen das Stück - was vielleicht einigen unserer Berufsnörgler behagt hätte -, sondern er inszenierte mit der Energie und mit der Phantasie des Stücks. Ich halte "Mutter Courage" für ein Menschheitsdrama wie "Antigone" oder "Nathan der Weise".
Erbe: Im Programmheft des BE zu "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" werden globalisierungskritische Passagen eines Buches von Jean Ziegler abgedruckt. Spricht die heutige Globalisierung für eine zusätzliche Aktualisierungsmöglichkeit des Brecht'schen Theaters?
Beil: Dichter können Zukünftiges ausmalen, bzw. das Zukünftige in der Gegenwart aufspüren. Goethe hat im 5. Akt von "Faust II" die mörderischen Prozesse der Industrialisierung höchst eindringlich dargestellt. Die Aktualität der Brecht'schen "Johanna" liegt in Brechts Analyse der wirtschaftlichen Lage von 1930/1931/1932.
Erbe: Um Brecht zu verstehen, braucht es einen Sinn für das Geschichtliche seiner Stücke. Was bedeutet dies für die heutige Inszenierungspraxis?
Beil: Um Brecht zu verstehen, muss man einfach seine Texte genau lesen. Nicht anders als bei Shakespeare, Goethe, Schiller oder Büchner. Das Umfeld, die Entstehungszeit, die jeweilige Intention zu studieren, ist ja eine Selbstverständlichkeit. Selbstverständlich ist es aber auch, die Differenz von damals und heute zu reflektieren. Wir können doch nicht so tun, als ob zwischen einer Uraufführung 1804 oder 1927 und heute keine Zeit vergangen ist. Ich meine jetzt nicht Besserwisserei, aber jedes große Werk enthüllt sich immer wieder neu und gibt seine Geheimnisse immer wieder anders preis. Und jedes große Werk, und sei es ein kurzes Gedicht, zieht auch Bedeutungsschichten an. Wir verändern uns und blicken mit unseren Erfahrungen auf Literatur, auf Kunst.
Erbe: Auf dem Spielplan des BE stehen neben Brecht auch Samuel Beckett und Thomas Bernhard. Unterscheiden sich die Stücke Brechts in ihrer Weltsicht und Welthaltigkeit nicht sehr von den Werken der beiden Genannten, oder gibt es außer Trennendem auch Verbindendes?
Beil: Bekanntlich hat Becketts "Warten auf Godot" Brecht so interessiert oder irritiert, dass er "Godot" bearbeiten wollte. Alle drei Autoren - Brecht, Beckett, Bernhard - sind in ihrer jeweiligen Haltung zur Welt sehr verschieden. Da gibt es scharfe Trennungslinien. Gemeinsam aber ist ihnen der Humor. Es sind große Humoristen. Und es sind Nein-Sager. Brecht sagt Nein zur Hoffnungslosigkeit. Aber sein Nein geht weiter. Aus der Erkenntnis der Lage versucht Brecht Folgerungen zu ziehen. Brecht sagt: "Glück ist Hilfe", d.h., er will Hilfe, Abhilfe schaffen.
Erbe: Hätten Sie gern ein Glas Wein mit Brecht getrunken?
Beil: Ich weiß nicht, ob Brecht ein Weintrinker gewesen ist, er mochte wohl sehr gern bayerisches Bier, Paulaner am liebsten. Aber wenn er mich je zu einem Glas Wein eingeladen hätte, hätte ich es gewiss als große Ehre empfunden und den Wein still getrunken.