Einleitung
Eine paradoxe Entwicklung ist zu beobachten: Je mehr der zeitliche Abstand zu den außerparlamentarischen Bewegungen um das Jahr 1968 wächst, desto vehementer wird in der Öffentlichkeit eine Aufklärung über ihren Verlauf, die Motive ihrer Akteure und die von ihr ausgegangenen Impulse zur Gesellschaftsveränderung eingefordert. Doch bislang existiert weder eine umfassende Geschichte der 68er-Bewegung noch eine kohärente Beschreibung der von ihr rezipierten Theorien bzw. der von ihr propagierten Ideen.
Dieser bewegungs- wie theoriengeschichtliche Mangel ist kein Zufall. Denn die 68er-Geschichte war ebenso kurz wie komplex, ebenso dicht wie spannungsgeladen. Es gab zwar eine längere Inkubationszeit, jedoch keine Entwicklung im eigentlichen Sinne, eher einen eruptionsartigen Aufbruch mit einem rasch erreichten Kulminationspunkt und einer schubartigen Abwärtsbewegung des Zersplitterns und Auseinanderfallens. Insofern kann es kaum verwundern, dass die Historisierung der 68er-Bewegung bislang weitgehend selektiv verlaufen ist
Was für die 68er-Bewegung als historische Figur gilt
Von expliziten "68er Ideen" sprechen zu wollen wäre also unangemessen. Denn es ging weniger darum, bestimmte Ideen zu verwirklichen. Die Theorie selbst war utopisch besetzt. Es existierte eine Art Sehnsucht, "Allgemeinbegriffe zu leben", gar einen "Rausch der Verallgemeinerung" (Michael Rutschky) zu genießen
Die 68er-Bewegung war vor allem eines: Kritik an den bestehenden Verhältnissen in jeder nur denkbaren Hinsicht. Ihre destruktive Kraft war weitaus größer als ihre konstruktive. Nichts schien vor ihr Bestand zu haben: religiöser Glauben, weltanschauliche Überzeugungen, wissenschaftliche Gewissheiten, staatsbürgerliche Pflichten und Tugenden. Der gesamte Katalog an so genannten Sekundärtugenden wurde infrage gestellt. Die Kritik am Überkommenen, dem Traditionsbestand der Gesellschaft, war ätzend wie ein Säurebad.
Eindeutig im Vordergrund stand die Rezeption bereits vorhandener Theorietraditionen, vornehmlich marxistischer Couleur. Die Produktion eigener, am vorhandenen Fundus gemessen neuer Ideen war sekundär. Vorrangige Absicht war es gerade nicht, eine möglichst umfassende System- oder Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Es ging eher darum, aus unterdrückten, verbotenen, versprengten und marginalisierten Traditionen jene Theoreme zu rekonstruieren, die für die Analyse der Gegenwart von einer nur höchst unzureichend gewürdigten Bedeutung waren. Es war die große Zeit der Wiederentdeckungen. Der Marxismus, die Psychoanalyse, die analytische Sozialpsychologie, die Kapitalismus-, die Klassen- und die Imperialismustheorie galt es wieder aufzugreifen, zu überprüfen und nach einer Unterbrechung von Jahrzehnten erneut einzubringen. Deshalb stand auch der Kontakt zu exilierten Theoretikern unter einem besonderen Stern. Sie schienen der Beweis dafür zu sein, dass es möglich war, unterbundene und abgeschnittene Traditionszusammenhänge erneut aufzunehmen und fortzusetzen
Und es war die Zeit der Außenseiter, der Häretiker, der Dissidenten. Bei aller Orientierung an den großen, Traditionen begründenden Namen: Die Sympathien gehörten jenen fast ausnahmslos jüdischen Intellektuellen, die wie Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Norbert Elias, Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse und Alfred Sohn-Rethel in gewisser Weise als Treibgut der Geschichte wirkten. Ihre gesellschaftliche Außenseiterrolle schien sie in den Augen der Studenten gegen Konformismus immunisiert zu haben. Deshalb galten sie, zuweilen völlig ungerechtfertigt, als Vorbilder für eine theoretische ebenso wie eine politische Radikalisierung.
Es waren drei grundlegende Kritiken, die den Kanon an neugewonnenen Überzeugungen bestimmten: der Antifaschismus, der Antikapitalismus und der Antiimperialismus. Die erste Kritik richtete sich gegen die Nichtauseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die zweite gegen eine auf Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit basierende Wirtschaftsordnung und die dritte gegen die Unterjochung der Länder der Dritten Welt durch die der Ersten und Zweiten. Die Verzahnung dieser drei Metakritiken verband Ende der sechziger Jahre die unterschiedlichsten Tendenzen und Fraktionen in SDS und APO miteinander: den antiautoritären mit dem traditionalistischen Flügel, die undogmatischen mit den dogmatischen Strömungen und bis zu einem gewissen Grad sogar die reformistischen mit den revolutionären Kräften. Sie bildeten eine zwar widersprüchliche, im Zuge bestimmter Mobilisierungen jedoch auch handlungsfähige Einheit.
Bezeichnend war, dass der Sowjetkommunismus und mit ihm ein wesentlicher Teil der eigenen linken Vergangenheit nicht Gegenstand der drei Grundkritiken war. Mitte der sechziger Jahre hatte sich eine Art Paradigmenwechsel abgespielt. Viele der linken studentischen Gruppen, für die die Ablehnung des Poststalinismus in der Sowjetunion wie in der DDR lange Zeit Selbstverständlichkeit besaß, waren von einer antitotalitären, gegen diktatorische Herrschaftsformen insgesamt gerichteten zu einer antifaschistischen Weltanschauung gewechselt
Bezeichnend war auch, dass nunmehr von einem allgemeinen System des Faschismus und nicht mehr von einem historisch wie theoretisch zu spezifizierenden Nationalsozialismus ausgegangen wurde
I. Die radikaldemokratische Kritik in der Inkubationszeit (1961-1967)
Schon lange vor dem Ende der Adenauer-Ära hatte die SPD mit ihrem Godesberger Programm von 1959 eine Kurskorrektur vorgenommen. Aus einer Arbeiter- war eine Volkspartei geworden. Zwar hatte man die marxistische Weltanschauung nicht vollends aufgegeben, ihr jedoch die antikapitalistische Spitze nehmen wollen. Eine der Folgen bestand in dem nach jahrelangen Konflikten 1961 herbeigeführten Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem SDS
1. Kritik der Ordinarienuniversität
Es war nahe liegend, dass eine Bewegung, die in ihrem Kern eine studentische war, ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit den Ausbildungsdefiziten der Massenuniversität hatte. Insbesondere die Schwierigkeit, im Rahmen der althergebrachten Ordinarienuniversität Schritte zu einer längst überfälligen Studienreform durchzusetzen, schärfte unter den Studierenden das Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen Hochschulreform und Demokratisierung.
Die 1962 erschienene Auswertung einer bereits fünf Jahre zuvor durchgeführten empirischen Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten wartete zwar mit einem beunruhigenden Ergebnis auf, gab jedoch die Richtung im Hinblick auf eine weitere Demokratisierung an. In ihrer unter dem Titel "Student und Politik" publizierten Studie gelangten die Soziologen Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Weltz zu dem Schluss, dass 66 Prozent der Befragten apolitisch, 16 Prozent autoritätsgebunden und nur neun Prozent einem "definitiv demokratischen Potenzial" zuzurechnen seien. In der programmatischen, von Habermas verfassten Einleitung "Über den Begriff der politischen Beteiligung" wurde die widerspruchsvolle Entwicklung zur modernen Massendemokratie analysiert: "Mit dem Zurücktreten des offenen Klassenantagonismus hat der Widerspruch seine Gestalt verändert: Er erscheint jetzt als Entpolitisierung der Massen bei fortschreitender Politisierung der Gesellschaft selbst. In dem Maße, in dem die Trennung von Staat und Gesellschaft schwindet und gesellschaftliche Macht unmittelbar politische wird, wächst objektiv das alte Missverhältnis zwischen der rechtlich verbürgten Gleichheit und der tatsächlichen Ungleichheit in der Verteilung der Chancen, politisch mitzubestimmen."
Bereits im Jahr zuvor hatte der SDS eine Denkschrift mit dem programmatischen Titel "Hochschule in der Demokratie" herausgegeben. Darin wurde der Versuch unternommen, die Universität ihrer bildungsbürgerlichen Ideologie zu entkleiden und gesellschaftlich neu zu definieren. Ziel war es, Forderungen für eine Reformierung des Studiums zu entwickeln. Dabei wurde die Humboldt'sche Reformidee als Leitbild zwar kritisiert, weil sie im Laufe der industriellen Revolution ihre Wirkungskraft mehr und mehr eingebüßt habe, jedoch zugleich an wesentliche Prinzipien des preußischen Reformers, wie die Einheit von Forschung und Lehre, die Freiheit des akademischen Studiums und die Autonomie der Universität, angeknüpft. Der ideologische Schein der Universitätsautonomie müsse einerseits aufgelöst werden, um die gesellschaftliche Funktion des Wissens in den Blick zu bekommen, andererseits aber müsse die Autonomie neu begründet werden, um Freiheit von gesellschaftlicher Instrumentalisierung zu gewinnen. Die Hochschulentwicklung wurde nun unter Produktivitätsgesichtspunkten interpretiert und - im Sinne einer Entlohnung für die im Studium geleistete Arbeit - die Forderung nach Einführung eines "Studienhonorars"
Als 1964 nach einer Artikelserie des evangelischen Theologen Georg Picht das Schlagwort vom Bildungsnotstand die Runde machte
2. Kritik der Öffentlichkeit
Eine funktionierende Öffentlichkeit wurde nicht nur von der linken Intelligenz als Instanz demokratischer Kontrolle gegenüber der politischen Herrschaft aufgefasst. Politische Eingriffe in die Pressefreiheit, so die Überzeugung, rührten zugleich auch an den Nerv der Demokratie. Als exemplarischer Fall für einen solchen Vorstoß galt die "Spiegel"-Affäre. Es war daher kein Zufall, dass gerade der politische Konflikt um das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im Herbst 1962 eine kleinere Welle studentischer Proteste auslöste, die als Auftakt zur späteren Studentenrevolte gesehen werden kann. Die Verhaftung des Verlegers Rudolf Augstein und des stellvertretenden Chefredakteurs Conrad Ahlers wegen des dringenden Verdachts, mit der Veröffentlichung des Artikels "Bedingt abwehrbereit", der sich mit den Ergebnissen des NATO-Herbstmanövers "Fallex 62" befasste, Militärgeheimnisse verraten und deshalb Landesverrat begangen zu haben, löste eine monatelange Affäre aus, die schließlich zum Rücktritt von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß führte, der als der politisch Verantwortliche der Strafverfolgungsaktion angesehen wurde.
Nur wenige Monate zuvor war unter dem Titel "Strukturwandel der Öffentlichkeit" die Habilitationsschrift von Jürgen Habermas erschienen, eine Analyse, die in mancher Hinsicht wie ein Interpretationsrahmen des Konflikts begriffen werden konnte
Was Habermas herausgearbeitet hatte, das wurde von keiner anderen Hochschulgruppe so ernst genommen wie dem SDS. Für die politisierten Studenten rückte eine Forderung ins Zentrum ihrer Aktivitäten - die nach Öffentlichkeit und Diskussion. Es existierte die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit von Demokratie und Öffentlichkeit. Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit, so die Überzeugung, könne auch keine funktionsfähige Demokratie zu erwarten sein. Deshalb war die studentische Bewegung zunächst von nichts anderem so sehr geprägt wie dem Versuch, Öffentlichkeitsformen zu erringen, durchzusetzen und dauerhaft zu etablieren
3. Kritik der unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit
Nicht weniger als anderthalb Jahrzehnte mussten vergehen, bis in Westdeutschland eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit begann
Eine der Antworten bestand darin, dass liberale und konservative Ordinarien damit begannen, in Vorlesungen das Verhältnis bestimmter Fakultäten zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten. So wurde z. B. an der Universität Tübingen im Wintersemester 1964/65 auf den Druck von Studenten eine Ringvorlesung aller Fakultäten durchgeführt
In welcher Weise die NS-Verbrechen zum Thema werden konnten, zeigte sich auch daran, dass in der ersten Ausgabe des von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen "Kursbuchs", das sich wie keine zweite Zeitschrift zu einem Sprachrohr der Neuen Linken entwickelte, ein Dossier über den Auschwitz-Prozess erschien. Insbesondere Martin Walsers Überlegungen "Unser Auschwitz" besaßen programmatischen Charakter
Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich untersuchten in ihrem Werk "Die Unfähigkeit zu trauern" jene kollektiven Prozesse, die zur Schuldverweigerung und zu einer demonstrativen Abkehr von der Vergangenheit geführt hatten
Eine nicht unbedeutende Rolle für die sich in der studentischen Linken mehr und mehr herausschälende antifaschistische Haltung spielte die Tatsache, dass der Verdacht gegenüber führenden westdeutschen Politikern von der SED mit der Präsentation neuer Dokumente ständig genährt wurde, um auf diesem Weg die Bundesrepublik diskreditieren zu können
II. Die Fundamentalkritik der APO (1967-1969)
Mit der im November 1966 gebildeten Großen Koalition änderte sich die politische Situation in der Bundesrepublik maßgeblich. Durch die Einbindung der SPD in die Bundesregierung wurde die Rolle der innerparlamentarischen Opposition zwar nicht vakant, schließlich war mit der FDP noch eine weitere Partei im Bundestag vertreten, jedoch maßgeblich geschwächt. In dieses Vakuum konnte bald eine durch den SDS radikalisierte Studentenbewegung vorstoßen und schließlich den Part einer neuen, nun außerhalb des Parlaments agierenden Opposition übernehmen. Ein kritisches Potenzial existierte zu diesem Zeitpunkt lediglich an der Freien Universität in West-Berlin, die sich bereits seit zwei Jahren in einer politischen Krise befand. Der 2. Juni 1967 war schließlich der Moment, in dem der Funke zündete und übersprang. Die Schüsse, mit denen der Germanistikstudent Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien tödlich getroffen wurde, wirkten wie ein Fanal. Das Gespenst des Polizeistaats schien plötzlich im Raum zu stehen. Mit einem Schlag griff die Campus-Revolte von West-Berlin auf Westdeutschland über und breitete sich an nahezu allen Hochschulen aus. Nun ging es jedoch nicht mehr nur um Fragen der Hochschulreform, sondern darüber hinaus um das Ungenügen der parlamentarischen Demokratie insgesamt.
1. Parlamentarismuskritik
Die Funktionsfähigkeit des Parlaments war in der ersten Hälfte der sechziger Jahre mehr und mehr in Zweifel gezogen worden
Die im SDS formulierte Parlamentarismuskritik nahm eine Vielzahl der von der Politikwissenschaft analysierten Motive auf, begriff sie aber als Symptome eines tiefer liegenden Sachverhalts. Die Prämisse lautete: Kapitalismus und Demokratie, die ihren Namen wirklich verdiene, würden sich gegenseitig ausschließen. Auf der Basis kapitalistischer Produktionsbedingungen könne, weil das Privateigentum an den Produktionsmitteln als entscheidender Machtfaktor auch die politische Sphäre bestimme, sich immer nur ein Staat durchsetzen, der auch die Interessen des Kapitals verfolge.
Der Berliner Politologe Johannes Agnoli hatte 1967 eine Kritik des bürgerlichen Verfassungsstaates vorgelegt, die wesentliche Elemente einer marxistischen Parlamentarismuskritik enthielt
Das politische System nehme in immer stärkerem Maße die Form eines korporatistischen Blocks an. Organisationen, die einstmals bestimmte Interessen vertraten, die mit anderen nahezu zwangsläufig in Konflikt geraten mussten, verwandelten sich insgeheim in staatspolitische Vereinigungen. Nicht mehr die offene Austragung gegensätzlicher Interessen sei angesagt, sondern das möglichst reibungslose Einfinden in staatliche Regelungsprozeduren. Der Antagonismus der Klassengesellschaft, der sozioökonomisch unvermindert anhalte, reduziere sich auf die Pluralität von Parteien, die aber wie nach dem Muster einer Einheitspartei funktionierten. Aus Klassen- seien Volksparteien geworden, deren Konkurrenzgebaren immer mehr zum Schein werde. Und das Parlament, die eigentliche Krone der westlichen Demokratien, spiele die Rolle eines "Transmissionsriemens der Entscheidungen politischer Oligarchien". Damit löse sich die ursprünglich am Marktmodell orientierte parlamentarische Demokratie nicht einfach auf, sondern transformiere sich ohne Bruch ihres formal rechtsstaatlichen Selbstverständnisses in Organe eines autoritären Staates.
Agnolis Parlamentarismuskritik entsprach in mehrfacher Hinsicht der radikaldemokratischen Kritik an der Großen Koalition, zugleich aber besaß sie auch eine suggestive Qualität. Ohne es direkt auszusprechen, legte sie nahe, dass gegen die drohende Gefahr eines neuen Faschismus nur der Klassenkampf eine wirksame Gegenwehr darstelle. Wenngleich er in seinem Buch eher behutsam von "Fundamentalopposition" sprach, so hielt er in kurze Zeit später veröffentlichten Thesen den Umschlag von einer außerparlamentarischen Opposition "in einen offenen antiparlamentarischen Kampf"
Eine rätedemokratische Herrschaft, so die Überzeugung, sei nur denkbar auf der Basis vergesellschafteter Produktionsmittel, also als politi-sche Form sozialistischer Produktionsverhältnisse. Wenn es nicht gelänge, die errungene politische Macht auch in eine Änderung der Eigentumsverhältnisse umzusetzen, dann bleibe die Niederlage im Klassenkampf unausweichlich. Die von der Studentenbewegung mit dem Rätemodell favorisierten Leitvorstellungen lauteten zunächst: Alle für das politische Handeln relevanten Entscheidungen in Basisgruppen zu fällen, über Entscheidungsalternativen gemeinsam und öffentlich zu beraten, die Gefahr einer Verselbständigung von Herrschaftsrollen durch dauernde Kontrolle und Ämterrotation auf ein Minimum zu beschränken und ein imperatives Mandat zu gewährleisten. Auch wenn es nicht zur expliziten Inanspruchnahme des Rätemodells durch Studenten-, Schüler- oder Lehrlingsgruppen gekommen ist, so markierte dieser Kanon von Leitvorstellungen doch den Vorstoß einer radikaldemokratischen Bewegung auf ein als ebenso legitimationsschwach wie öffentlichkeitsarm wahrgenommenes parlamentarisches System.
2. Der autoritäre Staat und der autoritäre Charakter
Die Mobilisierungserfolge der außerparlamentarischen Bewegung im Sommer 1967 stellten den SDS zwar vor eine Reihe neuer Probleme, trugen jedoch nicht unerheblich dazu bei, dass sich auf der nächsten Delegiertenkonferenz des Studentenbunds im September der undogmatische Flü-gel durchzusetzen vermochte. Nachdem Rudi Dutschke in einem gemeinsam mit Hans-Jürgen Krahl verfassten Referat zur "Organisation des SDS" die Richtung vorgegeben hatte
Eine Theorie der antiautoritären Bewegung im eigentlichen Sinne hat nie existiert. Es gab jedoch zwei grundlegende Ausgangstheoreme, die einen Rahmen vorgaben. Die Begründung der antiautoritären Zielsetzungen bezog sich ganz wesentlich auf die Kritische Theorie, insbesondere auf Elemente der von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse entwickelten Gesellschaftsphilosophie
Beim Theorem des integralen Etatismus, das in ökonomischer Hinsicht maßgeblich auf Überlegungen des Horkheimer-Freundes Friedrich Pollock zurückzuführen ist, geht es um eine Theorie des Monopolkapitalismus, in der der Staat zum Gesamtkapitalisten wird. Bei Beibehaltung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel wird der Konkurrenzmechanismus ausgeschaltet, direkt in die Steuerung des Produktionsprozesses eingegriffen und die Verteilung des Mehrwerts dirigistisch geregelt. Die Massenloyalität wird durch Manipulation der Informationsmedien, letztlich der öffentlichen Meinung, hergestellt. Manipulation tritt, soweit es irgend geht, an die Stelle offener Repression.
Die Theorie der autoritären Persönlichkeit basierte auf einer empirischen Untersuchung, die 1945/46 vor allem unter Angehörigen der amerikanischen Mittelschichten durchgeführt worden war, mit der die Anfälligkeit von Personen für antisemitische Vorurteile und Feindbilder herausgefunden werden sollte. Mit verschiedenen Skalen wurden die Raster bestimmter ethnozentrischer Stereotypen herausgefiltert. Im Mittelpunkt stand die so genannte F-Skala, die Faschismus-Skala. Wesentliche Merkmale des autoritativen, zum Faschismus tendierenden Charakters, so lautete eines der Ergebnisse, waren eine starre Bindung an herrschende Werte wie Unauffälligkeit, Sauberkeit, Erfolgsstreben, Ordnungsliebe, Unterwürfigkeit, Verachtung von Außenseitern und die Diskriminierung von Fremden und Schwächeren. Mit anderen Worten - der autoritäre Charakter war in der Strukturtypologie der Psychoanalyse durch ein schwaches Ich, ein externalisiertes Über-Ich und ein vom Ich kaum noch zu kontrollierendes Es geprägt.
Die SDS-Studenten gingen davon aus, dass die Demokratie in der Bundesrepublik durch die Fortexistenz autoritärer Persönlichkeiten im Kleinbürgertum und den Mittelschichten ernsthaft gefährdet sei
In seinem im Mai 1967 in deutscher Übersetzung erschienenen Hauptwerk "Der eindimensionale Mensch" vereinigte Herbert Marcuse die objektive und die subjektive Dimension einer autoritären Gesellschaft. Er analysierte die innere Logik in der Fortentwicklung des modernen Kapitalismus, der zu einer Einheit von "Wohlfahrts- und ,Warfare'-Staat" geworden sei. Als wichtigstes Strukturmoment im neuen Herrschaftssystem definierte er die Verschmelzung von technologischer und politischer Rationalität: "Angesichts der totalitären Züge dieser Gesellschaft lässt sich der traditionelle Begriff der ,Neutralität' der Technik nicht mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird."
Mit seiner bereits in "Triebstruktur und Gesellschaft" entwickelten Katagorie der "repressiven Entsublimierung"
Auf die Randgruppen der hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaft ging er in einem ebenso umstrittenen wie einflussreichen Aufsatz ein, der im Oktober 1966 unter dem Titel "Repressive Toleranz" erschien. Den Stein des Anstoßes stellte eine Passage dar, in der es um die Frage des Widerstandsrechtes ging: ". . . ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ,Naturrecht' auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben . . . Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen."
3. Die Identifikation mit der Dritten Welt
Noch sehr viel ungeschützter als Marcuse hatte sich Jean-Paul Sartre zur Gewaltfrage in einem Text geäußert, der wie ein Fanal wirkte. Unter dem Eindruck des immer weiter eskalierenden Algerienkrieges, dessen Terroraktionen auch Paris erreichten, einer gefährdeten Entkolonialisierung, bei deren Unterminierung man im Kongo selbst vor der Entführung und Ermordung von Ministerpräsident Patrice Lumumba nicht zurückgeschreckt war, hatte er 1961 ein Vorwort zu einem Buch verfasst, dessen Titel der Anfangszeile der Kommunistischen Internationale entliehen war und das bald als "antikolonialistisches Manifest" bezeichnet wurde: Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde"
Sartre griff nun diese Apotheose der Gewalt auf, sprach, Engels zitierend, von einer "Geburtshelferin der Geschichte" und verspottete im Gegensatz dazu die liberalen Verfechter der Gewaltlosigkeit, die weder Opfer noch Henker sein wollten, als Anhänger einer verlogenen Ideologie. Die antikoloniale Gewalt, die nicht unterdrückt werden könne, sei "nichts weiter als der sich neu schaffende Mensch". Seine Identifikation mit dem Befreiungskampf der Kolonisierten nahm dabei durchaus masochistische Züge an
Als 1966 die deutsche Übersetzung des Bandes erschien, konzentrierten sich die stärksten Hoffnungen der radikalen Studenten noch auf Lateinamerika. Hier gab es mit Kuba das Beispiel einer scheinbar erfolgreichen Revolution und mit den Operationen von Guerillakämpfern in Bolivien und Venezuela zeitweilig die Aussicht auf ein Übergreifen des revolutionären Prozesses auf den südamerikanischen Kontinent
Im Zuge der Eskalation des Vietnamkrieges hat schließlich der Vietcong die lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen in ihrer Vorbildfunktion mehr und mehr zu ersetzen vermocht. Es waren führende SDS-Mitglieder wie der Westberliner Jürgen Horlemann, die die wichtigsten Analysen des Vietnamkrieges vorlegten
Auf dem Höhepunkt der Revolte fand dann im Februar 1968 in West-Berlin der "Internationale Vietnam-Kongress" statt. Vor mehreren tausend Teilnehmern hielt Rudi Dutschke den Hauptredebeitrag - Thema: "Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Befreiungskampf". Darin ging er von der Prämisse aus, dass jede radikale Opposition global sein müsse. Die "Befreiungsbewegungen der Dritten Welt" hätten eine vorentscheidende Bedeutung für die "Destabilisierung der imperialistischen Machtzentren in den Metropolen". Als wichtigsten Beitrag im eigenen Land forderte er die Organisierung einer "Anti-NATO-Kampagne"
Die Offensive der Vietcong-Truppen zu Beginn des buddhistischen Neujahrsfestes Tet in Südvietnam, die so genannte Tet-Offensive, war kurz zuvor blutig niedergeschlagen worden. Wie sich später herausstellte, war das der Wendepunkt in dem von den Vereinigten Staaten entfesselten Vietnamkrieg. Der selbstmörderische Vorstoß von Vietcong auf die US-Botschaft in Saigon, die Ablösung des Oberkommandierenden der US-Streitkräfte, General William C. Westmoreland, und die Ankündigung Lyndon B. Johnsons, kein weiteres Mal mehr für das Amt des US-Präsidenten kandidieren zu wollen, zeigten unmissverständlich, dass die Führungsspitze der US-Regierung zwar nicht kapituliert, aber doch resigniert hatte.
Die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt dienten der 68er-Bewegung als "Projektionsbühne"
4. Der Zerfall der 68er-Bewegung
In einem unmittelbaren politischen Sinne ist die antiautoritäre Bewegung fast auf der ganzen Linie gescheitert. Zwar gelang es unter Aufbietung aller Kräfte, 1969 den Einzug der NPD in den Bundestag zu verhindern, die Hauptziele jedoch wurden allesamt verfehlt. Innenpolitisch war bereits die Niederlage in der Anti-Notstands-Bewegung entscheidend. Die viel beschworene Einheit von Arbeiter- und Studentenbewegung, wie sie zum allgemeinen Erstaunen zur gleichen Zeit in Frankreich möglich geworden war, blieb in der Bundesrepublik eine Chimäre. Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 hatte die APO ihren Zenit überschritten. Die Struktur des Axel-Springer-Verlags blieb unangetastet, die Hochschulreform erwies sich rasch als Enttäuschung, und die hochfliegenden revolutionären Erwartungen blieben auf der ganzen Linie unerfüllt.
Was folgte, war eine innere Radikalisierung, die nicht unerhebliche Teile in die Gewalt trieb. Der Antiautoritarismus, der in so rasanter Weise über alle konkurrierenden politischen Strömungen obsiegt hatte, wurde zu seinem eigenen Opfer. Da es sein insgeheimes Gesetz war, immer in Bewegung zu bleiben, musste diese Logik unter veränderten Außenkoordinaten in die Selbstzerstörung führen. Dynamik, Intensität und Tempo waren zu Charakteristika der 68er-Bewegung geworden. Ihre Binnendynamik setzte sich immer weiter fort und führte zu endlosen Konflikten innerhalb der eigenen Reihen. Die Affinität etwa zur chinesischen Kulturrevolution, die auf einer völligen Verkennung des Maoismus als eines eigenständigen Typus totalitärer Herrschaft basierte, resultierte in hohem Maße aus der Identifikation mit dem Permanenzideal eines revolutionären Prozesses. Das paradoxe Umschlagen einer zunächst äußerst erfolgreichen Ausbreitung der Bewegungsformen und -ziele in eine zunehmende Destruktion wurde von den meisten zwar als quälend erlebt, aber nicht durchschaut.
Im Winter 1968/69 setzte überall ein Prozess der Umorientierung ein, der rasch zur Zersplitterung und einer Fetischisierung von Organisationsformen führte. Innerhalb von nur wenigen Monaten fiel der SDS faktisch auseinander. Die Antiautoritären schienen durch die nachlassende Mobilisierung auf der Straße und die infolge der Bildung einer sozialliberalen Koalition veränderte politische Lage wie paralysiert, das Wort übernahmen radikal orthodoxe Kräfte - Neoleninisten und Maoisten. Während der größte Teil der alten APO von der SPD und der neugegründeten DKP aufgesogen wurde, bildeten sich in kurzer Zeit kommunistische Kadergruppen, die sich in völliger Verkennung ihrer wirklichen Rolle als Vorhut der Arbeiterbewegung begriffen. Die studentischen Speerspitzen der APO ernannten sich selbst zur proletarischen Avantgarde und glaubten sich so zur Führungselite einer nicht zu einer radikalen Systemveränderung neigenden Arbeiterschaft machen zu können. Damit waren die Weichen für ein Jahrzehnt gestellt. Die aktivsten studentischen Gruppen zogen zielstrebig in eine politische Sackgasse, aus der einen Ausweg zu finden kaum noch möglich zu sein schien.
5. Die Marxismus-Renaissance in der Reformära (1969-1973)
Mit der Bildung einer Bundesregierung, die mit dem Sozialdemokraten Willy Brandt an der Spitze eine Reformpolitik einzuleiten versprach, entfielen die meisten Voraussetzungen zur Fortführung einer außerparlamentarischen Bewegung. Einige der von der APO freigesetzten Impulse, insbesondere im Bereich der Bildungspolitik, wurden aufgegriffen, andere hingegen eingedämmt oder ganz abgeschnitten. Die Koalition von SPD und FDP legte einerseits mit dem Amnestiegesetz für Demonstrationsstraftäter ein Integrationsangebot vor, andererseits lieferte sie mit dem Radikalenerlass, durch den Systemgegner vom Staatsdienst fern gehalten werden sollten, ein Zeichen der Abschreckung. Zwar wuchs das Potential links von der SPD quantitativ stark an, es stellte jedoch wegen seiner Diffusität keine einheitliche Kraft mehr dar und büßte dadurch viel vom Charakter einer politischen Herausforderung ein.
Als sich im März 1970 der SDS formell auflöste, waren die Weichenstellungen für die Entwicklung der radikalen Linken der siebziger Jahre bereits weitgehend vollzogen. Aus der 68er-Bewegung waren zu diesem Zeitpunkt vier Grundströmungen entstanden:
- eine reformistische, die ihre stärkste Bastion in der Jugendorganisation der SPD, den Jungsozialisten, besaß;
- eine traditionell kommunistische, die nach der Legalisierung einer kommunistischen Partei in der DKP ihre Heimat zu finden glaubte;
- eine marxistisch-leninistische, die ihr Heil im Proletkult der zwanziger Jahre und in der Gründung vermeintlich revolutionärer Kaderorganisationen suchte und
- eine undogmatisch-neomarxistische, die im "Sozialistischen Büro" (SB) eine Art Netzwerkzentrale fand, deren Bedeutung erst im Laufe der Jahre sichtbar wurde.
Einerseits waren diese Strömungen durch eine hektische Aufbruchstimmung geprägt, andererseits aber saß die deprimierende Erfahrung einer grundlegenden politischen Niederlage immer noch tief. Diese Zwiespältigkeit führte bereits im Ansatz zu einer Verbissenheit in den meisten ihrer politischen Aktivitäten. Mit organisatorischer Entschlossenheit sollte nun das erreicht werden, was in der Form einer lockeren, zum Teil spontanen Protestbewegung nicht hatte vollbracht werden können. Deshalb galt es zuerst einmal, die "Organisationsfrage" zu lösen.
Die Universität, an denen sich "Rote Zellen" auszubreiten begannen, war nicht länger mehr der zentrale Ort, von dem aus die politische Arbeit organisiert wurde. Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich zunehmend auf außeruniversitäre Bereiche, auf Stadtteile und insbesondere auf Betriebe. Betriebsarbeit hatte für die entschiedensten der linksradikalen Gruppierungen Priorität. Denn der Adressat war in erster Linie die Arbeiterschaft. Sie galt es vor allem zu gewinnen, weil sie als das einzig Erfolg versprechende revolutionäre Subjekt galt. Es schien alles nur noch eine Frage der Bewusstseinsbildung zu sein, wie sich das "ökonomistische" Arbeiterbewusstsein auf dem schnellsten Wege in ein revolutionäres Klassenbewusstsein würde transformieren lassen können. Die Tatsache, dass es im Herbst 1969 unter Stahlarbeitern zu wilden Streiks gekommen war, wurde als Zeichen für ein neues Selbstbewusstsein gewertet.
Die zeitweilige Dominanz jener Strömungen, die sich auf die Kritische Theorie beriefen, schien nun endgültig vorüber zu sein. Das jedenfalls war der Eindruck, als im Februar 1970 in der Heidelberger Studentenzeitung "Rotes Forum" eine polemische "Abrechnung" erschien
Die Fixierung auf die Arbeiterbewegung als das einzig denkbare revolutionäre Subjekt führte zur Entstehung zahlreicher ML-Gruppen und zur Bildung verschiedener pseudoproletarischer Parteien. Nachdem genau 50 Jahre nach Gründung der KPD zur Jahreswende 1968/69 in Hamburg eine KPD/ML aus der Taufe gehoben worden war, entstand 1971 in West-Berlin eine weitere, mit ihr konkurrierende KPD, im selben Jahr in Norddeutschland ein "Kommunistischer Bund" (KB) und 1973 in Bremen der KBW. Auch die im Mai 1970 erfolgte Gründung der terroristischen "Rote Armee Fraktion" (RAF), deren Mitglieder sich als "Leninisten mit Knarre" verstanden, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die bewaffnete Kaderorganisation, die wie keine andere das innenpolitische Klima in der Bundesrepublik vergiftete, gab vor, Teil eines größeren Ganzen, einer Art proletarischen Kampfzusammenhanges, zu sein.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich als Gegenreaktion auf die das Bild der Öffentlichkeit zeitweilig dominierenden K-Gruppen spontaneistische und andere undogmatische Strömungen herausbildeten, die ihr Zentrum in Frankfurt hatten und sich in der Tradition der Antiautoritären begriffen. Da es ihnen darauf ankam, ein eigenes Milieu auszubilden, in dem sie mit alternativen Lebensformen experimentieren konnten, konzentrierten sie sich auf Hausbesetzungen, Mietstreiks und andere Formen der Stadtteilarbeit.
Die Reaktivierung des Marxismus als einer lange Zeit unterdrückten und diskreditierten theoretischen Tradition war eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die es für die vielfältig aufgespaltenen Überreste der 68er-Bewegung gab. In der systematischen Rezeption der Marx'schen Kritik der politischen Ökonomie, die den Status einer Basiswissenschaft einnahm, versprachen sich fast alle Gruppierungen die Schaffung einer theoretischen Grundlage für die Klärung politischer Aufgaben und Problemstellungen
Und während sich die unterschiedlichsten linken Gruppierungen theoretisch wie praktisch um die Vorherrschaft stritten, kristallisierte sich über einzelne Kampagnen eine Kraft heraus, mit der kaum jemand gerechnet hatte - die neue Frauenbewegung. Die öffentliche Selbstbezichtigung einer Reihe prominenter Frauen, Abtreibungen vorgenommen zu haben, erwies sich als ein erster Kristallisationskern
6. Die ökologische Fundamentalkritik in der Transformationszeit (1973-1977)
Als an einem jüdischen Feiertag im Oktober 1973 Ägypten und Syrien gemeinsam Israel überfielen und an den Rand einer militärischen Niederlage drängten, wurde mit dem Jom-Kippur-Krieg ein Ölpreisschock und durch diesen wiederum eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst. Die Konjunktur brach in der Bundesrepublik in sich zusammen, eine Rezession breitete sich aus und führte zu einem gravierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit. Bundeskanzler Willy Brandt, mit dessen Person nach der Abwehr des Misstrauensvotums im April 1972 Hoffnungen auf eine Fortsetzung der Reformpolitik verknüpft wurden, trat im Mai 1974 zurück und wurde von dem pragmatisch orientierten Helmut Schmidt abgelöst. Die Reformära war damit zu Ende. Begonnen hatte auch die Zeit der strukturellen Arbeitslosigkeit. Sie war auf die Entscheidung der OPEC-Staaten zurückzuführen, den Preis des Rohöls nach oben zu schrauben.
Unter diesen Voraussetzungen setzte bald ein grundlegender Wandel im Verständnis von Produktivität und gesellschaftlichem Fortschritt ein, den einer der führenden linken Intellektuellen bereits wegen des vernachlässigten Themas Umweltschutz prognostiziert hatte. Im Oktober 1973 war im "Kursbuch" ein Titelaufsatz erschienen, in dem Hans Magnus Enzensberger eine "Kritik der politischen Ökologie" formuliert hatte. "Wenn die ökologische Hypothese zutrifft," hatte er seine Prognose zusammengefaßt, "dann haben die kapitalistischen Gesellschaften diese Chance, das Marx'sche Projekt der Versöhnung von Mensch und Natur, wahrscheinlich definitiv verwirkt. Die Produktivkräfte, welche die bürgerliche Gesellschaft freigesetzt hat, sind von den gleichzeitig entfesselten Destruktivkräften eingeholt und überholt worden . . . Was einst Befreiung versprach, der Sozialismus, ist zu einer Frage des Überlebens geworden. Das Reich der Freiheit aber ist, wenn die Gleichungen der Ökologie aufgehen, ferner gerückt denn je."
Die jahrelang betriebene Kritik der politischen Ökonomie wurde von einer sich an Radikalität überbietenden und zur insgeheimen Apokalyptik neigenden Ökologie- und Technikkritik abgelöst. Der Marxismus geriet nicht nur deshalb in eine Krise, weil er mit seiner Orientierung an Arbeiterbewegung, Klassenkampf und Revolutionstheorie politisch in die Irre geführt hatte, sondern auch, weil er auf einem industriellen Produktivismus basierte, der sich als zunehmend problematisch, in der bedenkenlosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen gar als gefährlich erwies.
Aus der Anti-AKW-Bewegung entstand ein Spektrum grün-bunt-alternativer Gruppierungen und daraus wiederum jene Kräfte, die mit der Parteigründung der Grünen seit 1980 Schritt für Schritt eine Reintegration der Nach-68er in das parlamentarische System vollzogen haben. Im Zuge dieser Transformation hat sich zugleich ein nichtexplizierter Paradigmenwechsel in den geschichtsphilosophischen Prämissen des Projekts, die Gesellschaft verändern zu wollen, abgespielt. Die Vorstellung, mit dem Arbeitsprozess die Natur beherrschen zu können, steht seitdem ebenso zur Revision wie das Vertrauen, politisches Handeln basiere auf einem der Geschichte inhärenten Fortschrittsprinzip.