I. Einleitung
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unrechtssystems wurde mit den Art. 92 ff. Grundgesetz (GG) ein Verfassungsorgan geschaffen, das nicht nur in der deutschen Geschichte ohne vergleichbaren Vorgänger ist, sondern - was seine weitgehenden Kompetenzen und seine Bedeutung für das politische Handeln angeht - auch im internationalen Vergleich seinesgleichen sucht. In Deutschland realisiert sich, erwachsend aus seiner Geschichte, Souveränität - etwa im Vergleich mit der Schweizer Volks- oder der englischen Parlamentssouveränität - in der Form der Verfassungssouveränität und diese wird vom Bundesverfassungsgericht gehütet. Dieses urteilt - eine Klage vorausgesetzt - letztentscheidend über ein Gesetz
Damit ist das Bundesverfassungsgericht vor die sehr große Herausforderung gestellt, seine Entscheidungen zwischen den Polen des überzeitlichen Wertekerns der Verfassung und den jeweiligen aktuellen Interpretationserfordernissen anzusiedeln. In starkem Maße hat es so zur Auslegung und Weiterentwicklung des Grundgesetzes beigetragen. Es ist Teil der letztverbindlichen Kontrolle von Politik und Verwaltung im Rechtsstaat, von seiner verfassungsmäßigen Anlage und von seinem Auftrag her jedoch nicht politisch
Insbesondere nach den ,,Familienurteilen" vom November 1998 ist die Diskussion der Rolle des Bundesverfassungsgerichtes im politischen System Deutschlands wiederbelebt worden. So soll uns im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes das Spannungsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und politischem Gestaltungsprozess beschäftigen. Ein kontinuierlicher Prozess der Gesetzes(mit)gestaltung lässt sich prägnant am Beispiel des Familienlastenausgleichs ablesen, das uns im Weiteren interessieren wird. Hier haben die gesetzgebenden Körperschaften schlichtweg versagt. Folgenschwer ist dies nicht nur, weil dem Bundesverfassungsgericht dadurch Aufgaben zugemutet werden, für die es nicht zuständig ist, sondern auch, weil das Vertrauen in ,,die Gesetzgebung und ihre rechtsschöpfende Kraft" ebenso schwindet wie die Überzeugung, dass sich eine entsprechende Politik eine erwähnenswerte Steuerungsfähigkeit erhalten habe
Insbesondere die Urteile vom 10. und 24. November 1998 zur steuerlichen Freistellung des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs für Kinder und zur Berücksichtigung der Kosten für Kinder bei der Alimentation kinderreicher Beamter haben die öffentliche Diskussion über die grundsätzlichen Befugnisse des Gerichts wieder in Gang gesetzt, der zufolge fast einhellig davon ausgegangen wird, das Gericht habe seine Grenzen gegenüber dem Gesetzgeber überschritten
Vor dem Hintergrund der skizzierten verfassungstheoretischen Funktionen des Bundesverfassungsgerichtes und der Kritik an deren Umsetzung soll im Folgenden versucht werden, die Entwicklung seines politischen Gestaltungswillens in der Familienpolitik, insbesondere in Bezug auf den Familienlastenausgleich, nachzuzeichnen
II. Politikgestaltung durch die Urteile zum Familienlastenausgleich
Seit am 17. Januar 1957 das erste grundlegende Urteil zum steuerlichen Diskriminierungsverbot von Verheirateten gegenüber Ledigen gesprochen wurde (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts [BVerfGE] 6, 55)
· das Konzept der Gleichheit zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Verheirateten und Ledigen sowie Eltern und Kinderlosen;
· dasjenige der horizontalen Gleichheit in der Besteuerung;
· das Schutz- und Förderungsgebot gegenüber der Familie sowie die elterliche Gestaltungsfreiheit bei der Erziehung und Betreuung der Kinder;
· die sozialstaatliche Umverteilung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (vertikale Gleichheit);
· der Begriff der kinderbezogenen Kosten in Absetzung von privat verursachten und vermeidbaren Kosten
· sowie organisatorische Fragen des Familienlastenausgleichs (FLA).
Schwerpunkte der Verfassungsrechtsprechung im ersten Jahrzehnt bildeten unter dem Leitziel der Garantie von Gleichheit im Steuerrecht bzw. der Unzulässigkeit von Diskriminierung eine Reihe von Verfahren zum Verhältnis des Haushaltsbesteuerungsprinzips zum Individualbesteuerungsprinzip. Mit einem Urteil zur Zulässigkeit der Finanzierung von Familienleistungen über Familienausgleichskassen der Arbeitgeber (BVerfGE 11, 105) wurden 1960 schon grundsätzliche Fragen zur Organisation des FLA aufgeworfen.
Im Urteil zum ,,Ehegattensplitting" (BVerfGE 6, 55) entwickelte das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung, Art. 6 sei eine Grundsatznorm, d. h., dass von ihm eine ,,verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechtes" (BVerfGE 6, 55 [55]) ausgehe und dass sich in der Konsequenz eine Benachteiligung von Verheirateten verbiete, eine Bevorzugung aber möglich sei (76)
In einem Urteil aus dem Jahr 1976
1977 beschäftigte es sich mit der Frage, ob die Aufwendungen für Haushaltsgehilfinnen, die berufstätigen Eltern mit Kindern entstehen, als Betriebsausgaben, Werbungskosten oder außergewöhnliche Belastungen vom Einkommen abzuziehen seien
Insgesamt sind die familienbezogenen Urteile der siebziger Jahre unter starker Betonung der sozialstaatlichen Ausgleichsfunktion steuerlicher Gesetzgebung geschrieben. Zudem ist ihr Tenor im Hinblick auf eine Öffnung des ,,Kostenbegriffes" im Sinne der Abzugsfähigkeit von Familien- bzw. Kinderkosten durchweg abwehrend. Die besondere Situation Alleinstehender mit Kindern und deren steuerliche Behandlung im Sinne einer geminderten Leistungsfähigkeit durch notwendige Betreuungskosten beschäftigte das Bundesverfassungsgericht 1982 (BVerfGE 61, 319). Insbesondere war hier zu untersuchen, ob das Ehegattensplitting nicht auch auf allein stehende Elternteile auszudehnen sei
Dies führte in der Regel zu einer höheren Besteuerung Alleinstehender mit Kindern bei gleichem Einkommen und verstieß damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG (BVerfGE 61, 319 [343]). Im Hinblick auf die Konsequenzen für den Gesetzgeber scheint sich im Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichtes schon in diesem Urteil eine Wende anzudeuten, insofern als es zwar - bis auf eine Fristsetzung (zwei Jahre) - dem Gesetzgeber überlässt, wie ,,die Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Alleinstehenden mit Kindern zu beseitigen ist" (354), ihn aber gleichwohl an das Leistungsfähigkeitsprinzip bei der Besteuerung bindet und eine Liste von Möglichkeiten zur Umsetzung an die Hand gibt (354/355). Der Gesetzgeber kann die geminderte steuerliche Leistungsfähigkeit im Steuerrecht (z. B. Familienteil -, Familienrealsplitting, Einbezug von Alleinstehenden in Splittingverfahren) oder als Förderungsaufgabe im Sozialrecht berücksichtigen. Er darf durch ,,die zu treffende gesetzliche Neuregelung Alleinstehende mit Kindern steuerlich nicht besser stellen als Ehepaare mit Kindern" (355)
Während das Gericht noch 1976 (BVerfGE 43, 108) wie schon zuvor die Auffassung vertreten hatte, dass es verfassungsrechtlich nicht geboten erschien, ,,die volle steuerliche Berücksichtigung der Unterhaltsaufwendungen zu Lasten der Allgemeinheit und der Gesamtheit der Steuerzahler" anzustreben (121), ergab sich 1990 eine Tendenzwende, die sich schon in dem Urteil von 1982 angekündigt hatte (BVerfGE 61, 319). War zuvor nämlich auf die umfangreichen sonstigen Leistungen des Staates verwiesen worden, die für die Eltern zu einer Entlastung bei der Wahrnehmung der ihnen obliegenden Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG führten (Schul-, Bildungs-, Ausbildungssystem, BAföG-Leistungen, kinderzahlabhängige Vorsorgepauschale sowie Ausbildungsfreibeträge), wurde die Möglichkeit einer ,,Verrechnung" nun ausgeschlossen. In diesem Urteil wurde geprüft, ob die mit der Wiedereinführung des dualen Familienlastenausgleichs ab 1983 vorgenommene einkommensabhängige Kürzung des Kindergeldes (in Verbindung mit sehr geringen steuerlichen Freibeträgen) verfassungsgemäß war (BVerfGE 82, 60). Dazu wird in dem Urteil erläutert, dass das Kindergeld vor 1974 eine rein sozialpolitische Maßnahme war, nach der ,,Kindergeldreform" jedoch neben sozialpolitischen Zielen auch dasjenige der horizontalen Gleichheit (Steuerrecht) zu berücksichtigen sei (78). Diese Doppelfunktion des Kindergeldes wurde ab 1983 prinzipiell wieder aufgegeben, durch die geringe Höhe der steuerlichen Freibeträge wurde aber die Berücksichtigung des Prinzips der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit nicht realisiert. Daher forderte das Gericht, dass zukünftig ,,das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss" (85). Dies ist auch unter Berücksichtigung schwieriger Haushaltslagen zu gewährleisten (BVerfGE 87, 153 [172)]/Grundfreibetrag).
Dieses Urteil zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums für jedes Familienmitglied stellt eine endgültige Tendenzwende oder zumindest -akzentuierung in der folgenden Hinsicht dar:
- Während 1976 noch davon ausgegangen wurde, dass die volle steuerliche Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen auch vor dem Hintergrund der sonstigen staatlichen Leistungen für Kinder nicht geboten erschien, geht das Gericht nun davon aus, dass einerseits bei der steuerlichen Berücksichtigung zwangsläufiger Unterhaltsaufwendungen keine realitätsfernen Grenzen gezogen werden dürfen und andererseits eine Verrechnung des existenzminimalen Aufwandes mit öffentlichen Leistungen wie z. B. denen des Bildungswesens oder des sonstigen Steuersystems nicht möglich ist.
- Mit der ausdrücklichen Unterscheidung zwischen den Prinzipien der horizontalen Steuergerechtigkeit einerseits und sozialpolitischen Maßnahmen eines Familienlastenausgleichs (81 und 89) andererseits hat das Gericht darauf hingewiesen, dass der zuvor teilweise suggerierten Beliebigkeit der Wahl zwischen den Instrumenten Steuerfreibeträge und Kindergeld Grenzen gesetzt sind. Erst wenn die Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 20 Abs. 1 GG entsprechende steuerliche Freistellung des Existenzminimums für alle Familienmitglieder verwirklicht ist und zudem strikt nach dem Prinzip der horizontalen Steuergerechtigkeit besteuert wird, beginnt ein Familienlastenausgleich. Demzufolge könnte auch lediglich ein Kindergeld gekürzt werden, das als reine Sozialleistung nach Erfüllung der Gebote steuerlicher Gleichbehandlung und Freistellung des Existenzminimums einzustufen wäre
Wie hoch und mit welchen Mitteln dieser Familienlastenausgleich allerdings zu gestalten ist, liege im Ermessen des Gesetzgebers, wird dann argumentiert. Für die Bestimmung der Höhe des freizustellenden Existenzminimums gibt das Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil sehr konkrete Eckwerte an die Hand (BVerfGE 82, 60 [91 ff.])
Insbesondere im Vergleich zu den Urteilen der siebziger Jahre hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil aus dem Jahr 1990 nicht mehr (mögliche Forderungen) abwehrend argumentiert, sondern wesentliche Leistungsverbesserungen begründend. Im Hinblick auf Umsetzungsmöglichkeiten der verfassungstheoretisch begründeten Erfordernisse des Leistungsfähigkeitsprinzips für Familien und die Berechnung des freizustellenden Existenzminimums hat es sehr konkrete Vorschläge erarbeitet.
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Kürzung des Kindergeldes für Besserverdienende war dann 1994 noch einmal für die Jahre 1986 und 1987 zu prüfen, und zwar unter Geltung angehobener Steuerfreibeträge (2 484'DM) (BVerfGE 91, 93). Im Ergebnis kommt das Bundesverfassungsgericht hier zu dem Schluss, dass das Prinzip horizontaler Gleichheit in der steuerlichen Behandlung so lange nicht durchbrochen wird, wie die Steuerfreibeträge eine Freistellung des Existenzminimums für Kinder bei einer Progression von 45 Prozent nicht um mehr (Hervorhebung I.G.) als 15 Prozent unterschreiten (116). Zur Differenzierung nach Einkommen wird weiter ausgeführt: ,,Ebenso wie der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Beitrag des Existenzminimums so zu bemessen, dass es in möglichst allen Fällen den entsprechenden Bedarf deckt . . ., muss er ihn auch möglichst allen Steuerpflichtigen in gleicher Weise zugute kommen lassen. Er darf danach die horizontale Steuergleichheit auch bei Spitzenverdienern allenfalls in geringem Umfang vernachlässigen. Es ist ihm aber nicht jede Pauschalierung verwehrt" (116).
Während noch in dem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Kindergeldkürzungen für Besserverdienende 1994 (BVerfGE 91, 93) davon ausgegangen wurde, dass eine Unterschreitung der Freistellung des Existenzminimums für Kinder um max. 15 Prozent verfassungsgemäß war, wird dem Gesetzgeber dieser Gestaltungsspielraum 1998 genommen (2 BvL 42/93 [vorläufige Bezeichnung der Urteile, bevor diese in die Nomenklatur der BVerfG-Entscheidungen aufgenommen werden], Kinderleistungsausgleich). Grund dafür ist die geänderte Berechnungsgrundlage bei den Sozialhilfesätzen als Referenzbeträgen für die Bestimmung existenznotwendiger Aufwendungen (S. 22 der maschinenschr. Fass.). In diesem Urteil nimmt das Bundesverfassungsgericht zu Fragen der konkreten Ermittlungstechnik für das steuerlich freizustellende Existenzminimum Stellung (26 f.). Dabei setzt es sich insbesondere mit der Ermittlungstechnik für den Wohnbedarf im Rahmen der Sozialhilfe, der 15-Prozent-Grenze möglicher Unterschreitung der realen existenznotwendigen Beträge des Kinderexistenzminimums sowie der Frage auseinander, nach welchem Steuersatz die Umrechnung des tatsächlich gezahlten Kindergeldes in einen fiktiven Kinderfreibetrag erfolgen muss. Es kommt bezüglich der 15-Prozent-Grenzen zu dem Schluss, dass die entsprechende Unterschreitung insoweit nicht mehr hinnehmbar ist, als in die Berechnung des sozialrechtlichen Existenzminimums der Wohnbedarf nicht mehr nach der Pro-Kopf-Methode (Addition nach Zahl der Personen ohne Reduzierung angesichts des nicht wachsenden Bedarfs gemeinschaftlich genutzter Räume), sondern nach der Mehrbedarfsmethode erfolgt. Nur das Vorgehen nach der Pro-Kopf-Methode rechtfertigt aber dabei die 15-Prozent-Toleranz, da hier eine Unterstellung tendenziell erhöhter Werte vorliegt (27). D.h., dass zukünftig keine Unterschreitung statistisch ermittelter Mindestbeträge mehr möglich ist (28).
Am Rande ging das Gericht schon in seinem Urteil vom 29. Mai 1990 auf einen Aspekt ein, der für die Begründung eines Familienleistungsausgleichs in kommenden Urteilen von Bedeutung sein wird und seine Argumentation zugunsten einer gerechten Behandlung von Familien auf die strukturellen Mängel des Rentenversicherungssystems erweiterte (81). Dieser Aspekt wird 1992 wieder aufgenommen und ausgeführt (BVerfGE 87, 1). In dem entsprechenden Urteil ging es um die Frage, inwieweit Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen seien. Trotz der prinzipiell bestehenden Gestaltungsfreiheit bezüglich der Frage, mit Hilfe welcher Rechtsteilgebiete oder Teilsysteme die aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip abzuleitende Verpflichtung des Staates zur Realisierung eines Familienlastenausgleichs erfolgen soll, sah das Gericht eindeutigen Reformbedarf im System der Rentenversicherung. Das bestehende Alterssicherungssystem führe, so wurde argumentiert, ,,zu einer Benachteiligung von Personen, die sich innerhalb der Familie der Kindererziehung widmen, gegenüber kinderlosen Personen, die durchgängig einer Erwerbstätigkeit nachgehen können" (37). Aufgrund der bestandssichernden Funktion der nachwachsenden Generation führe daher die ,,bisherige Ausgestaltung der Rentenversicherung im Ergebnis zu einer Benachteiligung der Familie, namentlich der Familie mit mehreren Kindern" (37). Konkret sei die derzeitige Ausgestaltung der Rentenversicherung, die auf dem Versicherungsprinzip sowie der Lohnersatzfunktion der Rente beruht und ihre Leistungen in einem Umlageverfahren finanziert, kein zureichender Grund, die Erzieher von Kindern gegenüber Kinderlosen im Ergebnis erheblich zu benachteiligen (37 und 39). Daraus leitet das Gericht die Verpflichtung des Gesetzgebers ab, die Benachteiligung in weiterem Umfang als bisher schrittweise abzubauen (39)
- eine maßvolle Umverteilung zu Lasten kinderloser und kinderarmer Personen in der Rentenversicherung verfassungsgemäß sei
- ebenso wie die Differenzierung der Zahlung von Hinterbliebenenrenten nach Dauer der Ehe und/oder frühere Leistung von Erziehungs- oder Pflegearbeiten durch den überlebenden Ehepartner.
Die Argumentationslinie eines familiengerechten Umbaus im Rentenversicherungssystem wurde 1996 fortgesetzt und konkretisiert, als es zu prüfen galt, wie Kindererziehungszeiten bei Zusammentreffen mit beitragsbelegten Zeiten in der Rentenversicherung zu bewerten seien. Konkret ging es dabei um die Fälle, in denen sich bei gleichzeitiger versicherungspflichtiger Erwerbstätigkeit oder freiwilliger Zahlung von Beiträgen Kindererziehungszeiten nicht oder nur minimal auswirkten (BVerfGE 94, 241). Hier handelte es sich bei den dann bis spätestens zum 30. Juni 1998 nachzubessernden Regelungen um einen klaren Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz von Art. 3 Abs. 1, da sich Kindererziehungszeiten nicht in jedem Fall gleich auswirkten und eine entsprechende Differenzierung zudem nicht zu begründen sei (260 ff.). Bedeutsam für die weitere Entwicklung der auf das Rentenversicherungssystem bezogenen Argumentation war dabei vor allem die Auffassung, dass Kindererziehungsleistungen einen bestandssichernden Wert an sich für die Rentenversicherung darstellen, durch Parallelität mit anderen Leistungen also nicht geschmälert werden (264).
Wieder dem Argumentationsschwerpunkt der horizontalen Steuergerechtigkeit zugewandt, lieferte das Bundesverfassungsgericht 1994 eine Grundlage zur Berechnung der Kosten, die im Rahmen der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit bei Eltern, deren Kinder zum Zweck der Ausbildung auswärtig untergebracht sind, abzugsfähig sind (BVerfGE 89, 346). Hierbei bestätigte es zunächst seine schon zuvor des öfteren vertretene Auffassung, Unterhaltsaufwendungen für Kinder seien grundsätzlich keine Aufwendungen im privaten Bereich und daher (als unvermeidbar) abzugsfähig. Bei der Berechnung der Höhe hat es zwei Berechnungsbeispiele vorgelegt
1998 schließlich entwickelte es dann die Konzeption des FLA entscheidend weiter (2 BvR 1057/ 91; 2 BvR 1226/ 91; 2 BvR 980/ 91 [vorläufige Bezeichnung der Urteile, bevor diese in die Nomenklatur der BVerfG-Entscheidungen aufgenommen werden]). Dabei ging es bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Haushaltsfreibetrages für Alleinerziehende von dem besonderen Gleichheitssatz von Art. 6 Abs. 1 aus, der jede Benachteiligung von Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsformen verbietet. Darauf aufbauend lieferte es eine qualitativ neue Konzeption des steuerlich freizustellenden Familienexistenzminimums, das zukünftig grundsätzlich Kosten für die Betreuung von Kindern einschließen muss, unabhängig davon, ob diese durch einen Elternteil oder durch Fremdbetreuung geschieht. Ebenso muss bei der Neugestaltung des Kinderleistungsausgleichs in Zukunft der Erziehungsbedarf für Kinder beachtet werden. Beides darf nicht nach dem Familienstand differenziert werden. Konzeptionell ist das Bundesverfassungsgericht so in Ableitung aus der umfassenden Elternverantwortlichkeit für die Entwicklung des Kindes im Sinne von Art. 6 GG zu einer strukturellen Dreiteilung des Familienexistenzminimums gekommen, das sich zusammensetzt aus Sachleistungen, Betreuungsleistungen und Erziehungsleistungen (S. 23 der maschinenschr. Fass.).
Bezüglich der Höhe geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass Kindergeld oder Kinderfreibetrag gegenwärtig nur das ,,sächliche Existenzminimum" abdecken (38), der Betreuungsbedarf aber gleichheitswidrig nur für Alleinerziehende anerkannt wird. Der Erziehungsbedarf dagegen wird als durch Kindergeld oder Freibetrag nicht ausreichend anerkannt eingeordnet (40). D. h., dass die bisherigen existenziellen Sachleistungen einen Erziehungsbedarf in Ansätzen enthalten (persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, § 12 Abs. 1 Satz 1, § 22 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes), dem zukünftigen Familienexistenzminimum also nur noch z. T. zugerechnet werden müssen, der Betreuungsbedarf hingegen vollständig. Die genannten Beträge von 4 000'DM Betreuungsbedarf, die für jedes Kind ab dem 1. Januar 2000 und 2 000'DM für jedes weitere anzuerkennen sind, verstehen sich als Richtwerte (44). Der bei bis dahin fehlender Neuordnung des FLA ab 1. Januar 2002 zukünftig hilfsweise für alle Eltern nach Kinderzahl abgestuft abzuziehende Betrag von 5 616'DM (Höhe des bisherigen Haushaltsfreibetrags) als Erziehungsbetrag stellt ebenfalls einen Richtwert für die Höhe dar.
Zusätzlich konkretisierend wird in dem Urteil zum Erziehungsbedarf ausgeführt: ,,Hierzu gehört gegenwärtig z. B. - entgegen § 33c Abs. 1 Satz 5 EStG - die Mitgliedschaft in Vereinen sowie sonstige Formen der Begegnung mit anderen Kindern oder Jugendlichen außerhalb des häuslichen Bereichs, das Erlernen und Erproben moderner Kommunikationstechniken, der Zugang zu Kultur- und Sprachfertigkeiten, die verantwortliche Nutzung der Freizeit und die Gestaltung der Ferien" (41).
Insgesamt lässt sich zur Umsetzung der Reform des FLA aus der Urteilssprechung des Bundesverfassungsgerichtes zusammenfassend Folgendes ableiten:
- Kosten für den existenziell notwendigen Sachbedarf müssen genauso wie diejenigen für den Betreuungs- und Erziehungsbedarf von der Besteuerung freigestellt oder alternativ ausgezahlt werden, unabhängig vom Familienstand und unabhängig von der Höhe des Einkommens. Gestaltungsspielräume im Hinblick auf Kürzungen bzw. umgekehrt auf die sozialpolitische Ausgleichsfunktion ergeben sich erst dann, wenn diese Grundvoraussetzungen für alle Eltern erfüllt sind;
- eine zumutbare Belastung kann nicht abgerechnet werden;
- bei der Berechnung der Höhe der abziehbaren Beträge muss von einer Bedarfsdeckung in allen Fälle ausgegangen werden, dabei ist allerdings nur von zwangsläufigen Kosten im Umfang eines Minimums auszugehen;
- bei der Berechnung dieser ,,minimalen" Beträge dürfen keine realitätsfernen beliebigen Grenzen gesetzt werden;
- Verheiratete dürfen gegenüber Ledigen nicht benachteiligt werden;
- Familienleistungen im Sinne von Betreuungs- und Erziehungsleistungen sind solche, die der eigenständigen (monetären) Anerkennung bedürfen.
III. Zur Entwicklung eines familienpolitischen Gestaltungswillens
Versuchen wir nun im Anschluss an die Schilderung der vorerst letzten und in ihrer prinzipiellen politischen Gestaltungsfähigkeit weitgehendsten Station auf der Reise durch die Verfassungsrechtsprechung zum FLA die wesentlichen Forderungen der Urteile den Ergebnissen der Gestaltung von Familienpolitik durch den politischen Prozess gegenüberzustellen, dann ergibt sich ein erhebliches Gestaltungsdefizit bzw. ergeben sich beachtliche Gestaltungsverzüge durch die Politik. Andererseits kann aber auch davon ausgegangen werden, dass wesentliche Zäsuren bezüglich struktureller Gestaltung und Umfang des FLA durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und nicht vom Gesetzgeber initiiert worden sind.
Dies gilt zunächst für die Systematik der Ehegattenbesteuerung durch Splittingverfahren in der Folge des Urteils von 1957. Zwar kann der Splittingvorteil nicht als familienfördernd eingeordnet werden, sondern lediglich als ehefördernd; er kommt auch kinderlosen Ehen zugute, in denen ein Ehepartner schwerpunktmäßig das Einkommen erzielt. Implizit hat der Gesetzgeber anschließend an das Urteil aber den 1957 noch selbstverständlichen Typ der Hausfrauenehe unterstellt, die in der Regel auch mit Elternschaft verbunden war
Was die Finanzierungsstruktur des FLA betrifft, hat das Bundesverfassungsgericht erstmalig 1960 (BVerfGE 11, 105) systematische Aussagen gemacht. Seit 1955 war vom dritten Kind an ein monatliches Kindergeld gezahlt worden, das aus sogenannten Familienausgleichskassen finanziert wurde, in die die Arbeitgeber in Abhängigkeit von der Lohnsumme ihrer Betriebe einzahlten
Eine wesentliche Zäsur für die Struktur des FLA war sicher die Kindergeldreform von 1975 mit ihrer Auflösung des dualen Strukturierungskonzeptes aus Kindergeld und Kinderfreibetrag. Die Frage nach der Zulässigkeit der Abschaffung von Freibeträgen sowie - vor allem in den achtziger und neunziger Jahren daraus erwachsend - die nach der notwendigen Höhe wiedereingeführter Freibeträge bzw. entsprechender Äquivalente im Kindergeld beschäftigte das Bundesverfassungsgericht mehrfach. 1976 (BVerfGE 43, 108) bestätigte das Gericht zunächst die Verfassungsmäßigkeit des FLA nach der Kindergeldreform. Es arbeitete darüber hinaus aber auch sehr deutlich die beiden unterschiedlichen Funktionen heraus, die der Staat durch steuerliche Maßnahmen und Kindergeldzahlungen erfüllen kann: steuerliche Gerechtigkeit einerseits und soziale Gerechtigkeit im Sinne sozialstaatlicher Umverteilungsaufgaben andererseits.
In Fortsetzung seiner Argumentationslinie zur Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, die es seit Beginn seiner Urteilssprechung in den fünfziger Jahren entwickelt hat, weist es aber auch darauf hin, dass der Gesetzgeber ,,unabweisbare Sonderbelastungen" (im Zusammenhang der Erfüllung von Elternpflichten) als die steuerliche Leistungsfähigkeit mindernd anerkennen muss (120). Diese Argumentation arbeitete es 1984 (BVerfGE 66, 214) mit zunehmender Deutlichkeit noch einmal heraus, als es betonte, dass der Gesetzgeber bei der steuerlichen Berücksichtigung zwangsläufiger Unterhaltsaufwendungen keine realitätsfremden Grenzen ziehen darf (223). Für das Gros der Urteile bis weit in die achtziger Jahre hinein gilt aber, dass das Bundesverfassungsgericht zwar Eckwerte zur Realisierung bestimmter Gleichbehandlungs- und Sozialstaatserfordernisse im Sinne von grundsätzlichen Möglichkeiten sowie zur Struktur des FLA formuliert hat, dem Gesetzgeber aber weitreichenden inhaltlichen und zeitlichen Gestaltungsspielraum eingeräumt hat.
Das Urteil zur steuerlichen Berücksichtigung der Kinderbetreuungskosten für Alleinerziehende (Halbfamilienurteil: BVerfGE 61, 319) aus dem Jahr 1982 stellt unter mehreren Gesichtspunkten ein Indiz für die kommende Tendenzwende in der Selbstsicht des Bundesverfassungsgerichtes dar. Es hat das Leistungsfähigkeitsprinzip für den Steuergesetzgeber verbindlich gemacht (vor allem 354/355)
Nicht nur die grundsätzliche Struktur des Familienlastenausgleichs sowie das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit waren immer wiederkehrende Themenbereiche, mit denen sich das Bundesverfassungsgericht auseinanderzusetzen hatte, sondern auch diejenigen der Höhe familienfördernder Leistungen bzw. der betreffenden steuerlich anzuerkennenden Kosten. Die entsprechenden Urteile gipfelten dann in den Urteilen der ersten Hälfte der neunziger Jahre, von denen vor allem das zur genauen Bestimmung des von der Besteuerung freizustellenden Existenzminimums gehört (BVerfGE 82, 60). In diesem Urteil, ergänzt durch das aus dem Jahr 1993 zum Grundfreibetrag (BVerfGE 87, 153) und schließlich das zum Kinderleistungsausgleich aus dem Jahr 1998 (BvL 42/93), hat es für den Gesetzgeber verbindliche Vorgaben bezüglich der Höhe von der Besteuerung freizustellender existenzminimaler Beträge gemacht und mit Fristsetzungen verbunden, die das Jahressteuergesetz 1996 und die darin vollzogenen Umstrukturierungen des Familienlastenausgleichs notwendig machten (,,Optionsmodell") und schließlich - bezogen auf das Urteil von 1998 - zuvor noch mögliche Unterschreitungen dieser existenzminimalen Beträge zukünftig ausschlossen. Das Urteil zur Abzugsfähigkeit des Betreuungs- und Erziehungsaufwands ist in seiner Konsequenz ,,epochal" politikgestaltend durch die Entwicklung eines in seinem Umfang deutlich erhöhten und dreigeteilten Begriffes vom Familienexistenzminimum (existenzieller Sach-, Betreuungs- und Erziehungsbedarf) und die Angabe verbindlicher Beträge für die Höhe sowie von Terminen für die Umsetzung. Insbesondere dieses Urteil hat daher die Diskussion um die grundsätzlichen Funktionen des Bundesverfassungsgerichtes in Bezug auf den Gesetzgebungsprozess in Gang gesetzt.
Ein Teil der Begründung für die zunehmende Konturierung der Position des Gerichtes im Sinne der Politikgestaltung ist sicher im Verhältnis seiner Rechtsprechung zur Realität der Gesetzgebung bezüglich einer weiteren Argumentationslinie zu sehen, die es mit zunehmender Deutlichkeit ab 1990 formulierte. Gemeint ist die Forderung nach einer grundsätzlichen Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme (insbes. der Rentenversicherung) im Hinblick auf eine leistungsbegründende und angemessene Berücksichtigung von Familienarbeit, nachdem durch entsprechende Urteile der siebziger Jahre das Gleichbehandlungsprinzip für Männer und Frauen in der Rentenversicherung erzwungen worden war (BVerfGE 39, 169; 43, 213). Zwar ist hier ein Bereich angesprochen, der initiierend durch den Gesetzgeber mit der Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung ab 1987 gestaltet wurde. Dies geschah aber nicht in einer hinreichend deutlichen Weise. So hat das Gericht in mehreren Stufen 1990, 1992 und 1996 zunächst familienwirksame Mängel des Alterssicherungssystems
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass die wesentlichen Entwicklungsstufen im FLA - ausgehend vom Gleichbehandlungsgebot von Art. 3 Abs. 1 über das Schutz- und Förderungsgebot von Art. 6 GG, die funktionale Differenzierung nach steuerlicher Gerechtigkeit einerseits und sozialpolitischen Umverteilungsaufgaben andererseits, die stufenweise Herausarbeitung des von der Besteuerung freizustellenden Existenzminimums für Kinder in Umfang und Struktur bis zu den Zielwerten einer familienorientierten Reform der Rentenversicherung - jeweils vom Bundesverfassungsgericht und nicht vom Gesetzgeber in Gang gesetzt worden sind. Die vom Bundesverfassungsgericht entworfenen Stufen des Familienlasten- und in seiner Weiterentwicklung Leistungsausgleichs unter Berücksichtigung von horizontaler und vertikaler Gerechtigkeit sowie des Ausgleichs externer positiver Effekte der Familienarbeit für die Volkswirtschaft und die Sozialversicherungssysteme (Leistungsausgleich) scheinen in ihrer Konkretisierung bis heute nach wie vor sehr entwicklungsbedürftig, insbesondere im Hinblick auf die dritte Stufe im Sinne der Entwicklung eines Gesamtsystems.
Durch Kabinettsbeschluss vom 23. Juni 1999 wurde als Reaktion auf das Urteil zum Betreuungs- und Erziehungsbedarf die Erhöhung des Kindergeldes für das erste und zweite Kind (gültig nur bis zum 16. Lebensjahr des Kindes) um jeweils 20'DM ab 2000 sowie die Aufstockung des Freibetrages um 3 024'DM auf nunmehr 9 936'DM festgelegt. Bei Alleinerziehenden entfällt dafür die steuerliche Berücksichtigung der Kinderbetreuungskosten. Die Berücksichtigung des Erziehungsbedarfs wird erst für das Jahr 2002 geplant. Das ,,Optionsmodell" bleibt allerdings erhalten, d. h., die Entlastungswirkungen von Kindergeld bzw. Steuerfreibetrag addieren sich nicht. Zudem ist der Ausschluss der Familien mit mehr als zwei Kindern schwer nachvollziehbar. Bei einem heute zu unterstellenden sozialkulturellen Existenzminimum von 7 800'DM pro Kind und Jahr und den vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen 4 000'DM Betreuungsbedarf für ein erstes Kind ergibt sich ein von der Besteuerung freizustellender Betrag von 11 800'DM pro Jahr (für ein erstes Kind), dem der erhöhte Freibetrag ab 2000 nicht gerecht wird. Dem alternativ ausgezahlten Kindergeld von 3 240'DM pro Jahr entspricht beim für 2000 geplanten neuen Eingangssteuersatz von 22,9 Prozent ein fiktiver Kinderfreibetrag von 14 148'DM. Bei Unterstellung des neuen Spitzensteuersatzes von 51 Prozent jedoch errechnet sich'ein fiktiver Freibetrag von 6 352,94'DM, der die vom Bundesverfassungsgericht empfohlenen Werte um fast 50 Prozent unterschreitet. Das bedeutet aber, dass das in dem Urteil vom November 1998 argumentationsleitende Motiv der Steuergerechtigkeit von der Politik erneut ignoriert worden ist.
IV. Grenzüberschreitung oder Gefahr im Verzug für zentrale Verfassungsnormen?
Es bleibt die Frage zu beantworten, in welchem Licht die Entwicklung der familienpolitischen Urteilssprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang des Systems bundesdeutscher Verfassungsorgane zu sehen ist. Wo steht das Gericht im Spannungsverhältnis zwischen Mehrheitsdemokratie und Gerechtigkeit? Verfassungstheoretisch ist das Bundesverfassungsgericht außerhalb des politischen Gestaltungsprozesses angesiedelt. ,,Wer dem BVerfG die Kompetenz bestreitet, das letzte Wort zu sprechen, bringt einen Grundpfeiler des Rechtsstaates zum Wanken . . . Opfer dieser Erosion ist letztlich der Souverän, also das ganze Volk"
Beide Verfassungsinstitutionen unterliegen zwar prinzipiell der Verpflichtung, dem Gemeinwohl zu dienen. Die Gestaltungsprinzipien des Handelns und somit die Wurzeln der Legitimation sind jedoch bei Bundesverfassungsgericht und Parlament unterschiedliche. Das Bundesverfassungsgericht ist - sehen wir von dem stark konkordanzdemokratischen Zustandekommen seiner Besetzung und dem Verfahren der Urteilsfindung
Im Parlament gilt dagegen das Mehrheitsprinzip. Diesem Mehrheitsprinzip sind einfachrechtliche Gesetze und die Verfassung in weiten Teilen relativ beliebig ausgesetzt. Die Gestaltbarkeit der Kerngehalte im Sinne der Verfassungsprinzipien und der Grundrechte aber sind der Mehrheitsentscheidung entzogen
Maßstab der Bewertung im Rahmen der verfassungsrichterlichen Entfaltung und Aktualisierung bleibt dabei das Konzept von Gerechtigkeit, besser: bleiben Konzepte von Gerechtigkeit
Beziehen wir die Frage der Kategorien von Gerechtigkeit auf die Familienpolitik, so lassen sich zum Mindesten unterscheiden:
- die Bedarfsgerechtigkeit, verstanden als aus Art. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot erwachsende Versorgung mit Mindestbedarfen;
- die Verteilungsgerechtigkeit, realisiert im Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit (vertikale Steuergerechtigkeit), sowie
- die Leistungsgerechtigkeit, einzuordnen als (geldwerte) Anerkennung von Leistungen, die von partnerschaftlicher oder volkswirtschaftlicher Bedeutung sind.
Alle drei Formen der Gerechtigkeit bzw. deren defizitäre Realisierung boten immer wieder Anknüpfungspunkte für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, wie wir der vorangegangenen Zusammenfassung der Rechtsprechung zum Familienlastenausgleich entnehmen können. Angesichts der Tatsache, dass eine Realisierung durch die Politik - soweit sie überhaupt erfolgt ist - verzögert oder verkürzt geschah bzw. geschieht, können wir also die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts als notwendiges Korrektiv einer nicht immer am Ziel der Gerechtigkeit orientierten Demokratie verstehen. Dies sah schon Augustinus, bezogen auf die Monarchie, ganz ähnlich: ,,Wenn die Gerechtigkeit fehlt, was sind dann Königreiche anderes als große Räuberbanden?"