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Sozialliberale Koalition und innere Reformen | Zeiten des Wandels | bpb.de

Zeiten des Wandels Zu diesem Heft Das Ende der "Ära Adenauer" Große Koalition und Außerparlamentarische Opposition Die DDR in den sechziger Jahren Sozialliberale Koalition und innere Reformen Die DDR in den siebziger Jahren Tendenzwende Anfang der siebziger Jahre Die westeuropäische Integration 1963-1974 Die DDR zwischen Moskau und Bonn Literaturhinweise Impressum

Sozialliberale Koalition und innere Reformen

Peter Borowsky

/ 34 Minuten zu lesen

Am 27. April 1972 scheiterte die Opposition unter der Führung von Rainer Barzel (CDU) mit einem Misstrauensvotum gegen die sozial-liberale Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). (© AP)

Einleitung

In der Großen Koalition hatten CDU/ CSU und SPD gemeinsam eine wirtschaftliche Krise gemeistert und eine politische verhindert - um den Preis freilich, daß große Teile der jungen Generation den etablierten Parteien und dem bestehenden politischen System zumindest zeitweise entfremdet wurden. Die Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze führten aus Sicht dieser jungen Generation zu einer Polarisierung zwischen "Staat" und "Gesellschaft". Die westdeutsche Gesellschaft war Ende der sechziger Jahre politisch mobiler geworden. Immer mehr Menschen engagierten sich in politischen Fragen. Sie forderten die Einlösung demokratischer Grundsätze und wollten selbst aktiv an politischen Entscheidungen mitwirken - auch außerhalb der Parteien.

Nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze war die Gemeinsamkeit der Koalitionspartner bald erschöpft. Strittige Probleme in der Deutschland- und Ostpolitik, wie das Verhältnis zur DDR und die Entspannungspolitik gegenüber dem Warschauer Pakt, in der Innen- und Finanzpolitik, wurden nicht mehr gelöst, sondern - so eine Formel von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger - ausgeklammert. In der SPD nahm die Zahl der Gegner der Großen Koalition zu; immer mehr Mitglieder - auch der Parteiführung - traten für eine Koalition mit der FDP ein.

Wandel in der FDP

Innerhalb der FDP hatten sich mittlerweile Veränderungen vollzogen, die ein Bündnis mit der SPD möglich erscheinen ließen. Als die Partei 1966 in die Rolle einer praktisch ohnmächtigen Opposition geriet, nutzte eine Gruppe diese Situation zu einer Neuorientierung der FDP in Richtung auf einen "demokratischen und sozialen Liberalismus". Diese "Sozialliberalen" konnten sich dabei auf einen Wandel in der Mitglieder- und Wählerstruktur der FDP berufen: Der Anteil der Selbständigen ging zugunsten der Angestellten, insbesondere der leitenden Angestellten, zurück. Diese sozialen Aufsteiger wollte die FDP halten bzw. gewinnen durch ein Programm, das dem Streben nach Chancengleichheit aufgeschlossen gegenüberstand und außenpolitisch keine Tabus mehr hinnehmen wollte.

Ein wichtiger Schritt zu einer Koalition mit der SPD, wie sie auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen bereits seit dem Dezember 1966 bestand, war auf dem Freiburger Parteitag der Liberalen (Ende Januar 1968) die Ablösung des nationalliberalen Parteivorsitzenden Erich Mende, der auf eine neue Kandidatur verzichtet hatte, durch Walter Scheel. Zum neuen Parteivorstand gehörte auch der international anerkannte Soziologe Ralf Dahrendorf. In einer vielbeachteten Rede vor dem Parteitag machte Dahrendorf die "Erstarrung der Verhältnisse" in der Bundesrepublik für die "Unruhe, die sich vielerorts breitmacht", verantwortlich. Er forderte "eine Gesellschaftspolitik der Liberalität", in deren Mittelpunkt nicht Sicherheit, sondern Offenheit stehen müsse. Darunter verstand Dahrendorf eine Politik, die den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gab, ihre durch die Verfassung und die Gesetzgebung garantierten Rechte auch tatsächlich wahrzunehmen. Eine entscheidende Voraussetzung dafür war seiner Meinung nach das "Bürgerrecht auf Bildung". Als außenpolitisches Programm formulierte Walter Scheel Zielvorstellungen, die - wie die Normalisierung des Verhältnisses zur DDR und zu den osteuropäischen Staaten, der Verzicht auf die Hallstein-Doktrin und die Respektierung der Oder-Neiße-Grenze - der SPD näherstanden als der CDU, der CSU und dem nationalliberalen Flügel der eigenen Partei.

Offenkundig wurde die Annäherung von FDP und SPD, als die FDP-Delegierten der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten im März 1969 ihre Stimmen dem sozialdemokratischen Kandidaten Gustav Heinemann gaben und ihm damit im dritten Wahlgang zum Sieg über den CDU/CSU-Kandidaten Gerhard Schröder verhalfen. Wenige Tage nach seiner Wahl erklärte Heinemann in einem Interview: "Es hat sich jetzt ein Stück Machtwechsel vollzogen, und zwar nach den Regeln einer parlamentarischen Demokratie. Man hat oft, und ich glaube mehr aus gutem Grund, gesagt, daß eine solche Demokratie ihre Bewährungsprobe erst dann bestanden habe, wenn eben nach ihren Regeln auch einmal ein Machtwechsel zustandegekommen ist. Das ist hier nicht in breiter Front der Fall, das wird sich erst bei den Bundestagswahlen ergeben, aber immerhin doch in einem beachtlichen Stück."

QuellentextRegierungserklärung

[...]

Unser Volk braucht wie jedes andere seine innere Ordnung. In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Lande nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen.

Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, daß nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, [...] sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken. [...]

Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen; jene jungen Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen - und sollen. Diese jungen Menschen müssen aber verstehen, daß auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben.

Wir werden dem Hohen Hause ein Gesetz unterbreiten, wodurch das aktive Wahlalter von 21 auf 18, das passive von 25 auf 21 Jahre herabgesetzt wird. [...]

Wir werden auch die Volljährigkeitsgrenze überprüfen.

Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein. Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. [...]

Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird. Die Deutschen sind nicht nur durch ihre Sprache und ihre Geschichte - mit ihrem Glanz und Elend - verbunden; wir sind alle in Deutschland zu Hause. Wir haben auch noch gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Verantwortung: für den Frieden unter uns und in Europa. 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen wir ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen. [...]

Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969, in: Irmgard Wilharm, Deutsche Geschichte 1962 - 1983, Band 2, Frankfurt/Main 1985, S. 27 f.

Machtwechsel

Das Ergebnis der Bundestagswahlen vom 28. September 1969 schien Heinemann nicht zu bestätigen: Die SPD gewann zwar Prozentpunkte hinzu, CDU und CSU aber behaupteten sich gut, und die FDP erlitt eine schwere Niederlage: Fast zwei Fünftel der Wählerinnen und Wähler von 1965 waren zu anderen Parteien übergegangen. Mit 5,8 Prozent überwandt die Partei gerade noch die Fünfprozent-Hürde. Offenbar hatte die FDP in dieser Wahl einen großen Teil ihrer alten Anhänger verloren und noch nicht genügend neue gewonnen, um den Verlust wieder gutzumachen. Trotz der Wahlniederlage und großzügiger Koalitionsangebote von CDU und CSU entschloß sich die FDP-Führung zu einer Koalition mit der SPD. Die neue sozialliberale Koalition verfügte über eine knappe Mehrheit von zwölf Bundestagsabgeordneten (254 gegenüber 242 Abgeordneten der CDU/CSU). Darunter waren einige FDP-Mitglieder, die den neuen Kurs der Parteiführung nur sehr widerstrebend mitmachten.

Was skeptische Beobachter und Kritiker des "CDU-Staates" kaum für möglich gehalten hatten, war eingetreten: Nach 20 Jahren Regierungszeit standen CDU und CSU in der Opposition, und der "Machtwechsel" zwischen Regierung und Opposition - vorbereitet und abgemildert durch die Zusammenarbeit in der Großen Koalition - vollzog sich ohne Staatskrise. Er dokumentierte die von der Außerparlamentarischen Opposition bezweifelte Wandlungsfähigkeit des politischen Systems und stellte die für das Funktionieren des Parlaments notwendige Polarisierung zwischen Regierung und starker Opposition wieder her.

Ostpolitik

Neuer Bundeskanzler wurde Willy Brandt, Vizekanzler und Außenminister wurde der FDP-Vorsitzende Walter Scheel. Die größten Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Koalitionspartnern bestanden in der Deutschland- und Ostpolitik. Auf diesem Gebiet entfaltete die neue Regierung daher auch rasch ihre größte Aktivität. Sie knüpfte an die Bemühungen der Großen Koalition um ein entspannteres Verhältnis zu den Staaten Osteuropas an und griff dabei auf Konzepte zurück, die Brandt und sein engster Mitarbeiter Egon Bahr bereits 1963 entwickelt hatten. Beide setzten sich für eine "Politik der kleinen Schritte" gegenüber der DDR ein. Die neue Politik gegenüber der Sowjetunion und den kommunistischen Staaten Osteuropas stand unter dem von Bahr geprägten Motto "Wandel durch Annäherung". Grundlage war die Überzeugung, daß die kommunistische Herrschaft in Osteuropa nicht beseitigt, sondern nur verändert, die deutsche Spaltung in absehbarer Zeit nicht aufgehoben, wohl aber ihre Auswirkungen auf die Deutschen in beiden Staaten erträglicher gemacht werden könnten. Die FDP hatte sich bereits auf ihrem Freiburger Parteitag 1968 für eine Anerkennung der "deutschland- und ostpolitischen Realitäten" ausgesprochen.

In der politischen Praxis bedeutete dieses Konzept, daß Bonn bereit sein mußte, mit der DDR-Regierung zu verhandeln, diese also de facto anzuerkennen, was zuvor stets abgelehnt worden war, und damit auf seinen Anspruch zu verzichten, die einzige legitimierte Vertretung des ganzen deutschen Volkes zu sein. Voraussetzung für die Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion und zu Polen war die Anerkennung der in Europa existierenden Grenzen, insbesondere der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze, aber auch der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR.

Die wichtigsten Ergebnisse der Deutschland- und Ostpolitik der Regierung Brandt/ Scheel waren, daß

  • die Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion die existierenden Grenzen in Europa, insbesondere die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR und die Oder-Neiße-Grenze, als unverletzlich anerkannte und ausdrücklich einen Gewaltverzicht aussprach (Moskauer Vertrag vom 7. August 1970),

  • gegenüber Polen die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens anerkannt wurde (Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970)

  • durch ein Vier-Mächte-Abkommen über Berlin die Präsenz der Westmächte in West-Berlin und die Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik auch von der Sowjetunion anerkannt und der Transitverkehr von und nach West-Berlin vereinfacht und erleichtert wurde (Viermächteabkommen vom 3. September 1971 und Transitabkommen zwischen Bundesrepublik und DDR vom 17. Dezember 1971),

  • die Bundesrepublik die DDR als gleichberechtigten und souveränen Staat anerkannte, ihre völkerrechtliche Anerkennung als Ausland aber vermied (Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 21. Dezember 1972). (Zur Entwicklung der Deutschland- und Ostpolitik und der deutsch-deutschen Beziehungen ab 1969 vgl. die ausführliche Darstellung in "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 233/1991.)

Mißtrauensvotum und Neuwahl

Die neue Ostpolitik wurde nicht nur von der CDU und CSU heftig angegriffen, sie stieß auch bei einzelnen Bundestagsabgeordneten der Koalition auf Widerstand. Diese Abgeordneten wechselten die Fraktion, wodurch die ohnehin knappe Mehrheit der sozialliberalen Koalition mit der Zeit immer schmaler wurde. Im Herbst 1970 traten drei FDP-Abgeordnete - darunter der ehemalige Parteivorsitzende Erich Mende - zur CDU/CSU-Fraktion über. Am 29. Januar 1972 trat der SPD-Abgeordnete und Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Schlesier, Herbert Hupka, aus Protest gegen die Ostpolitik der Bundesregierung zur CDU über. Als am 23. April 1972 ein weiterer FDP-Abgeordneter zur CDU ging und damit das Stimmenverhältnis zwischen Regierungskoalition und Opposition auf 249 zu 247 sank, machte am nächsten Tag die CDU/CSU-Fraktion erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik von der Möglichkeit des konstruktiven Mißtrauensvotums Gebrauch. Bei der Abstimmung am 27. April erhielt der Kanzlerkandidat der Union, Rainer Barzel, jedoch nur 247 Stimmen, das heißt zwei weniger als erforderlich. Das konstruktive Mißtrauensvotum war damit zwar gescheitert, doch blieb die Regierung handlungsunfähig. Das zeigte sich bereits am nächsten Tag, als in der Abstimmung über den Bundeshaushalt 1972 der Etat des Bundeskanzlers mit 247 zu 247 Stimmen abgelehnt wurde. Da die CDU/CSU-Fraktion sich nach heftigen internen Auseinandersetzungen am Vormittag des 17. Mai 1972 für eine Enthaltung bei der Abstimmung über die Ostverträge entschlossen hatte, konnten diese am Nachmittag des 17. Mai immerhin mit 248 gegen 10 Stimmen bei 238 Enthaltungen (Moskauer Vertrag) bzw. 248 gegen 17 Stimmen bei 231 Enthaltungen (Warschauer Vertrag) den Bundestag passieren und ratifiziert werden.

Der einzige Ausweg aus der Patt-Situation waren Neuwahlen, die die Bundesregierung mit Unterstützung des Bundespräsidenten schließlich für den 19. November 1972 ansetzte. Das Wahlergebnis bestätigte die Koalition in einer Eindeutigkeit, die viele Beobachter überraschte: Die SPD gewann gegenüber 1969 mehr als drei Millionen Wählerinnen und Wähler hinzu und wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik mit 45,8 Prozent stärkste Partei vor der CDU und CSU, die 44,9 Prozent der Stimmen erhielten. Aber auch die Unionsparteien profitierten von der Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler, die sich in einer einmalig hohen Wahlbeteiligung von 91,17 Prozent ausdrückte: Sie gewannen 1,6 Millionen Stimmen hinzu. Allerdings gingen die Gewinne hauptsächlich auf das Konto der CSU, während die CDU Verluste hinnehmen mußte. Die CSU-Führung sah sich dadurch in ihrer Konfrontationstaktik gegenüber den Regierungsparteien bestätigt, und die Spannungen innerhalb der Union wuchsen. Die FDP konnte ihre Stimmenzahl von 1,9 Millionen 1969 auf 3,1 Millionen Stimmen (8,4 Prozent) steigern. Es war ihr offensichtlich gelungen, ihre neue Wählerbasis aus leitenden Angestellten, Beamten und Angehörigen der Freien Berufe zu halten und auszuweiten. Mit einer soliden Mehrheit von 271 zu 225 Stimmen im Bundestag konnte sich die sozialliberale Koalition sowohl in ihrer Deutschland- und Ostpolitik als auch in ihrer "Politik der inneren Reformen" bestätigt fühlen.

Innenpolitischer Wandel

Die sozialliberale Koalition trat 1969 als Reformregierung an und versuchte eine energische Demokratisierung von Staat und Gesellschaft durchzusetzen. In seiner Regierungserklärung versprach Willy Brandt am 28. Oktober 1969: "Wir wollen mehr Demokratie wagen" und: "Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an." Das Regierungsprogramm enthielt eine Reihe von Reformvorhaben, die in diesem Sinne interpretiert werden konnten: mehr Chancengleichheit im Bildungswesen, Herabsetzung des Wahl- und Mündigkeitsalters, Gleichstellung der Frau im Ehe- und Familienrecht, Strafrechts- und Strafvollzugsreform, Ausbau der sozialen Sicherheit, Monopolkontrolle und Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung.

Manche dieser Vorhaben knüpften direkt an Reformen der Großen Koalition an - so die Strafrechtsreform. Andere waren - wie Sozialreform, Ausweitung der Mitbestimmung und Bildungsreform - seit Jahren in der öffentlichen Diskussion. Daß sie 1969 zum Gegenstand staatlicher Aktivität wurden, läßt Rückschlüsse auf das Politikverständnis der beiden Koalitionspartner zu. Von ihrer Tradition und ihrem Selbstverständnis her mußte es das Ziel der SPD sein, durch staatliche Reformen ein größeres Maß an persönlicher Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Mitbestimmung in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen zu erreichen. Aber auch die FDP hatte, wie die "Freiburger Thesen" von 1971 programmatisch zum Ausdruck brachten, ihr Verständnis von Freiheit um eine soziale Dimension erweitert. Für den "Sozialen Liberalismus", den die FDP nun auf ihre Fahnen geschrieben hatte, waren "Freiheit und Glück des Menschen [...] nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte, sondern gesellschaftlich erfüllter Freiheiten und Rechte."

Der Begriff "Sozialer Liberalismus" und die Zielsetzung, die freiheitlichen Grundrechte durch "soziale Teilhaberrechte und Mitbestimmungsrechte" zu ergänzen, zeigen, wie sehr sich die FDP in ihren programmatischen Grundsatzpositionen der SPD und auch den Gewerkschaften genähert hatte. Das verhinderte freilich nicht, daß es bei der Umsetzung dieser Grundsatzerklärungen in praktische Reformen bald zu scharfen Ziel- und Interessenkonflikten kam.

Ziel der 1969 eingeleiteten Reformpolitik war die Modernisierung von Staat und Gesellschaft, ohne daß beide revolutionär verändert werden sollten. Insofern bedeuteten die Reformen zum einen die überfällige Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen und gewandelte Moral- und Wertvorstellungen (Beispiele: Ehe- und Familienrecht, Strafrechtsreform) bzw. die Antwort auf Forderungen gesellschaftlich bedeutsamer Gruppen (Beispiel: Mitbestimmung). Zum anderen waren sie aber auch der Versuch, durch staatliches Handeln Veränderungen herbeizuführen, die dem Anspruch auf "mehr Demokratie" und Chancengleichheit gerecht werden konnten (Beispiel: Bildungsreform).

Für die Verwirklichung der Reformvorhaben bestanden 1969 günstige politische und wirtschaftliche Voraussetzungen: Die Mobilisierung der Arbeiter und Studenten, der mittleren Angestellten und Beamten, der Frauen und Jungwähler für die Koalitionsparteien erzeugte ein politisches Klima, das der sozialliberalen Reformpolitik förderlich war. Der wirtschaftliche Aufschwung Ende der sechziger Jahre schien genügend Überschüsse abzuwerfen, um die geplanten Reformen auch finanzieren zu können. Spätestens mit der 1973 einsetzenden Wirtschaftskrise verschlechterten sich jedoch sowohl die finanziellen als auch die politisch-psychologischen Bedingungen entscheidend, und das Ende der "Politik der inneren Reformen" wird markiert durch den Kanzlerwechsel im Mai 1974 (vgl. auch Seite 47 ff.).

Strafrechtsreform

Die Reform des deutschen Strafrechts wurde von Justizminister Gustav Heinemann noch zur Zeit der Großen Koalition eingeleitet. Das erste und das zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni und vom 4. Juli 1969 führten eine neue Fassung des Allgemeinen Teils (enthält im wesentlichen allgemeine, alle Straftaten betreffende Bestimmungen) des Strafgesetzbuchs ein und schafften überholte Straftatbestände im Besonderen Teil ab. Während dem deutschen Strafgesetzbuch von 1871 das Prinzip von Schuld und Sühne zugrundelag, sollte diese Neufassung vor allem der Resozialisierung verpflichtet sein. Das Strafrecht sollte nicht länger dazu dienen, moralisch konformes Verhalten durchzusetzen, sondern dazu beitragen, eindeutig sozialschädliches Verhalten zu verhindern bzw. zu ahnden. Strafrechtliche Grenzen sollten nur dort gezogen werden, wo die Freiheit des einzelnen in Widerspruch zur Freiheit der anderen geriet und wo Leben, Gesundheit, Eigentum und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gegen Übergriffe geschützt werden mußten.

Das erste Strafrechtsreformgesetz hob den Unterschied zwischen Zuchthaus, Gefängnis und Haft auf und führte eine einheitliche Freiheitsstrafe ein. Bei Ahndung einer Straftat sollten die Wirkungen von Haft- und Geldstrafen auf das künftige Leben des Täters, vor allem seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft berücksichtigt werden. Daher sollten kurze Haftstrafen in der Regel durch Geldstrafen ersetzt werden. Die Geldstrafen wurden durch Einführung von Tagessätzen den wirtschaftlichen Verhältnissen der Angeklagten angepaßt.

Der erste Schritt zur Reform des Besonderen Teils des Strafrechtgesetzbuches, in dem die einzelnen Straftatbestände und ihre Rechtsfolgen aufgeführt sind, betraf das Demonstrationsstrafrecht. Wie sich anläßlich der Protestaktionen der Studentenbewegung und der APO gezeigt hatte, wandte die Justiz ein Demonstrationsstrafrecht an, das noch vom Mißtrauen des Obrigkeitsstaates gegen die Versammlung von Bürgerinnen und Bürgern beeinflußt war. Das neue Demonstrationsstrafrecht (vom 20. Mai 1970) schränkte die Strafverfolgung auf gewalttätige Formen des Protests ein und verlagerte die Beweislast auf die Ordnungskräfte, während vorher wegen des weitgefaßten Tatbestandes des Landfriedensbruchs jeder, der als Beteiligter oder auch nur als Zuschauer einer Demonstration verhaftet wurde, seine Unschuld hatte beweisen müssen. Die Neuregelung des Demonstrationsstrafrechts stieß auf heftige Kritik bei der CDU/CSU-Opposition. Im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung und der Auseinandersetzung mit Kernkraftgegnern wurde später immer wieder die Forderung nach einer Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts laut.

Weniger umstritten war die Reform des Sexualstrafrechts. Straftatbestände wie Ehebruch, Kuppelei, Sodomie und Homosexualität unter Erwachsenen wurden abgeschafft. Homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen wurden allerdings nicht nur bis zu der sonst üblichen Schutzgrenze von 14 Jahren, sondern bis zur Volljährigkeit bestraft, die 1970 auf 18 Jahre gesenkt wurde.

Streit um den Paragraphen 218

Die heftigste Auseinandersetzung entwickelte sich um die Reform des § 218. Die seit 1871 gültige Fassung des § 218 StGB stellte jede Unterbrechung einer Schwangerschaft unter Strafe. Sie ließ Ausnahmen nur zu, wenn Gefahr für Leben und Gesundheit der Schwangeren bestand. Die Befürworterinnen und Befürworter einer Reform oder ersatzlosen Streichung des § 218 vertraten den Standpunkt, daß die rigorose Strafandrohung des Strafgesetzbuches gerade das nicht leistete, was sie zu leisten beanspruchte, nämlich den Schutz des ungeborenen Lebens. Zu den schwerwiegenden Auswirkungen des § 218 gehörte ihrer Meinung nach die soziale Ungerechtigkeit, wonach Schwangere, die die nötigen Mittel besaßen, eine fachgerechte illegale Abtreibung etwa im Ausland vornehmen lassen konnten, während unbemittelte Frauen bei nicht fachgerecht ausgeführten illegalen Abtreibungen oft ihr Leben riskierten. Statt zu strafen, sollte daher der Gesetzgeber Möglichkeiten zur medizinischen und sozialen Beratung und Hilfe schaffen und den Schwangerschaftsabbruch straffrei lassen.

Demgegenüber sah die andere Seite in einer Abschaffung oder Reform des § 218 einen Verzicht auf den Schutz des werdenden Lebens. Sie befürchteten, daß eventuell eingerichtete Beratungsstellen weniger Mutterschafts- als Abtreibungsberatung vornehmen würden und daß die staatlich gebilligte Erleichterung der Abtreibung letztlich die moralischen Grundlagen von Familie und Gesellschaft aushöhlen müßte.

Während diejenigen, die eine Reform des § 218 befürworteten, für die sogenannte Fristenlösung, das heißt den straffreien Abbruch der Schwangerschaft in den ersten drei Monaten, eintraten, wollte die Gegenseite den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich weiter unter Strafe stellen und ihn nur in Fällen schwerer gesundheitlicher Gefährdung oder außergewöhnlicher seelischer Belastung (medizinische und ethische Indikation) straffrei lassen.

Am 26. April 1974 nahm der Bundestag eine Regierungsvorlage zur Reform des § 218 an, die die Fristenlösung nach vorhergehender ärztlicher Beratung einführte. Diese Regelung wurde jedoch vom Bundesrat, in dem die von CDU und CSU regierten Länder die Mehrheit hatten, zweimal abgelehnt. Nachdem der Bundestag am 5. Juni 1974 in namentlicher Abstimmung noch einmal die Fristenlösung beschlossen hatte, riefen die CDU/CSU-Fraktion und das Land Baden-Württemberg das Bundesverfassungsgericht an. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975 stellte fest, daß die Fristenregelung der Verpflichtung aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes, das werdende Leben auch gegenüber der Mutter wirksam zu schützen, "nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden ist".

Der Sonderausschuß für Strafrechtsreform des Bundestages arbeitete daher einen neuen Entwurf zur Reform des § 218 aus, der wieder das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die Strafandrohung enthielt, von einer Bestrafung der Schwangeren aber dann absah, wenn sie in "besonderer Bedrängnis" handelte. Die erweiterte ethische und medizinische Indikation wurde durch eine soziale Indikation ergänzt und in dieser Form am 12. Februar 1976 mit den Stimmen der SPD und der FDP im Bundestag angenommen. Die Mehrheit von CDU und CSU im Bundesrat aber lehnte auch diesen Entwurf ab. In einer nochmaligen, namentlichen Abstimmung im Bundestag wurde die "weitgefaßte Indikationslösung" am 6. Mai 1976 schließlich verabschiedet.

Auch danach blieb freilich das Problem der sozialen Ungerechtigkeit und der regionalen Unterschiede in der Anwendung des Gesetzes bestehen: Frauen, die das nötige Geld hatten, konnten sich der komplizierten Prozedur bis zum Schwangerschaftsabbruch in der Bundesrepublik entziehen und ihn in Ländern, die die Fristenlösung praktizierten, vornehmen lassen. In vorwiegend katholisch geprägten Regionen der Bundesrepublik oder in Gegenden, die nur über kirchliche Krankenhäuser verfügten, war es nur schwer möglich, einen Schwangerschaftsabbruch nach der neuen gesetzlichen Regelung vornehmen zu lassen, da sich kaum ein Arzt oder Krankenhaus zur Feststellung der Indikation und zum Eingriff bereit fanden, denn vor allem die katholische Kirche bezog immer wieder eindeutig Stellung gegen die Neuregelung.

Der komplizierte Entscheidungsprozeß zur Reform des § 218 ist aus verschiedenen Gründen aufschlußreich: Einmal läßt sich an diesem Beispiel die Politik von CDU und CSU verfolgen, ihre Mehrheit im Bundesrat gegen die FDP/SPD-Mehrheit im Bundestag zur Geltung zu bringen. Zum anderen zeigte sich einmal mehr die bis heute anhaltende Tendenz, das Bundesverfassungsgericht zum obersten Gesetzgeber zu machen.

Vor allem aber - und darin liegt die gesellschaftliche Dimension dieser Auseinandersetzung - formierte sich in der öffentlichen Auseinandersetzung um das Problem der Abtreibung und die Reform des § 218 eine neue, autonome Frauenbewegung, die mit provozierenden Parolen wie "Mein Bauch gehört mir" und mit dem öffentlichen Eingeständnis "Ich habe abgetrieben" den vorwiegend männlichen Politikern und ihren Parteien das Recht absprach, eine so persönliche Frage wie die Schwangerschaft über die Köpfe der Frauen hinweg zu regeln. (Zur neuen Frauenbewegung vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 254 zum Thema "Frauen in Deutschland".)

Ehe- und Familienrecht

Nirgendwo spiegelte sich der Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse und Einstellungen so deutlich wider wie im Bereich des Ehe- und Familienrechts. In den Reformdiskussionen und -bemühungen, die Ende der sechziger Jahre einsetzten, ging es darum, die im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung von Mann und Frau endlich auch in diesem "privaten" Bereich zu verwirklichen. Im übrigen sollten die gewachsene Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit von Jugendlichen und Heranwachsenden rechtlich ihren Niederschlag finden durch eine Neuregelung ihres Verhältnisses zu den Eltern und ihrer Stellung in der Gesellschaft; an die Stelle der "elterlichen Gewalt" trat die "elterliche Sorge".

Am 18. Juni 1970 setzte der Bundestag einstimmig das Alter für das aktive Wahlrecht von 21 auf 18, für das passive Wahlrecht von 25 auf 21 Jahre herab. Am 22. März 1973 wurden auch Volljährigkeit und Ehemündigkeit von 21 auf 18 Jahre heruntergesetzt. Die neue Regelung trat am 1. Januar 1975 in Kraft.

Am 7. November 1973 wurde der Entwurf eines "Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge" vom Kabinett verabschiedet. Er sah mehr Mitwirkungsrechte und einen verstärkten Schutz des Kindes vor, indem er unter anderem bestimmte, daß "die Eltern auf den Willen und die Belange des einsichtsfähigen Kindes Rücksicht zu nehmen und Maßnahmen im Bereich der elterlichen Sorge mit ihm zu erörtern haben - mit dem Ziel, gegenseitiges Einverständnis herbeizuführen". Bei Scheidungen sollte der Wunsch des Kindes, bei welchem Elternteil es bleiben wollte, stärker als bisher berücksichtigt werden. Zum Schutz des Kindes sollte das Vormundschaftsgericht nicht nur bei schuldhaftem Versagen der Eltern, sondern bereits bei einer "objektiven Gefährdung des Kindeswohls" (etwa durch schlechte Wohnverhältnisse) von Amts wegen eingreifen. Der Entwurf wurde jedoch in der 1976 ablaufenden Legislaturperiode nicht mehr vom Bundestag beschlossen. Eine Neuregelung des Elternrechts, die in ihren Grundzügen dem Entwurf von 1973 entsprach, fand erst 1979 statt.

Grundlage für die Reform des Ehe- und Scheidungsrechts waren die im Mai 1970 vorgelegten Empfehlungen einer Sachverständigenkommission, die bereits im November 1967 gebildet worden war. Ein erster Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde wegen der vorzeitigen Auflösung des Bundestages 1972 nicht mehr im Bundestag beraten.

Am 28. März 1973 nahm das Bundeskabinett einen verbesserten Entwurf zum Ehe- und Familienrecht an, über den der Bundestag am 8. Juni 1973 in erster Lesung beriet. Justizminister Gerhard Jahn erklärte bei dieser Gelegenheit: "Trotz zahlreicher Änderungen im Laufe der Zeit ist bis zum heutigen Tage ein einseitiger Vorrang des Mannes aufrechterhalten geblieben [...]. Ziel des Entwurfes ist ein Eherecht, das dem partnerschaftlichen Eheverständnis entspricht, ein faires und ehrliches Scheidungsrecht und ein gerechtes Scheidungsfolgenrecht."

Partnerschaft

Ausgangspunkt der Reformkonzeption war der Grundsatz, daß die Funktions- und Aufgabenteilung in der Ehe den Eheleuten überlassen bleiben sollte, wobei die Haushaltsführung dem Beitrag zum Familienunterhalt gleichgestellt wurde. Auf dem Gebiet der Ehescheidung ging der Entwurf vom Schuldprinzip ab und nahm das Scheitern der Ehe als einzigen Scheidungsgrund an, ging also zum Zerrüttungsprinzip über. Daraus ergaben sich auch Neuerungen hinsichtlich der Unterhaltsfrage. Hatte bisher der "schuldige" Ehepartner die Unterhaltspflicht für den anderen Partner und die gemeinsamen Kinder tragen müssen, so sollte nunmehr der wirtschaftlich stärkere Partner den wirtschaftlich schwächeren unterstützen. Außerdem sah der Entwurf einen Versorgungsausgleich vor: Geschiedene Ehegatten sollten danach gleichmäßig an den von ihnen während der Ehe erworbenen Anrechten auf Versorgung beteiligt werden. Begünstigt werden sollten durch diese Regel vor allem Ehefrauen, die keine eigene Alters- oder Invaliditätsversicherung besaßen. Schließlich sah der Entwurf die Einrichtung von Familiengerichten vor, die Scheidung und Scheidungsfolgen zusammen verhandeln sollten.

Die parlamentarische Beratung dieses Entwurfs zog sich bis 1976 hin. Am 14. Juni 1976 wurde das erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts verkündet. In seinem ersten Teil enthielt es das neue Eherecht, im zweiten die Reform des Scheidungsrechts und im dritten Teil die Neuordnung des Scheidungsverfahrens mit der Einführung der Familiengerichte.

Ein wichtiges Element des neuen Eherechts war das Namensrecht. Es brach mit der jahrhundertealten Tradition, wonach der Name des Mannes automatisch der gemeinsame Familienname wurde, und bestimmte, daß Verlobte bei der Eheschließung entweder den Namen des Mannes oder den der Frau zum gemeinsamen Familiennamen und damit auch zum Nachnamen ihrer künftigen Kinder wählen konnten. Der Ehepartner, dessen Name nicht gemeinsamer Familienname wurde, konnte seinen Geburtsnamen dem Ehenamen voranstellen.

Im Eherecht fiel die alte Regelung fort, wonach die Frau in erster Linie zur Haushaltsführung, der Mann zum finanziellen Unterhalt der Familie verpflichtet war und die Ehefrau nur dann berufstätig sein durfte, wenn sie ihre familiären Verpflichtungen nicht vernachlässigte bzw. dann be- rufstätig sein mußte, wenn die Einkünfte des Mannes für den Familienunterhalt nicht ausreichten. Statt dessen sollten nach dem neuen Eherecht die Eheleute die Haushaltsführung in gegenseitigem Einverständnis regeln. Beide waren nunmehr berechtigt, berufstätig zu sein, beide mußten auf die Familie Rücksicht nehmen.

Das neue Scheidungsrecht entsprach weitgehend dem Entwurf von 1973. Im einzelnen setzte das Gesetz bestimmte Trennungsfristen, nach deren Ablauf die Scheidung nur unter bestimmten Bedingungen (Trennung unter einem Jahr), nur bei Zustimmung beider Partner (Trennung von mehr als einem Jahr) oder auch gegen den Willen eines Partners (nach mehr als drei- bzw. vierjähriger Trennung) möglich sein sollte. Auch hinsichtlich der Unterhaltspflicht und des Versorgungsausgleichs folgte das neue Scheidungsrecht dem Regierungsentwurf: Unterhalt sollte der wirtschaftlich stärkere Partner zahlen; die Anwartschaftsrechte auf eine Altersversorgung, also Pensions-, Renten- und Lebensversicherungsansprüche, wurden je nach Dauer der Ehe geteilt.

Die Einführung der Familiengerichte durch das neue Ehe- und Scheidungsrecht hob die bisherige Zersplitterung des Scheidungsverfahrens auf Landgericht (Scheidung), Amtsgericht (Unterhalt) und Vormundschaftsgericht (Sorgerecht für die Kinder) zugunsten einer gemeinsamen Zuständigkeit der neuen Familiengerichte auf.

Soziale Sicherung

Das deutsche System der Sozialversicherung mit den drei Stützpfeilern Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung ist seit seinen Anfängen unter Otto von Bismarck und seit Einführung der Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik in den Grundzügen das gleiche geblieben. Die wichtigste Nachkriegsänderung, die Rentenreform von 1957, betraf die Leistungen der Sozialversicherung. Durch die damals eingeführte Dynamisierung wurden die Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung angepaßt. Auch die Sozialpolitik der sozialliberalen Koalition zielte nicht auf eine Strukturreform der Sozialversicherung ab, sondern auf einen Ausbau der Leistungen und auf eine Ausweitung des Kreises der Leistungsempfänger.

Im Juli 1969 wurde noch von der Regierung der Großen Koalition der jahrelange Streit um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall grundsätzlich geregelt: Die Arbeitgeber zahlten den Lohn in den ersten sechs Wochen der Krankheit weiter, danach übernahmen die Krankenkassen das Krankengeld in Höhe von 75 Prozent des Grundlohns. Mit dem Lohnfortzahlungsgesetz, das ab 1. Januar 1970 galt, wurde einmal die Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten im Falle von Arbeitsunfähigkeit erreicht, zum anderen verschaffte es den Krankenkassen eine fühlbare finanzielle Entlastung.

Eine erhebliche Ausweitung des Leistungsangebots der Sozialversicherung brachte das Rentenreformgesetz, das der Bundestag am 21. September 1972 einstimmig annahm. Die seit 1916 geltende starre Altersgrenze von 65 Jahren wurde durch eine flexible Altersgrenze ersetzt. Die Arbeitnehmer konnten ab 63 - Frauen ab 60 - selbst entscheiden, wann sie in den Ruhestand gehen wollten. Zudem wurde die Situation der Kleinrentnerinnen und Kleinrentner verbessert durch die Einführung einer Rente nach Mindesteinkommen. Diese Regelung kam vor allem Frauen zugute, die durch die Entwicklung der Löhne in den "typischen" Frauenberufen bzw. in den "Leichtlohngruppen" beispielsweise der Textilindustrie benachteiligt waren. Die jährliche Anpassung der Renten wurde um ein halbes Jahr vorgezogen. Der Kreis der Rentenberechtigten wurde ausgeweitet auf Selbständige und Hausfrauen.

War die Sozialversicherung bisher nach dem Versicherungsprinzip betrachtet worden, wonach die Leistungen in einem bestimmten Verhältnis zu den Beiträgen standen, so ließen die Reformmaßnahmen - vor allem die Einführung der Mindestrente und der Hausfrauenrente - die Tendenz erkennen, den Versorgungscharakter der Rentenversicherung zu betonen. Danach sollten alle Bürgerinnen und Bürger relativ unabhängig von den geleisteten Beiträgen im Alter und im Falle der Arbeitsunfähigkeit ihr Auskommen haben.

Die Leistungsverbesserungen und die Ausweitung des Personenkreises waren Anfang der siebziger Jahre möglich, weil nach Überwindung der Rezession von 1966/67 die Finanzen der Sozialversicherung konsolidiert waren und für die nächsten 15 Jahre mit Überschüssen gerechnet wurde. Doch die Krise von 1974/75 beendete den Ausbau der Leistungen. Statt dessen begann eine Diskussion über das "Loch" in der Rentenfinanzierung und die Alternative zwischen Leistungsabbau und Beitragserhöhung.

Mitbestimmung

Eines der wichtigsten und umstrittensten Projekte im Reformprogramm der sozialliberalen Regierung war die Neuregelung der Mitbestimmung in den Betrieben (Betriebsverfassung) und die Ausweitung der bestehenden Regelungen über die Mitbestimmung auf Unternehmensebene. Grundlage für die Beziehungen zwischen Kapitalgesellschaften und Arbeitnehmerschaft in der Bundesrepublik waren bis dahin das Mitbestimmungsgesetz in der Montanindustrie von 1951 und das Betriebsverfassungsgesetz von 1952.

Das Betriebsverfassungsgesetz regelte die Mitbestimmung des Betriebsrats als Vertretung der Arbeiter und Angestellten in sozialen und personellen Angelegenheiten wie Arbeitszeit, Urlaubspläne, Berufsausbildung, Verwaltung von betrieblichen Sozialeinrichtungen, Einstellungen, Umgruppierungen, Versetzungen und Entlassungen. Die Gewerkschaften hatten das Betriebsverfassungsgesetz immer wieder als unzureichend eingestuft. Sie forderten daher seit 1967 eine entscheidende Ausweitung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats, eine Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen seiner Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und den Ausbau der Aufgaben und Rechte der Jugendvertretungen.

In seiner Regierungserklärung betonte Willy Brandt 1969 ausdrücklich, wie notwendig eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes sei. Ein Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums vom Herbst 1970 kam den Wünschen der Gewerkschaften noch weit entgegen, doch die SPD mußte auf ihre Koalitionspartnerin und die von der FDP vertretenen Interessen des "neuen Mittelstands" der leitenden Angestellten Rücksicht nehmen. Der Einfluß der FDP zeigte sich im Regierungsentwurf zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes vom 21. Januar 1971: Gegen die Einflußmöglichkeiten der Gewerkschaften im Betrieb waren die Sonderrechte einzelner Arbeitnehmergruppen gestärkt und die noch im Referentenentwurf vorgesehenen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats zu Mitwirkungs- und Kontrollrechten reduziert worden. Auch die Opposition lehnte eine gesetzliche Stärkung des gewerkschaftlichen Einflusses in den Betrieben ab. Vor allem wollte sie die Gruppenrechte durch die Schaffung eines Sprecherrats für die leitenden Angestellten ausweiten.

Ergebnis der parlamentarischen Ausschußarbeit war ein Kompromiß, der als novelliertes Betriebsverfassungsgesetz am 19. Januar 1972 in Kraft trat. Das neue Betriebsverfassungsgesetz bestimmte die betriebliche Realität bis 1988. Es war viel stärker als das Gesetz von 1952 auf die betriebliche Ebene bezogen und erkannte erstmals die Präsenz der Gewerkschaften in den Betrieben an.

Es erweiterte die Handlungsmöglichkeiten der Betriebsräte und verbesserte ihre Arbeitsgrundlagen ebenso wie die der Jugendvertretungen. Das galt vor allem in sozialen und personellen Angelegenheiten. So konnte der Betriebsrat auf die Gestaltung des Arbeitsablaufs und der Arbeitsorganisation Einfluß nehmen.

Was die Unternehmensführung und wirtschaftliche Angelegenheiten anging, waren die Mitwirkungsmöglichkeiten allerdings beschränkt. Immerhin konnte der Betriebsrat bei Betriebsverkleinerungen, -zusammenlegungen oder -schließungen einen Sozialplan erzwingen. Nicht im Sinne der Gewerkschaften waren die Regelungen des neuen Betriebsverfassungsgesetzes, die die Gruppenschranken zwischen Arbeitern, Angestellten und leitenden Angestellten ausdrücklich festschrieben.

Die FDP hatte diese Regelungen unter dem Stichwort "Minderheitenschutz" durchgesetzt. Nach Meinung der Gewerkschaften erschwerten sie eine geschlossene Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Trotz der Abstriche gegenüber dem Gewerkschaftskonzept begrüßte der DGB die neue Betriebsverfassung insgesamt "als einen großen Schritt nach vorn, dem aber weitere Mitbestimmungsregelungen auf anderer Ebene folgten müßten".

Diskussion um Montanmodell

Doch die Regelung der Mitbestimmung auf Unternehmensebene außerhalb des Montanbereichs gestaltete sich komplizierter als die Neuregelung der Betriebsverfassung, da hier die Auffassungen der Koalitionspartner so entgegengesetzt waren, daß das Mitbestimmungsproblem zum Prüfstein der sozialliberalen Koalition zu werden drohte. Nach den Regelungen des Mitbestimmungsgesetzes in der Montanindustrie von 1951 waren Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten der Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie paritätisch vertreten, in der Regel durch je vier Vertreter. Hinzu kam eine weitere Person, die weder der einen, noch der anderen Seite angehören sollte. Von den vier Arbeitnehmervertretern stellten die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften zwei Mitglieder. Im Vorstand waren die Arbeitnehmer durch ein gleichberechtigtes Mitglied, den Arbeitsdirektor, vertreten und so an den Unternehmensentscheidungen beteiligt.

Diese "qualifizierte Mitbestimmung" galt jedoch nur für den Montanbereich. Die Mitbestimmung in den übrigen Industriebereichen regelte das Betriebsverfassungsgesetz von 1952. Darin war lediglich eine drittelparitätische Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat und gar keine Vertretung im Vorstand vorgesehen (einfache Mitbestimmung). Seit Anfang der sechziger Jahre strebten die Gewerkschaften eine Ausdehnung der qualifizierten Mitbestimmung auf alle Kapitalgesellschaften bzw. alle Unternehmen mit einer bestimmten Größe (über 2000 Beschäftigte, mehr als 150 Millionen DM Umsatzerlös, mehr als 75 Millionen DM Bilanzsumme) an. Die Mitbestimmungsdiskussion, in die sich neben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden auch Vertreter der katholischen und der evangelischen Soziallehren und die Parteien einschalteten, gewann 1969 durch die Septemberstreiks an Aktualität.

Bereits am 8. November 1967 hatte die Regierung der Großen Koalition eine Sachverständigenkommission unter Leitung von Professor Kurt Biedenkopf eingesetzt, die 1970 - also schon zur Zeit der sozialliberalen Koalition - ihren Bericht über die bisherigen Erfahrungen mit der Mitbestimmung vorlegte. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, daß sich die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie bewährt habe, lehnte eine Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung auf andere Großunternehmen jedoch ab. Statt dessen schlug sie eine Erweiterung der Mitbestimmung vor, die über die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes hinausging: Die Zahl der Arbeitnehmervertreter sollte vermehrt werden, die Mehrheit aber bei den Anteilseignern bleiben. Den Arbeitgebern, dem Wirtschaftsflügel der CDU, aber auch der FDP gingen diese Empfehlungen zu weit, den Gewerkschaften, der SPD und den Sozialausschüssen der CDU gingen sie nicht weit genug.

Gegen die auf der Parität von Kapital und Arbeit beruhenden Vorschläge von SPD und Gewerkschaften führte die FDP als dritten Faktor die "Disposition" - vertreten durch die leitenden Angestellten - in die Mitbestimmungsdebatte ein. Nach den Vorstellungen der Freien Demokraten sollten die leitenden Angestellten die jeweils einseitige Interessenorientierung von Kapital und Arbeit ausbalancieren. Auf dem Freiburger Parteitag der Liberalen wurde 1971 mit knapper Mehrheit ein Modell angenommen, wonach im Aufsichtsrat Anteilseigner, leitende Angestellte und Arbeitnehmer im Verhältnis 6:2:4 vertreten sein sollten. Auch die CDU legte ein Mitbestimmungsmodell vor, nach dem Anteilseigner und Arbeitnehmer mit je sieben und fünf Stimmen im Aufsichtsrat vertreten sein sollten.

Kompromiß aller Bundestagsparteien

Nach langen Ausgleichsbemühungen einigten sich die beiden Koalitionspartner am 20. Februar 1974 auf einen Regierungsentwurf über die Mitbestimmung auf Unternehmensebene, der wiederum zu heftigen Auseinandersetzungen im Parlament und in der Öffentlichkeit führte. Die Haupteinwände der Opposition beruhten auf der Furcht vor einem Übergewicht, das die Gewerkschaften durch die geplante Neuordnung der "Machtverhältnisse" in der Wirtschaft erlangen könnten, auf der Sorge um eine lähmende Wirkung der Parität auf Unternehmensentscheidungen und schließlich auf Rücksichten gegenüber den leitenden Angestellten. Auch verfassungsrechtliche Bedenken wegen der Beeinträchtigung der Eigentumsgarantie nach Artikel 14 des Grundgesetzes und der Tarifautonomie nach Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz wurden vorgebracht. Die Gewerkschaften wiederum sahen keine ihrer zentralen Forderungen erfüllt.

In weiteren Verhandlungen zwischen den Koalitionspartnern und der Opposition wurde der Regierungsentwurf zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der Gruppeninteressen abgeändert. Auf dieser Basis verabschiedete schließlich am 18. März 1976 der Bundestag mit überwältigender Mehrheit (es gab nur 22 Gegenstimmen) das Mitbestimmungsgesetz, dessen Kompromißcharakter darin sichtbar wird, daß manche Punkte den Vorstellungen der FDP und der CDU/CSU näher kamen als den Ausgangsvorschlägen der Gewerkschaften und der SPD. Die neue Mitbestimmungsregelung galt für etwa 650 Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit, die in der Regel mehr als 2000 Beschäftigte hatten. Ausgenommen wurden auf Druck der FDP sogenannte Tendenzbetriebe (zum Beispiel Presseverlage), ausgenommen wurde auf Drängen der SPD auch der Montanbereich, für den nach wie vor das - für die gewerkschaftliche Interessenvertretung vorteilhaftere - Gesetz von 1951 galt.

Je nach Unternehmensgröße schrieb das neue Gesetz für den Aufsichtsrat ein Verhältnis von 6 : 6; 8 : 8 oder 10 : 10 zwischen Belegschaftsvertretern und Anteilseignern vor. Die zahlenmäßige Parität täuschte allerdings über die Kräfteverteilung hinweg, denn die zur Arbeitgeberseite tendierenden leitenden Angestellten, denen mindestens ein Sitz reserviert war, wurden auf der Arbeitnehmerseite mitgezählt. Außerdem stattete das Gesetz den mit dem Vertrauen der Anteilseigner versehenen Aufsichtsratsvorsitzenden bei Patt-Situationen mit einer zweiten Stimme aus. Der gewerkschaftliche Einfluß auf die Aufsichtsratsbesetzung war durch die Regelung begrenzt, daß die Gewerkschaften keine Vertreter delegieren, sondern nur zur Wahl vorschlagen konnten, und zwar zwei "Externe" in Betrieben mit weniger als 20000 Beschäftigten und drei in größeren Unternehmen. Das Gesetz schrieb zwar einen Arbeitsdirektor als gleichberechtigtes Mitglied des Vorstandes bzw. der Geschäftsführung vor. Im Gegensatz zu den Regelungen des Montan-Mitbestimmungsgesetzes konnte der Arbeitsdirektor aber gegen die Mehrheit der Arbeitnehmervertreter bestellt werden. Für Betriebe mit weniger als 2000 Beschäftigten galt weiterhin das Betriebsverfassungsgesetz.

Auch wenn das Gesetz für die Gewerkschaften eine Verbesserung der bis dahin geltenden Ein-Drittel-Vertretung in den Aufsichtsräten brachte und günstigere Voraussetzungen für die Einflußnahme der Arbeitnehmer auf der Unternehmensebene schuf, so blieben doch zentrale Forderungen der Gewerkschaften unberücksichtigt. Anders als das neue Betriebsverfassungsgesetz stieß das neue Mitbestimmungsgesetz daher bei den Gewerkschaften auf Ablehnung. Auf der anderen Seite fühlten sich die Unternehmer in ihrem Recht auf Eigentum verletzt und erhoben Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Das Urteil erging allerdings erst am 1. März 1979 und kam zu dem Ergebnis, daß der Gesetzgeber nicht gegen das Grundgesetz verstoßen habe. Eine Möglichkeit, die Mitbestimmungsregelung zu unterlaufen, besteht immer noch darin, große Unternehmen in kleinere selbständige Einheiten aufzuteilen, so daß die im Gesetz vorgesehene Zahl der Beschäftigten nicht erreicht wird.

Bildungsdiskussionen und -reformen

Mitte der sechziger Jahre setzte in der Bundesrepublik eine Diskussion über den Zustand und die weitere Entwicklung des Bildungswesens ein, die Bildungspolitik als einen zentralen Bereich staatlichen Handelns im öffentlichen Interesse verankerte. Das Stichwort für diese Diskussion gab 1964 der Pädagoge und Religionsphilosoph Georg Picht, als er von der "deutschen Bildungskatastrophe" sprach. Picht und andere Kritiker des deutschen "Bildungsnotstands" suchten nachzuweisen, daß die Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Industriestaaten einen großen Nachholbedarf habe: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Mittlerer Reife oder Abitur und der Studierenden an den einzelnen Jahrgängen sei zu gering, die Schulzeit zu kurz, die Ausstattung der Schulgebäude und Schulräume dürftig, die Durchschnittsgröße der Schulklassen und die Anzahl der Schülerinnen und Schüler pro Lehrkraft zu hoch. Die Kritiker sagten einen Mangel an qualifiziertem Nachwuchs voraus und forderten eine Ausweitung und Reform des Bildungswesens. Andernfalls würde die deutsche Wirtschaft den Anschluß an die internationale Entwicklung verlieren; die Bildungskatastrophe würde in eine Wirtschaftskatastrophe einmünden.

Ein anderes Motiv für durchgreifende Reformen des Bildungswesens brachte Ralf Dahrendorf 1965 auf den Begriff, als er Bildung als "allgemeines Bürgerrecht" definierte und seine Verwirklichung forderte. Angesprochen war damals vor allem der geringe Anteil von Arbeiterkindern unter den Schülerinnen und Schülern der weiterführenden Schulen und unter den Studierenden, aber auch das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land, zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Nord- und Süddeutschland. Gefordert wurde Chancengleichheit im Bildungswesen: Ungeachtet ihrer sozialen Herkunft sollten alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Chancen zu einer qualifizierten Ausbildung und Bildung haben. Dahinter stand die Überzeugung, daß in modernen Gesellschaften der Status des einzelnen immer stärker von der Ausbildung bestimmt wird und daß Bildung und Ausbildung Lebenschancen erschließen, aber auch abschneiden können. Einer Bildungspolitik in diesem Sinne ging es nicht mehr nur um die bloße Effektivierung des bestehenden Bildungssystems, sondern auch um Gesellschaftsreform. Daraus erklärt sich auch die Heftigkeit der Auseinandersetzungen um einzelne bildungspolitische Maßnahmen in den sechziger und siebziger Jahren.

Auf staatlicher Ebene wurden die verschiedenen Reformvorstellungen und -strategien im Deutschen Bildungsrat gebündelt, den Bund und Länder am 15. Juli 1965 gründeten. Er legte 1970 einen "Strukturplan für das deutsche Bildungswesen" vor, der vom Kindergarten bis zum Hochschulbereich und zur Erwachsenenbildung alle Bereiche des Bildungswesens zu erfassen suchte.

Dieser Plan sah eine Stufengliederung des Bildungswesens von der neu einzuführenden Vorschulerziehung über einen qualifizierten mittleren Abschluß bis zum Abitur vor. Er wollte das Curriculum der gym-nasialen Oberstufe reformieren, den Hochschulzugang über Berufsfachschulen und andere nichtgymnasiale Ausbildungsgänge erweitern und die Lehrerausbildung im Sinne dieser Stufengliederung vereinheitlichen. Der Bildungsrat forderte nicht die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, betonte aber die Einheit von praktischer und theoretischer Bildung und versuchte, durch inhaltliche Annäherung der Bildungsgänge eine größere Durchlässigkeit des Schulsystems zu erreichen und die Übergänge zwischen den Schultypen zu erleichtern. Vor allem die Einführung der Vorschulerziehung und der "Orientierungsstufe" im fünften und sechsten Schuljahr sollten dazu dienen, die schichtenspezifische Frühauslese durch eine intensive Förderung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher zu ersetzen.

Streit um die Gesamtschule

Der Bildungsrat empfahl auch, "mindestens 40 integrierte Gesamtschulen" in der Bundesrepublik einzurichten, um diese Schulform zu erproben. Die Gesamtschule, in verschiedenen europäischen Ländern und in den USA seit langem die Regelschule, schien am besten geeignet, soziale Schranken abzubauen und allen Schülerinnen und Schülern die gleichen Bildungschancen einzuräumen. Sowohl die Kultusministerkonferenz als auch die 1970 geschaffene Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung sprachen sich für die Gesamtschulversuche aus. Der von der Bund-Länder-Kommission 1973 vorgelegte Bildungsgesamtplan wurde sowohl von der Bundesregierung als auch von den Länderregierungen verabschiedet. Auf dieser Grundlage schien eine Strukturreform des deutschen Bildungswesens möglich - unabhängig von den parteipolitischen Konstellationen in Bund und Ländern.

Nach Meinung der Befürworter der integrierten Gesamtschule förderte die Differenzierung des Unterrichts in Leistungs- und Neigungskurse die individuellen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler besser als es die Differenzierung nach Schultypen und Jahrgangsklassen getan hatte. Damit sollte die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungsbereich eingelöst werden. Politisch unterstützt wurden diese Ziele von der SPD, der FDP und den Gewerkschaften.

Die Gegner der integrierten Gesamtschule sahen in ihr den Versuch, über die Schule und eine staatlich verordnete Einebnung von natürlichen Begabungsunterschieden gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Die integrierte Gesamtschule würde begabte Kinder zu kurz kommen lassen und das Bildungs- und Leistungsniveau allgemein senken. Diese Kritik kam vor allem von seiten der Union, von ihr nahestehenden Elternverbänden, Arbeitgebervereinigungen und von den Standesorganisationen der Gymnasiallehrer.

Gymnasiale Oberstufenreform

Die größte Veränderung im Bereich der höheren Schulen brachte 1972 die von der Kultusministerkonferenz einstimmig beschlossene Oberstufenreform. Sie war ein Versuch, die Konsequenzen aus der Erkenntnis zu ziehen, daß es eine Allgemeinbildung im Sinne des traditionellen Selbstverständnisses des deutschen Gymnasiums nicht mehr gab. In der erziehungswissenschaftlichen Forschung herrschte weitgehend Übereinstimmung darüber, daß die Schule angesichts der Wissensexplosion auf allen Gebieten nicht mehr in der Lage war, einen allseits anerkannten Wissenskanon zu vermitteln. Vielmehr müßte ihr Bildungsziel das exemplarische Lernen, das heißt die Entwicklung von Lernfähigkeit als Voraussetzung für lebenslanges Lernen sein.

Die reformierte Oberstufe mit ihren Grund- und Leistungskursen, den verschiedenen Wahlpflicht- und Wahlfächern sollte es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, sich entsprechend ihren Interessen, Neigungen und Fähigkeiten ein individuelles Bildungsprogramm zusammenzustellen. Das Problematische dieser Reform lag einmal darin, daß auch die reformierte Oberstufe immer noch einseitig auf das Hochschulstudium orientiert war und daß zum anderen ihre Einführung zeitlich mit der verstärkten Anwendung der Zugangsbeschränkungen (Numerus clausus) an den Hochschulen zusammenfiel. Schülerinnen und Schüler orientierten sich daher in zunehmendem Maße daran, in welchem Kurs eine möglichst hohe Punktzahl zu erwarten war, weil der Notendurchschnitt im Abiturzeugnis letztlich für die Zulassung zu bestimmten Studienfächern entscheidend wurde.

Bereits die organisatorische Reform des Schulsystems hatte in der Öffentlichkeit eine breite Diskussion ausgelöst, in der pädagogische und gesellschaftspolitische Argumente ineinandergriffen. Diese Diskussion zog weitere Kreise und entwickelte sich immer mehr zu einer gesellschaftspolitischen Grundsatzdebatte, als die "äußere Schulreform" durch eine "innere" Schulreform, die Neuformulierung der Lerninhalte nämlich, ergänzt und ausgefüllt werden sollte. Beispiele für diese Dimension der Schulreform sind die Auseinandersetzungen um die Einführung der Mengenlehre in der Mathematik oder die Einführung des Faches Gemeinschafts- bzw. Sozialkunde (unter Zurückdrängung des Faches Geschichte) in verschiedenen Bundesländern.

Unter gesellschaftspolitischem Blickwinkel konnte die Schulreform in den siebziger Jahren durchaus Erfolge vorweisen: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die weiterführende Schulen besuchten, wuchs kontinuierlich - mit dem Effekt, daß die Hauptschule zur "Restschule" verkümmerte. Die "Abiturientenquote", die zwischen 1950 und 1960 ziemlich konstant bei fünf Prozent gelegen hatte, schnellte bis 1972 auf 18 Prozent hoch. Die Bildungsausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden stiegen von 27,6 Milliarden DM 1970 auf 56,2 Milliarden DM im Jahre 1975. Mit 15 Prozent durchschnittlicher Steigerung pro Jahr lag ihre Zuwachsrate erheblich über der der gesamten öffentlichen Ausgaben und des Bruttosozialprodukts. Auch inhaltlich wurden in den meisten Bundesländern eine Reihe von Reformen durchgeführt (neue Lehrpläne, neue Inhalte bzw. Schulfächer oder Stundentafeln).

Doch im Mai 1974 stellte die Konferenz der Länderfinanzminister in einem Gutachten fest, daß die im Bildungsgesamtplan 1973 für 1985 gesetzten Ziele im Rahmen der "allgemein für tragbar gehaltenen Steuerlastquote" nicht mehr finanziert werden könnten. Reformvorhaben im Bildungswesen, die Geld kosteten, wurden zurückgestellt oder gestrichen. Der Deutsche Bildungsrat löste sich 1975 auf.

Veränderungen im Hochschulbereich

Im Bereich des Hochschulwesens fand seit 1965 eine ungewöhnliche Vermehrung der Hochschulen, der Professorenstellen und der Studienplätze statt. Die Zahl der Abiturienten und Studienanfänger wuchs seitdem schneller als die entsprechenden Jahrgänge der Bevölkerung. Zwischen 1965 und 1975 nahm die Zahl der 20jährigen leicht ab, doch im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der Studienanfänger. 1965 studierten an den verschiedenen Hochschulen des Bundesgebiets und Berlins 384400 Studentinnen und Studenten, 1970 waren es 510000 und 1975 842200. Gab es 1965 auf 10000 Einwohner 66 Studierende, so waren es 1975 bereits 135, also mehr als doppelt so viele. Zwischen 1969, als der Hochschulbau zur Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern erklärt worden war, und 1973 wurden 80000 neue Studienplätze geschaffen. Diese Kapazitätserweiterung der Hochschulen reichte jedoch auf die Dauer nicht aus. Von Fächern, die traditionell Zulassungsbeschränkungen aufwiesen, wie Medizin und Zahnmedizin, wurde der Numerus clausus zunächst auf alle Natur- und Ingenieurwissenschaften ausgeweitet und erstreckte sich dann auch auf Fächer, die nicht auf Labor- und Praktikantenplätze angewiesen sind, wie zum Beispiel die Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften.

Neben dem Numerus clausus standen die innere Organisation der Hochschulen, also Personalstruktur und Selbstverwaltung sowie der Ablauf des Studiums, die Reform der Studiengänge und Abschlüsse im Mittelpunkt der Konflikte und Konfrontationen, die sich innerhalb und außerhalb der Hochschulen seit 1965 abspielten. Als der SDS 1965 die "Demokratisierung" der Hochschulen forderte, ging es ihm - und bald auch den Assistenten und anderen wissenschaftlichen Mitarbeitern der Hochschulen - um ein größeres Mitspracherecht in der akademischen Selbstverwaltung. Einige Bundesländer (Hamburg, Bremen, Berlin, Hessen, Niedersachsen) versuchten, durch neue Hochschulgesetze die Forderungen der Studentenbewegung und der Assistenten ansatzweise aufzugreifen. Sie erfüllten zwar nicht die studentische Forderung nach "Drittelparität" in den Selbstverwaltungsgremien der Hochschulen (je zu einem Drittel Professoren, ein Drittel akademischer "Mittelbau", Studenten), erweiterten aber die Mitbestimmungsmöglichkeiten des "Mittelbaus" (Assistenten, Dozenten, sonstiges wissenschaftliches Personal) und der Studierenden soweit, daß sie gemeinsam die Professoren überstimmen konnten.

Gegen diese Mitbestimmungsregelungen der "Gruppenuniversität" richtete sich von Anfang an die Opposition vieler Professoren, deren Einfluß in der akademischen Selbstverwaltung gegenüber der alten "Ordinarienuniversität" tatsächlich eingeschränkt worden war. Vom "Bund Freiheit der Wissenschaft", in dem sich die Gegner der "Gruppenuniversität" zusammengeschlossen hatten, aber auch von anderen Hochschullehrern wurde die These vertreten, daß die in den Landeshochschulgesetzen gegebene Möglichkeit, die Hochschullehrer in Fragen der Forschung, der Lehre, der Berufung neuer Professorinnen und Professoren und der akademischen Prüfungen zu überstimmen, verfassungswidrig sei, da sie dem in Artikel 5 des Grundgesetzes verankerten Grundsatz der Freiheit von Forschung und Lehre widerspräche. Eine Verfassungsbeschwerde von 398 niedersächsischen Professoren und Dozenten führte am 29. Mai 1973 zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Gesetzgeber aufforderte, dafür zu sorgen, daß bei Entscheidungen über Lehre, Forschung und Berufungen die Hochschullehrer in den Entscheidungsgremien die Mehrheit hätten. Das Hochschulrahmengesetz vom Januar 1976 schrieb daher eine Zusammensetzung der Selbstverwaltungsorgane der Hochschulen in der Weise vor, daß die Professoren in Fragen der Forschung, Lehre und Berufung über die Mehrheit der Stimmen verfügen müßten, und ging noch über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinaus, indem es bestimmte, daß Beschlüsse zu diesen Punkten nur dann gültig sein sollten, wenn nicht nur die Mehrheit des betreffenden Gremiums, sondern auch die Mehrheit der in ihm vertretenen Professoren ihnen zugestimmt hatte.

Gegen diese Neuregelung der Mitbestimmung in den Hochschulorganen, insbesondere gegen die Vorschrift einer "Mehrheit in der Mehrheit", richteten sich zahlreiche Proteste von Studenten, Assistenten und auch von Professoren, denen diese Regelung einen Rückfall in "ständisches Denken" bedeutete. Die Bestimmungen fanden dennoch Eingang in neue Landeshochschulgesetze, wie sie seit 1976 in vielen Bundesländern erlassen wurden.

Als zentrale Aufgabe der Hochschulreform war nach 1966 von vielen Hochschulangehörigen die Studienreform angesehen worden. Studieninhalte sollten sich an Lernzielen orientieren, Studienziele sollten neu formuliert, Studiengänge "entrümpelt" und neu konzipiert, das Lehrangebot entsprechend umgestaltet und die Studienabschlüsse aus den Studiengängen entwickelt und nicht durch staatliche Vorgaben bestimmt werden. Daß die inhaltliche Studienreform auch nach dem Erlaß neuer Hochschulgesetze kaum von der Stelle kam, lag einmal an den hochgespannten Zielen der Reformer selbst. Denn die innerwissenschaftliche Diskussion über Lernziele, lernzielorientierten Unterricht, Praxisbezug, forschendes und exemplarisches Lernen war keineswegs schon zu Ergebnissen gelangt, die sich kurzfristig in fachbezogene oder fächerübergreifende Reformmaßnahmen umsetzen ließen. Hinzu kamen die Ziel- und Entscheidungskonflikte innerhalb der Hochschulen, insbesondere zwischen Studierenden und dem akademischen Lehrpersonal.

Auf staatlicher Seite machte sich im Lauf der Jahre die Überzeugung breit, daß die Hochschulen zu einer Studienreform ebenso unfähig seien wie zu einer Strukturreform, daß daher auch hier die staatliche Planung eingreifen müsse. Diesbezügliche Regelungen des Hochschulrahmengesetzes und verschiedener Landeshochschulgesetze zielten im Endeffekt darauf ab, die Studierenden möglichst schnell durch die Hochschulen zu schleusen, um den Numerus clausus zu entschärfen und die gesellschaftlichen Kosten der Hochschulausbildung zu senken.