Die Welthandelsorganisation befindet sich in einer akuten Glaubwürdigkeitskrise. Wie und ob sie davon erlöst wird, hängt allein von den 164 Mitgliedstaaten ab, schreibt die Handelsexpertin Claudia Schmucker.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zahlreiche internationale Organisationen zur Regulierung des Weltmarktes. Bei der Bretton Woods-Konferenz 1944 wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. 1947 wurde das GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) in Genf von 23 Staaten unterzeichnet. Das GATT, das hauptsächlich auf die Bemühungen der US-Regierung zurückging, sollte ursprünglich nur handelspolitische Grundsätze für eine geplante International Trade Organization (ITO) festlegen. Die Satzung der ITO wurde jedoch nie vom US-Kongress ratifiziert, da dieser befürchtete, sie werde die nationale Souveränität der USA einschränken. Daraufhin wurden die bereits ausgehandelten Zollzugeständnisse im GATT nur provisorisch festgeschrieben.
Vom GATT zur WTO
Von der Gründung des GATT bis zum Gründungsjahr der Welthandelsorganisation WTO 1995 gab es acht GATT-Liberalisierungsrunden, in denen Zölle und andere Handelshemmnisse abgebaut und Regeln für die verschiedenen Bereiche des Welthandels aufgestellt wurden.
Bei den ersten Runden wurden die Zölle, die im Schnitt rund 22 Prozent betrugen, enorm gesenkt, beispielsweise bei der Genf-Runde 1947 um mehr als ein Viertel. Bis zur Kennedy-Runde (1964) betrugen die Zölle nur noch durchschnittlich 14 Prozent. Auch die Kennedy-Runde (1964-67) verlief sehr erfolgreich: Es kam nicht nur zu durchschnittlichen Zollsenkungen von erneut 36 Prozent. Die Durchschnittszölle lagen danach bei 9,5 Prozent. Erstmals wurde auch über die Öffnung der Agrarmärkte verhandelt – und die Zölle in diesem Bereich um 20 Prozent gesenkt. Und ebenfalls zum ersten Mal wurde hier auch die Vorzugsbehandlung von Entwicklungsländern thematisiert. Die darauffolgende Tokio-Runde (1973-79) brachte die Senkung der durchschnittlichen Zollbelastung um weitere 30 Prozent. Die durchschnittliche Zollbelastung von Industriegütern betrug daraufhin nur noch 4,7 Prozent. Dazu ging es erstmals auch um so genannte nichttarifäre Handelshemmnisse wie gesetzliche Standards, Quoten oder Ausschreibungsbeschränkungen.
Die achte und bislang wichtigste GATT-Runde war die Uruguay-Runde (1986-1994), in deren Rahmen die WTO ins Leben gerufen wurde. Zu deren wichtigsten Ergebnissen zählten die Ausweitung der Geltungsbereiche auf Landwirtschaft, Dienstleistungen und den Schutz geistigen Eigentums.
Am 15. April 1994 unterzeichneten 124 Mitgliedsstaaten in Marrakesch das Abkommen zur Gründung der World Trade Organization. Die Organisation wurde vollwertiger Partner der beiden Bretton-Woods-Organisationen IWF und Weltbank. Heute hat die WTO 164 Mitgliedsstaaten, die rund 98 Prozent des globalen Warenhandels abdecken. Sie ist das institutionelle Dach für alle Abkommen des Warenhandels (GATT), der Dienstleistungen (GATS) und des Schutzes geistigen Eigentums (TRIPS).
Die WTO mit Sitz in Genf hat etwa 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Jeder Mitgliedstaat muss Beiträge an die WTO zahlen, die den Anteil des Landes am Welthandel berücksichtigt. 2017 belief sich das Budget auf umgerechnet knapp 170 Millionen Euro. Für dieses bescheidene Budget hat sie sehr weitreichende Kompetenzen: Die WTO legt als einzige internationale Organisation die Regeln im Welthandel fest. Ihr Ziel ist es, den internationalen Handel zu fördern und dadurch weltweit den Lebensstandard zu erhöhen. Durch die wirtschaftliche Verflechtung soll die Kooperation zwischen den Staaten vertieft werden. Ohne die bisherigen GATT-Verhandlungsrunden hätte es keinen multilateralen, also von vielen Ländern unterstützten und anerkannten Abbau von Zöllen und anderen Handelshemmnissen gegeben.
Was kann die WTO?
Im Zentrum der Welthandelsorganisation stehen drei Grundprinzipien, die einen offenen und nichtdiskriminierenden Welthandel garantieren sollen. Alle WTO-Mitglieder haben sich auf das Prinzip der Meistbegünstigung geeinigt: Es sieht vor, dass alle Handelsvorteile, die sie einem WTO-Mitgliedstaat zur Verfügung stellen, auch allen anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen müssen. Das zweite Prinzip der Inländerbehandlung sieht vor, dass ausländische Waren und sowie deren Anbieter nicht schlechter behandelt werden dürfen als inländische. Zuletzt gilt das Prinzip der Transparenz, bei dem sich alle Mitglieder verpflichten, die Regelungen des Außenhandels zu veröffentlichen.
Die WTO wird häufig mit der seit 2001 andauernden und ergebnislosen Doha-Entwicklungsrunde gleichgesetzt - und somit als wirkungslos eingestuft. Aber die WTO ist nicht tot: Die Liberalisierungsrunden sind ja nur ein Pfeiler der Organisation. Die beiden anderen Pfeiler sind bis heute von großer Bedeutung für einen reibungslosen Welthandel: Das Streitschlichtungsverfahren sowie die Überprüfung der Handelspolitik der Mitgliedstaaten.
Multilaterale Handelsverhandlungen
Die Liberalisierungsrunden der WTO sind ein wichtiger Pfeiler der Organisation. Ziel der vorerst letzten Doha-Runde ist es, den Handel weiter zu liberalisieren, neue Regeln zu erstellen und die Entwicklungsländer stärker in den Welthandel zu integrieren.
Hier wird seit mittlerweile 17 Jahren über einen verbesserten Marktzugang für Landwirtschaftsprodukte, Industriegüter (Non-Agricultural Market Access, NAMA) und Dienstleistungen sowie über eine Stärkung der multilateralen Regeln verhandelt. Aufgrund der Vielzahl der verhandelnden Akteure und Interessen, dem Einstimmigkeitsprinzip, der unterschiedlichen Auffassung über die Entwicklungsziele sowie Auseinandersetzungen über die Reihenfolge der Konzessionsbereiche (Agrarhandel, NAMA und Dienstleistungen) gibt es bis heute keinen wesentlichen Fortschritt. Bereits im Dezember 2015 sprachen sich mehrere Staaten für ein Ende der Verhandlungen aus. Offiziell wird jedoch weiter verhandelt, etwa auf der vorerst letzten (elften) Ministerkonferenz im Dezember 2017 in Buenos Aires, bei der es aber erneut keine Ergebnisse gab.
Streitschlichtungsverfahren
Die WTO verfügt mit dem "Dispute Settlement Body" (DSB) als einzige internationale Organisation über einen effizienten internen Durchsetzungsmechanismus. Der Streitschlichtungsmechanismus des GATT hatte große Schwierigkeiten mit der Lösung von Handelskonflikten. Sämtliche Entscheidungen mussten einstimmig getroffen werden, so dass der "angeklagte" Staat praktisch ein Vetorecht besaß. Zusätzlich gab es keinen konkreten Zeitplan zur Durchsetzung von Entscheidungen.
In der WTO wurden diese Schwachstellen durch einen neu geschaffenen Rechtsrahmen, den DSB, beseitigt. Dieser sieht weiterhin eine Konsultationsphase vor, allerdings beginnt das von einer aus drei bis fünf unabhängigen Experten bestehenden Jury geleitete sogenannte Panel- oder Streitschlichtungsverfahren automatisch, wenn der Konflikt nach 60 Tagen nicht im beiderseitigen Einvernehmen gelöst werden konnte. Zusätzlich ist es nun möglich, Berufung einzulegen. Die wichtigste Neuerung ist jedoch die automatische Annahme der Panelberichte. Sie können nur noch einstimmig abgelehnt werden. Gleichzeitig wurde die Höchstdauer des Schlichtungsverfahrens auf 18 Monate festgelegt. All diese Regeln sollen Blockaden verhindern. Der DSB ist heute grundsätzlich das wichtigste WTO-Organ, auch wenn er vor allem von der jetzigen US Regierung stark kritisiert wird. Die USA kritisieren, dass die Richter über ihre Amtsperiode hinaus Fälle entscheiden und dass das Gericht seine Kompetenzen überschreitet und neues Recht setzt.
Handelspolitische Überprüfung
Die WTO überprüft zudem regelmäßig die nationalen Handelspolitiken der Mitgliedstaaten. Dieser "Trade Policy Review Mechanism" dient einerseits dazu, die Handelspolitik der Mitgliedstaaten für alle transparent zu machen - und somit den Handel zu erleichtern. Zum anderen soll hierdurch die Einhaltung der multilateralen Regeln und Verpflichtungen überprüft werden. Die Häufigkeit der Überprüfungen richtet sich nach dem Anteil des WTO-Mitglieds am Welthandel. So werden die USA, die EU, Japan und Kanada alle zwei Jahre überprüft, andere WTO-Mitglieder nur alle vier oder sechs Jahre. Aufgrund der fast weltweit gültigen WTO-Prinzipien und den wichtigen Aufgaben der WTO ist die Organisation für handelstreibende Nationen deshalb nach wie vor unverzichtbar: "Zum Glück haben wir die WTO-Regeln, ihre Strukturen der Zusammenarbeit und ihr wertvolles Streitschlichtungssystem. Das sind globale öffentliche Dienstleistungen mit enormen Wert für die EU", sagte etwa EU-Handelskommissarin Malmström 2017 in Buenos Aires.
Was kann die WTO heute nicht mehr?
Der beste Weg, um den Welthandel zu fördern, wäre ein erfolgreicher Abschluss der Doha-Entwicklungsrunde. Doch außer wiederholter Bekundungen auf den G20-Gipfeln, wie wichtig die Verhandlungen sind, ist wenig passiert. Das liegt vor allem daran, dass der Kreis der sich aktiv an den Verhandlungen beteiligenden Akteure mit dem wirtschaftlichen Aufholprozess vieler Schwellenländer ebenso größer geworden ist wie auch die Zahl der möglichen Vetogruppen. Bis zur Uruguay-Runde reichte teilweise eine Einigung zwischen der EU und den USA (Blair House Abkommen), um zu einem Ergebnis zu kommen.
Überdies fehlt es an politischer Führung. Vor allem die USA haben sich in den vergangenen Jahren immer stärker von den Verhandlungen abgewandt. Das zeigt sich auch an anderer Stelle: der Haltung der US-Regierung gegenüber dem Berufungsgericht der WTO. Die USA weigern sich, der Ernennung neuer Richter für den "Appellate Body" zuzustimmen. Wenn sich diese Blockadehaltung nicht ändert, wird das Gremium im Dezember 2019 handlungsunfähig sein. Die zunehmend protektionistische Handelspolitik von US-Präsident Donald Trump zeigt, dass auch die Innenpolitik den Spielraum der WTO einengen kann. Anders als bei früheren Handelsrunden ist es vielen WTO-Mitgliedern zudem in der Doha-Runde bislang nicht gelungen, genügend liberalisierungsfreudige Exportinteressen zu mobilisieren. Dieser Stillstand in den Verhandlungen hat gravierende Folgen für die Glaubwürdigkeit der Organisation.
Veraltete Regeln für den Welthandel
Neben diesen externen Gründen für die Krise der WTO gibt es auch interne. Ein gewichtiger: Ihr Regelwerk ist immer noch auf dem Stand von 1995, als die Organisation gegründet wurde. Einzige Ausnahme ist das Abkommen über Handelserleichterungen, das 2017 in Kraft trat. Insgesamt haben die WTO-Regeln aber nicht mit den Entwicklungen im Welthandel Schritt gehalten.
Ein Beispiel: Im 21. Jahrhundert geht es weniger um den Austausch von fertigen Produkten, sondern um globale und regionale Lieferketten. Dies erfordert viele neue Handelsthemen und -regeln, beispielsweise zu Investitionen, dem Schutz geistigen Eigentums oder zur Wettbewerbspolitik. Gleichzeitig wird es immer wichtiger, auf die besondere Rolle von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) einzugehen und ihre Rolle in den Wertschöpfungsketten zu stärken. Auch der elektronische Handel (E-Commerce) oder der Handel mit Energie und Rohstoffen gewinnt an Bedeutung. Immer häufiger werden auch Nachhaltigkeitsthemen wie Arbeits- und Umweltstandards als wesentlich für internationale Handelsbeziehungen gesehen. All dies decken die WTO-Regeln nicht ab.
In der Folge haben sich viele Länder und Regionen bilateralen ab- und regionalen Handelsabkommen zugewandt. Dies hat zu einer Zersplitterung der Handelsregeln geführt. Ziel müsste es heute sein, die Regeln der WTO schon im Rahmen der Doha-Runde zu aktualisieren. Es gibt jedoch deutliche Differenzen über den Fortgang der Verhandlungen: Indien, Südafrika, China und viele Entwicklungsländer sind der Ansicht, dass die Doha-Verhandlungen zunächst erfolgreich beendet werden müssen, bevor neue Themen auf die Agenda kommen. Die EU, die USA und andere Staaten sind jedoch vor allem an den neuen Regelungsbereichen interessiert und treiben diese Themen daher mit anderen interessierten Mitgliedstaaten durch plurilaterale Initiativen voran.
Die veralteten Regeln führen dazu, dass die Welthandelsorganisation in den Bereichen, in denen ihr Regelwerk schwach ist, kaum protektionistischen Tendenzen entgegenwirken kann. So hat US-Präsident Trump recht mit seiner Kritik, dass der WTO-Streitschlichtungsmechanismus die handelsverzerrenden Praktiken von Ländern wie China nicht eindämmen kann. Also gewährt Peking weiter staatliche Subventionen, tut wenig gegen die Verletzung geistigen Eigentums und fördert weiter erzwungene Technologietransfers. Trumps Reaktion, unilateral Strafzölle zu erheben, ist allerdings die falsche Antwort. Damit schadet er der Glaubwürdigkeit der WTO als Hüterin des regelbasierten Welthandels.
Welche Rolle kann die WTO künftig im globalen Handel spielen?
Infolge der stockenden multilateralen Verhandlungen ist die Zahl der bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen geradezu explodiert. Das gilt vor allem für die EU, die nach dem erfolgreichen Abschluss des Abkommens mit Kanada (CETA) im Dezember 2017 ein weiteres Abkommen mit Japan geschlossen hat. Daneben verhandelt sie unter anderem mit dem südamerikanischen Handelsbündnis Mercosur, einzelnen Staaten des asiatischen Pendants ASEAN und mit Mexiko, Australien sowie Neuseeland. Auch in Asien entstehen zahlreiche neue Abkommen, das größte, die TPP11, wurde im März 2018 unterzeichnet.
In den USA führt das veraltete Regelwerk der WTO hingegen dazu, dass zwar bestehende Abkommen wie NAFTA neu verhandelt, aber verstärkt nationale Handelsgesetze eingesetzt werden, um unilateral gegen reale und wahrgenommene Handelsbarrieren vorzugehen. Einschränkend muss man jedoch erwähnen, dass das Misstrauen und die Ablehnung der USA gegenüber der WTO nicht nur mit dem veralteten Regelwerk zu tun hat, sondern auch in der grundsätzlichen Überzeugung begründet liegt, dass bilaterale "Deals" gewinnbringender für die USA sind als multilaterale Übereinkünfte. So twitterte Trump im April 2018: "Bilateral deals are far more efficient, profitable and better for OUR workers. Look how bad WTO is to U.S."
Diese Abkehr von der WTO dürfte sich weiter fortsetzen. Die Bedeutung Ihrer Regeln für den Welthandel nimmt weiter ab, da die neuen Handelsthemen zunehmend bilateral und regional geregelt werden. Der Trend zum Bilateralismus könnte schon bald negative Konsequenzen für den Welthandel haben. Dazu zählen die hohen Transaktionskosten, die durch eine Vielzahl unterschiedlicher Regeln (vor allem Ursprungsregeln) entstehen, die nicht miteinander kompatibel sind. Gleichzeitig können bestimmte Themen und Regeln, die auch für die EU oder die USA von großer Bedeutung sind (zum Beispiel der Umgang mit Subventionen), nur multilateral gelöst werden. Es gibt bislang keine bilateralen Abkommen mit den großen Schwellenländern (China, Brasilien, Indien oder Russland), so dass jeglicher Fortschritt in diesen Feldern nur im Rahmen der WTO erfolgen kann. Auch das unilaterale Vorgehen der USA führt bislang vor allem zu wohlfahrtsschädigenden Handelskonflikten.
Die WTO verliert während dieses anhaltenden Trends zum Bilateralismus an Bedeutung. Erst wenn die negativen Transaktionskosten und der Bedarf an multilateralen Regeln durch Verzerrungen im Handel wieder dramatisch zunehmen, dürfte auch die WTO wieder an Bedeutung gewinnen. Möglicherweise ist hierfür ein gravierender externer Auslöser wie eine Wirtschaftskrise oder ein drastischer Einbruch des Welthandels nötig. So wurde auch dem IWF lange ein schleichender Bedeutungsverlust nachgesagt – erst im Rahmen der globalen Finanzkrise bekam der Fonds wieder eine zentrale Rolle zugewiesen. Die WTO ist nicht tot. Wenn es sie nicht gäbe, müsste sie erfunden werden. Allerdings befindet sie sich in einer Glaubwürdigkeitskrise, von der sie hoffentlich bald wieder erlöst wird. Das hängt jedoch allein vom politischen Willen der Mitgliedstaaten ab.
Dr. Claudia Schmucker leitet das Programm für Globalisierung und Weltwirtschaft der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sie studierte in Bonn, Berlin und an der Yale University und forscht und publiziert zu europäischer und amerikanischer Handelspolitik, internationalen Handelsbeziehungen sowie zur Rolle von informellen Foren wie G7 und G20.
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