Freihandel ist eine Idee, die die Europäer bereits seit mehr als 250 Jahren beschäftigt. Ursprünglich wurde diese Theorie entwickelt, um den sogenannten "Merkantilismus" zu bekämpfen, den die damals führenden Ökonomen als eine Gängelung durch den Staat betrachteten. Ohne diese Vorgeschichte lässt sich die Idee des Freihandels nicht verstehen, weswegen zunächst ein kurzer historischer Exkurs nötig ist.
Europa ist ein besonderer Kontinent, obwohl es vielen Europäerinnen und Europäern gar nicht auffällt. Nirgendwo sonst auf der Welt ballen sich so viele Staaten auf so engem Raum, was wiederum permanente Auseinandersetzungen auslöste. Seit dem Zerfall des römischen Reiches hat es in Europa fast ununterbrochen Krieg gegeben – und es überlebten nur jene Fürsten, die Söldnerheere finanzieren konnten. Also benötigten die Kriegsherren Silber und Gold, um ihre Soldaten zu entlohnen.
Schon früh befassten sich die Fürsten daher mit der Frage, wie sich die Edelmetalle in ihren Schatzkammern vermehren ließen. Dabei stießen sie auf eine Idee, die sich im modernen Ökonomendeutsch "Leistungsbilanzüberschuss" nennt. Man musste mehr exportieren als importieren, um Gold und Silber ins Land zu spülen.
Die Fürsten machten sich also daran, heimische Firmen und Monopolbetriebe zu fördern, damit diese dann Exportprodukte herstellten. Umgekehrt wurden Importe verboten oder mit hohen Zöllen belegt. Diese Strategie nannte sich "Merkantilismus".
König Edward III. trug nur englische Wollstoffe
Der erste Merkantilist war vermutlich der englische König Edward III., der von 1327 bis 1377 regierte. Er trug nur noch englische Wollstoffe, um auch seine Untertanen zu animieren, heimische Produkte zu kaufen – und nicht etwa flämische Tuche, die damals europaweit in Mode waren. Gleichzeitig holte Edward flämische Weber ins Land, damit sie die englischen Fabrikanten in die neuesten Techniken einwiesen. Das Prinzip Plagiat war also auch schon im Mittelalter bekannt.
So logisch es für den einzelnen Fürsten war, seine Exportindustrie zu fördern – der Merkantilismus hatte dennoch zwei entscheidende Nachteile, die bereits den Zeitgenossen auffielen. Erstens: Es ist unmöglich, dass alle Staaten nur exportieren wollen und niemand importiert. Dann bricht der Handel zusammen.
Zweitens: Der Merkantilismus nutzte zwar den Fürsten – nicht aber den Konsumenten. Die Bürger fanden die hohen Importzölle lästig, die eine Art Sondersteuer des Königs waren. Zudem nutzten es viele Fabrikanten aus, dass sie gegen die ausländische Konkurrenz geschützt waren. Sie verlangten hohe Preise für minderwertige Waren, kassierten also eine Art Monopolgewinn.
Vor allem gegen diese praktischen Missstände wandten sich die beiden britischen Ökonomen Adam Smith (1723 – 1790) und David Ricardo (1772 – 1823), die nicht nur die Gründungsväter der modernen Volkswirtschaftslehre sind, sondern auch die berühmtesten Verfechter des Freihandels.
Im Rückblick fällt auf, dass die beiden Ökonomen ihre Kritik am Merkantilismus gern mit einem bestimmten Beispiel illustrierten: mit dem Ärgernis, dass französischer Wein extrem teuer war, weil er mit hohen Importzöllen belegt wurde. Es ist nicht völlig übertrieben zu behaupten, dass über den Freihandel auch deswegen so intensiv nachgedacht wurde, weil zwei Ökonomen endlich besseren Alkohol zu niedrigeren Preisen trinken wollten.
Auch vor moralisch-medizinischen Argumenten schreckte Smith nicht zurück.
In seinem berühmten Buch Wohlstand der Nationen von 1776 merkte Smith süffisant an: "Mittels Glasscheiben, Mistbeeten und Schutzwänden können sehr gute Trauben auch in Schottland angebaut werden", aber leider sei dieser Tropfen dann etwa 30 Mal so teuer wie ausländischer Wein. Auch vor moralisch-medizinischen Argumenten schreckte Smith nicht zurück, um den freien Weinimport zu fordern: "Billiger Wein scheint nicht der Grund von Trunkenheit, sondern von Nüchternheit zu sein. Die Einwohner von Weinländern sind im Allgemeinen die nüchternsten Völker in Europa."
Für Smith war der Freihandel eine Variante der Arbeitsteilung. Jedes Land sollte sich auf jene Produkte spezialisieren, die es am besten und billigsten herstellen konnte. Allerdings tauchte bald ein empirisches Problem auf: Es ist ja einleuchtend, dass Frankreich leichter Wein herstellen kann als England – schlicht aus klimatischen Gründen. Aber wie lässt sich erklären, dass Industrieländer dazu neigen, Waren auszutauschen, die beide Regionen herstellen? Welchen Sinn hat es beispielsweise, um ein heutiges Beispiel herauszugreifen, dass die USA chemische Produkte nach Europa liefern – und die Europäer chemische Produkte in die USA?
Mit dieser Frage beschäftigte sich erstmals David Ricardo. 1821 publizierte er seine Theorie der "komparativen Kostenvorteile", die bis heute in keinem Wirtschaftslehrbuch fehlt. Auch Ricardo wählte ein alkoholisches Beispiel, um seine Theorie zu erläutern. Es sei einmal angenommen, dass Portugal und England beide sowohl Portwein wie auch Textilien herstellen können. Darüber hinaus sei vorausgesetzt, dass England Portwein und Textilien billiger produzieren kann als Portugal. Außerdem soll für England gelten, dass die Produktivität seiner Tuchherstellung höher ist als die Effizienz seiner Weinerzeugung. In diesem Fall wäre es für England vorteilhaft, nur Textilien herzustellen und den Portugiesen die Portwein-Produktion zu überlassen, obwohl die Engländer den Portwein eigentlich billiger herstellen könnten als die Portugiesen. Denn der maximale Profit entsteht, wenn man sich auf jene Geschäftszweige konzentriert, wo die eigene Produktivität am allerhöchsten ist.
David Ricardo (1772-1823) (© Public Domain)
David Ricardo (1772-1823) (© Public Domain)
Freihandel als Win-Win-Situation für alle beteiligten Länder
Ricardos Theorie der komparativen Kostenvorteile ist charmant, weil sie mathematisch absolut sauber ist. Es galt also als bewiesen, dass der Freihandel eine Win-Win-Situation für alle beteiligten Länder darstellt. Doch trotz dieser höheren Weihen durch die Mathematik schien die Theorie nicht korrekt zu sein: Schon Ricardos Zeitgenossen fiel auf, dass England immer reicher wurde – während die portugiesische Wirtschaft stagnierte.
Wie der britische Ökonom John Maynard Keynes (1883 – 1946) später herausarbeitete, gilt Ricardos Theorie nur, wenn in allen Ländern Vollbeschäftigung herrscht.
Allerdings blieb der Freihandel lange Zeit sowieso nur blanke Theorie. In der Praxis setzten die Europäer und die Amerikaner im 19. Jahrhundert auf den Protektionismus, um sich zu industrialisieren. Besonders hoch waren die Zölle in den USA, die im Durchschnitt zwischen 35 und 50 Prozent verlangten – und zwar von 1820 bis zum Zweiten Weltkrieg. Erst ab 1948 sanken die amerikanischen Zölle kontinuierlich.
Die USA bauten ihre Zölle erst ab, als sie unangefochten die globale ökonomische Supermacht waren. Dieses Muster lässt sich übrigens bei allen Industrieländern beobachten: Sie führten den Freihandel erst ein, als die eigenen Produzenten zu den Weltmarktführern gehörten und die Konkurrenz nicht mehr fürchten mussten.